Wie uns das 19. Jahrhundert den Fortschritt beschert.

 

 

 

von Alexander Maser

Das „lange“ 19. Jahrhundert(etwa 1789 bis 1914/18) hat Europa und die Welt in vielerlei Hinsicht auf den Kopf gestellt.

Wissenschaftliche, gesellschaftliche, politische, soziale, technische, wirtschaftliche, ideologische und viele andere Neuerungen veränderten das Leben der Menschen in Europa teilweise radikal. Natürlich hatten sich viele solcher Prozesse bereits in den Jahrhunderten zuvor angebahnt. Doch das „lange“ 19. Jahrhundert war in vielen Belangen die Epoche, die unserem heutigen Leben und einigen seiner Selbstverständlichkeiten den Weg ebnete. Und dreien ebendieser Selbstverständlichkeiten soll in dieser kleinen Reihe exemplarisch auf den Grund gegangen werden.

Nach der Apokalypse ist vor der Apokalypse

Ob man die mediale Berichterstattung im Jahr 2012 verfolgte oder nicht, an diesem Thema kam man nicht vorbei, weil es uns alle betraf: Der Weltuntergang – vor langer Zeit von den Maya prophezeit und schier unaufhaltsam!

„Die Apokalypse ist
schriftgewordene Extase.“

– Honoré de Balzac
Aus: de Balzac, Louis Lambert 1832 (1889), S. 75.

Auch wenn bereits frühzeitig darüber aufgeklärt wurde 1, dass am 21. Dezember 2012 lediglich ein Zyklus im Kalender der Maya, nicht aber die ganze Welt enden würde, erfreute sich der Weltuntergang größter Beliebtheit. Natürlich glaubten nur die Wenigsten wirklich daran, dass der Weltuntergang unmittelbar bevorstünde – solch ein Aberglaube taugte höchstens als Stoff für Endzeit-Kinofilme. Einer der wohl grundlegendsten Unterschiede, der viele Menschen der Gegenwart von denen des europäischen Mittelalters differenziert, ist der Umstand, dass wir optimistische Zukunftsgläubige sind. Im hochmittelalterlichen Westeuropa hätten apokalyptische Vorhersagen wohl wenig Aufsehen erregt, stand doch das „Jüngste Gericht“ stets bevor. Doch selbst den apokalyptischen Szenarien des Klimawandels entgegensehend, leben wir heute noch immer ansatzweise in dem Glauben, sogar dieses womöglich unumkehrbare und nur ansatzweise abzuschwächende Unheil abwenden zu können. Kurzum: Wir glauben im Zweifelsfall, dass alles irgendwie besser wird. Wir glauben an Fortschritt!

Doch wann haben wir damit angefangen? Woher kommt dieser Zukunftsoptimismus? Und warum ist das Fortschrittsdenken eine der grundlegendsten Neuerungen in der europäischen Ideengeschichte?

Was ist eigentlich dieser „Fortschritt“? Und wo kommt er her?

Um diese Fragen zumindest ansatzweise beantworten zu können, wäre es ratsam, den Begriff „Fortschritt“ etwas genauer zu umreißen. Der Duden spricht von einer „positiv bewerteten Weiterentwicklung“ oder der „Erreichung einer höheren Stufe der Entwicklung“ 2. Diesen beiden Bedeutungen des Fortschrittsbegriffs wohnt bereits eine Grundannahme inne, die wir heutigen Europäern so verinnerlicht haben, dass wir sie nicht einmal hinterfragen: Geschichte ist demnach ein fortschreitender Prozess.

Vor allem monotheistische Religionen neigen zu einem solchen linearen Zeit- und Geschichtsbild. Der frühchristlichen Lehre zufolge begann alles mit der Schöpfung und endete mit der Apokalypse. Diese Annahme war bis in die Frühe Neuzeit hinein im christlichen Europa weit verbreitet. Auch wenn das Ende der Geschichte hier bereits vorweggenommen wurde, handelte es sich um einen linearen Prozess 3. Doch würde man dieses Ende – aus welchem Grund auch immer – einfach verwerfen, wäre dann nicht alles möglich?

Sowohl „Fortschritt“ als auch „Entwicklung“ sind Vorstellungen, denen im 18. Jahrhundert im Kontext der Aufklärung eine zentrale Bedeutung zukam. Bekanntermaßen vollzog sich unter einigen Gelehrten (wie z. B. Jean-Jacques Rousseau oder David Hume) jener Zeit ein Perspektivwechsel. Während bislang Gott als Denker und Lenker allen Seins im Fokus des Geschehens stand, wurde zunehmend dessen Krone der Schöpfung in den Mittelpunkt gerückt: der Mensch 4. In ohnmächtiger Erwartung eines Erlösers war man stets davon ausgegangen, dass man „gegen die grundsätzlichen Probleme des Lebens […] mit menschlichem Wissen nichts ausrichten“ konnte 5.

„Sowohl der Begriff des Fortschritts als auch jener der Entwicklung sind von enormer historischer Tragweite und Wirksamkeit. Beides sind Leitvorstellungen des aufgeklärten europäischen Denkens des 18. Jahrhunderts gewesen, und beide Begriffe fanden im 19. und im 20. Jahrhundert den Weg von der Gelehrtenstube in die globale politische und ökonomische Kommunikation.“

– Daniel Speich Chassé,
Aus: Speich-Chassé, Fortschritt 2012.

Doch nun hatte der Mensch sein Schicksal zumindest ein stückweit selbst in der Hand. Wie Immanuel Kant 1784 in seinem vielzitierten Text über die „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ schrieb: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ 6 Von dieser grundlegenden Abkehr bisheriger (und vor allem religiöser) Weltanschauungen war es – überspitzt gesagt – nur noch ein Katzensprung dahin, auch den Verfall und das Ende der Welt in Frage zu stellen. Dem Menschen als Protagonisten einer Geschichte ohne Drehbuch und mit offenem Ende war nun im Grunde keine Grenze mehr gesetzt. Warum sollte sich also weiterhin alles zum Schlechten wenden? Dem Fortschritt war zumindest ideell Tür und Tor geöffnet.

Mit dem Konzept des „Fortschritts“ schuf man im 18. Jahrhundert einen geeigneten Begriff dafür, was im Laufe des 19. Jahrhunderts in Teilen Europas und Nordamerikas allgegenwärtig wurde. Während sich das Fortschrittsdenken vorher eher in philosophischen Kreisen verbreitet hatte, hielt es im Laufe des 19. Jahrhunderts Einzug viele Bereiche des „westlichen“ Alltagslebens 7. Vier dieser Bereiche sollen hier einmal genauer unter die Lupe genommen werden.

Gut zu wissen: Inwiefern die Zeitgenossen bereits von „dem Fortschritt“ als allgemein gefasstes Phänomen im Kollektivsingular sprachen, wie es Reinhart Koselleck konstatierte, ist allerdings fraglich. Womöglich sprach man seinerzeit eher im Plural von den diversen „Fortschritten“, wie Johannes Rohbeck attestiert (Rohbeck, Koselleck 2019, S. 86-92.). In der Rückschau lassen sich diese weit verzweigten Strömungen und Neuerungen natürlich leicht als „der Fortschritt“ wahrnehmen und bezeichnen.

Der Fortschritt aus geistesgeschichtlicher Perspektive

Der Fortschrittsgedanke der Aufklärung war äußerst anschlussfähig. Im 19. Jahrhundert war er Grundlage für viele Theorien, die sich zumeist nicht nur auf Europa beschränkten, sondern „weltweite und menschheitliche Gültigkeit“ beanspruchten 8. Die Prozesshaftigkeit der Dinge fand Eingang in diverse Gesellschaftsideen, wie sie beispielsweise die Kommunisten um Karl Marx in Form einer „Abfolge von Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalgesellschaft und bürgerlicher bzw. kapitalistischer Gesellschaft“ vertraten 9. Dieses Fortschrittsdenken fand 1859 seinen vorläufigen Höhepunkt, als Charles Darwin in seinem Werk „On the Origin of Species (dt. „Über die Entstehung der Arten“) die Evolutionstheorie aufstellte 10.

Dass diese Erkenntnisse einen Bruch mit vielen religiösen Weltanschauungen darstellten, wird noch heute vielfach als einer der größten Fortschritte in der Menschheitsgeschichte empfunden. Dies hängt aber vor allem auch mit der Popularisierung der Wissenschaften im Laufe des 19. Jahrhunderts zusammen, die nun zunehmend „eine umfassende Welterklärung [lieferten], die den Lehren der christlichen Kirchen in vielen Punkten widersprach“ und somit „erstmals wissenschaftlich fundierte Alternativen zum Christentum“ etablierten 11. Wissen und Wissenschaft wurden zu jener Zeit immer zentraler, konnten sie doch nicht nur religiöse Weltanschauungen in Frage stellen (– was mitnichten durchweg populär war!), sondern vor allem tiefgreifende Probleme lösen: „Armut, Krankheit, Krieg, Hunger, Alter und Tod waren kein Schicksal, sondern nur das Produkt der Unwissenheit.“ 12

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Der Fortschritt im wissenschaftlichen und technologischen Bereich

Begriffe wie „Fortschritt“, „Wissenschaft“ und „Technologie“ fallen heutzutage oftmals in einem Atemzug. Das war nicht immer so! Schulen und Universitäten waren über Jahrhunderte weniger damit befasst, neue und zukunftsgerichtete Erkenntnisse zu gewinnen als vielmehr „althergebrachtes Wissen weiterzugeben und die bestehende Gesellschaftsordnung zu bestätigen“ 13. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts näherten sich Wissenschaft und Technologie einander immer mehr an.14Wissen wurde zu Beginn des „langen“ 19. Jahrhunderts zunehmend zu einer zweckmäßigen Ressource, „die der Lösung von Problemen und der Bewältigung von Lebenssituationen in der realen Welt dienen“ 15 sollte. Besonders der technologische Bereich konnte sich dahingehend bis heute als ein Sinnbild des Fortschritts hervortun. 16

Dieser Sektor erfuhr im Laufe des 19. Jahrhunderts seine ganz eigene Professionalisierung: Wurden technische Fortschritte vorher eher durch „ungebildete“ Handwerker oder Laien erzielt,17rückten solche Bemühungen vermehrt in den Fokus anwendungsorientierter Wissenschaften in Forschungsuniversitäten oder Labors.18 Die Medizin, die sich „in der zweiten Hälfte […] von Handwerk und Kunstlehre“ hin zur Wissenschaft entwickelte, ist dafür ein Paradebeispiel.19 Unser heutiges Verständnis von Wissenschaft und auch die Fächersystematiken an Universitäten sind in vielen Fällen auf die Epoche des „langen“ 19. Jahrhunderts zurückzuführen.20

Der Fortschritt von Wirtschaft und Handel

Die Zeit von etwa 1500 bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert wird gerne als „Zeitalter der Protoindustrialisierung“ bezeichnet.21 Diverse Gewerbezweige, primär in Großbritannien aber auch in Frankreich und den deutschen Territorien, erlebten durch technische Neuerungen einen Aufschwung. Arbeiten, die von jeher per Hand und Werkzeug durchgeführt wurden, konnten zunehmend mit maschineller Hilfe erledigt werden.22 Zuerst geschah dies im größeren Stil in der britischen Textilindustrie, die durch die Erfindung der Spinnmaschine mit Wasserradantrieb ab 1771 einen enormen Schub erhielt.23 Diverse andere Sektoren folgten diesem Vorbild und machten das „lange“ 19. Jahrhundert, maßgeblich angetrieben durch die Erfindung der Dampfmaschine, zu einem industriellen Zeitalter.

Doch nicht nur die Produktion wurde vom Fortschritt ergriffen, auch der Handel musste mit der Zeit gehen. Die Wirtschafts- und Zollsysteme Europas waren noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein stark beschränkt. Einfuhrzölle, Zollbarrieren und Gewerbebeschränkungen gehörten vielerorts über Jahrhunderte hinweg zur Normalität und wurden nun vielfach aufgehoben. Beim Thema „Freihandel“ tat sich Großbritannien wiederum besonders hervor: Dieser wurde hier bereits Ende der 1840er Jahre beschlossen, was in Europa zu einer Kettenreaktion und einem weitreichenden Abbau zwischenstaatlicher Zölle bis Mitte der 1860er Jahre führte. Diese Bestrebungen gingen andernorts sogar so weit, dass Großbritannien unwillige Länder militärisch „zu ihrem eigenen Glück“ – zum Freihandel – zwang.24

Der Fortschritt im politischen und gesellschaftlichen Bereich

Auch Politik und Gesellschaft blieben vom Fortschritt nicht unberührt. Sicherlich trug die Französische Revolution wie kaum ein anderes Ereignis dazu bei, dass sich die politische Landschaft in Teilen Europas – natürlich erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand – nachhaltig verändern konnte. Doch die spürbaren Veränderungen für die einfache Bevölkerung waren anderer Natur: Die Verbesserung der öffentlichen Hygiene (wie Kanalisation und Frischwasserversorgung), die Fortschritte der Medizin und der Seuchenbekämpfung, aber auch die Aufhebung alter Ehebeschränkungen, die sogenannte „Bauernbefreiung“, die Einführung der Gewerbefreiheit, die Aufhebung von Mobilitätsbeschränkungen und die Alphabetisierung breiterer Gesellschaftsteile sind nur einige wenige Beispiele für den Wandel, von dem das 19. Jahrhundert in Teilen Europas geprägt war.25

Die ersten Anläufe der Industrialisierung führten allerdings nicht dazu, der immer schneller wachsenden Bevölkerung auch mehr Wohlstand zu verschaffen. Im Gegenteil hatten Neuerungen wie die Einführung der Gewerbefreiheit in den deutschen Territorien eine Überfüllung diverser Gewerbezweige (wie z. B. Schneider oder Wagner) zur Folge, die vielen Menschen vormals ihre Existenz zu sichern vermocht hatten. Verarmung, Landflucht und eine zunehmende massenhafte Auswanderung (v. a. in die Vereinigten Staaten) zeichnen ein Bild der Perspektivlosigkeit, die mehr Menschen erfasste als der Fortschritt.26 Eine weitaus geringere Zahl profitierte wirklich von den Veränderungen, welche die Entstehung einer breiteren intellektuellen, wirtschaftsbürgerlichen Schicht ermöglichten.27 Erst in den Jahrzehnten nach 1850 wurde der Fortschritt auch politisch für weitere Teile der Bevölkerung spürbar, wie der Historiker Jürgen Osterhammel treffend formuliert: „Wirtschaftliches Wachstum und politische Stabilisierung bei allmählicher Demokratisierung und dem langsamen Abbau alter Hierarchien zugunsten größerer Gleichheit der Staatsbürger legten eine solche Weltsicht nahe.“ 28

Warum ausgerechnet Europa?

Doch warum war es ausgerechnet Europa, das den Fortschritt scheinbar für sich gepachtet hatte? Zunächst einmal erfassten diese Entwicklungen bei weitem nicht ganz Europa, sondern primär Großbritannien, Frankreich und die deutschen Territorien. Besonders wirtschaftlich blieben Süd- und Osteuropa weit hinter dem Nordwesten zurück. Bis 1850 hatte Europa an sich „keinen erkennbaren technischen, politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Vorsprung“ gegenüber anderen Erdteilen, wie z. B. Asien.29 Doch nach 1850 rückten die aufstrebenden Bereiche von Wissenschaft, Technik und Industrie enger zusammen, eine Verbindung nicht nur zum Wohle der Gesellschaft oder der Welt, sondern auch zugunsten sich schamlos bereichernder Unternehmer oder der Kriegsführung und der daraus resultierenden Unterwerfung anderer Länder und ihrer Menschen.30

Die neue Überlegenheit der europäischen Mächte gegenüber anderen Kontinenten gründete sich vor allem auf dem „militärisch-industriell-wissenschaftlichen Komplex und seinen technologischen Wunderwerken“.31 Aber woher kam dieser verhängnisvolle Vorsprung? Der Historiker Yuval Noah Harari erklärt sich diesen Umstand mit dem Zusammenspiel aus den modernen Wissenschaften und dem Kapitalismus: „Die Europäer lernten, wissenschaftlich und kapitalistisch zu denken und zu handeln, lange bevor sie einen spürbaren technischen Vorsprung daraus zogen. Als ihre Technologie Früchte trug, waren die Europäer besser als alle anderen in der Lage, sie zu nutzen, und deshalb eroberten sie die Welt.“ 32

Kapitalismus, Wachstum, Vertrauen – eine zukunftsträchtige Mischung?

Besonders der Kapitalismus ist ein Kind des Fortschrittsdenkens, denn ohne den Glauben an eine bessere Zukunft hätte sich dieser nicht in seiner heutigen Form ausbreiten können. Im Vergleich zur aufstrebenden Wirtschaft des 19. Jahrhunderts waren die vorherigen Jahrtausende vom Stillstand geprägt.

„So komplex die Geschichte der modernen Wirtschaft ist, sie lässt sich mit einem einzigen Wort zusammenfassen: Wachstum.“

– Yuval Noah Harari

Aus: Harari, Geschichte 2013, S. 374.

Während die Bevölkerung zwar zunahm, blieb die Pro-Kopf-Produktion stets verhältnismäßig ausgeglichen.33 Doch was hatten die Menschen des 19. Jahrhunderts, was ihren Vorgängern für eine stetig wachsende Wirtschaft und zunehmenden Wohlstand fehlte? Die einfachste Antwort ist: Vertrauen in die Zukunft. Dieser Umstand hinderte die Menschen lange Zeit daran, größere Summen an Geld zu verleihen. „Kredit basiert auf dem Gedanken, dass wir in Zukunft mehr Ressourcen zur Verfügung haben werden als in der Gegenwart.“34 Ohne dieses Vertrauen stellten größere und längerfristig angelegte Kredite ein zu großes Risiko dar.

Und ohne solche Kredite war es nur den wenigsten Menschen möglich, neue Unternehmen zu gründen, in diese zu investieren, geschweige denn größeren Profit zu machen – die Folge war Stagnation.35 Erst als im Laufe der Frühen Neuzeit langsam die Erkenntnis und das Vertrauen darauf wuchs, dass morgen alles besser als heute sein konnte und der Tag, der Monat, das Jahr danach noch verheißungsvoller sein könnten, platzte dieser Knoten. Nicht zuletzt durch Adam Smiths „Wohlstand der Nationen“ war auch die theoretische Grundlage für das kapitalistische Gewinnstreben und den europäischen Wirtschaftsboom gelegt.36

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Schattenseiten des Fortschritts

Wie der Kapitalismus hat auch der Fortschritt seine Schattenseiten, von denen zwei noch einmal kurz hervorgehoben werden sollen

Das 19. Jahrhundert hebt sich aus der Kette der Epochen dadurch heraus, dass niemals zuvor und in solcher Unbefangenheit seit dem ersten Weltkrieg auch nicht wieder die Herrschafts- und Bildungseliten Europas derart selbstsicher überzeugt waren, an der Spitze des Fortschritts zu stehen und eine Zivilisation von weltweiter Maßstäblichkeit zu verkörpern.“

– Jürgen Osterhammel
Aus: Osterhammel, Verwandlung 2009, S. 1186.

Mit dem Fortschrittsdenken und dem Glauben an eine allgegenwärtige Prozesshaftigkeit der Dinge – so z. B. auch bei Kulturen – verfestigte sich in Europa ein Selbstbild, das die europäische Kultur über alle anderen erhob. Diese vermeintliche Überlegenheit schien sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die wissenschaftlich-technischen Fortschritte und die „militärisch und wirtschaftlich gestützte Ausweitung von Herrschaft und Einfluss über die Welt“ zweifelsfrei bestätigen zu lassen.37 Geschichte stellte sich zusehends als Wettrennen dar – und zwar eines, welches die Europäer mit großem Vorsprung vor anderen, vermeintlich geschichtslosen Kulturen glanzvoll für sich entschieden.

Dieses eurozentristische Selbstbild von Europa als höchste aller Zivilisationen war – auch gestützt durch die Übertragung evolutionstheoretischer Ideen auf das Verständnis von Kulturen – ein fruchtbarer Nährboden für Rassismus und Kolonialismus.

Ebenso präsent ist uns in der Gegenwart sicherlich die Erkenntnis, dass all die sensationellen Neuerungen seit dem 19. Jahrhundert, die im Laufe der Zeit immer mehr Menschen Wohlstand brachten, zu einem Großteil auf natürlichen Rohstoffen als Energieträger basieren. Ein Beispiel dafür ist die Eisenproduktion, die seit jeher Unmengen an Energie benötigt: Während um 1500 in Europa etwa 1kg und im frühen 18. Jahrhundert etwa 2kg Eisen pro Kopf produziert wurden, waren es 2007 bereits sage und schreibe 500kg! 38

„Die gegenwärtige Menschheit lebt in einer Übergangsperiode von begrenzter Dauer, deren Ende absehbar ist: Die Generation der Enkel, spätestens wohl der Urenkel wird mit dieser Endlichkeit in allen Konsequenzen konfrontiert werden.“

 – Wolfram Siemann
Aus: Siemann, Jahrhundert 2007, S. 17.

Der Energiebedarf hat sich in den vergangenen 500 Jahren um ein Vielfaches erhöht. Ganz zu schweigen von den Folgen dieser ungezügelten Ausbeutung des Planeten ist es aber vor allem die Endlichkeit der Energieressourcen, die dem stetigen Wachstum und Fortschritt ohne nachhaltige Alternativen seine Grenzen aufweisen wird. 39

Das Fortschrittsdenken und viele seiner beschriebenen Aspekte und Folgen beeinflussen unser Leben noch heute. Manche waren und sind in der Rückschau als positiv zu bewerten, andere haben sich als negativ herausgestellt. In vielen Fällen hat uns das 19. Jahrhundert einige Erbschaften hinterlassen, die uns und selbst kommende Generationen beschäftigen werden. Natürlich ahnten die Menschen seinerzeit nur wenig davon, dass sie am Beginn einer Fortschrittsperiode solchen Ausmaßes lebten, die sich bis in die heutige Zeit fortsetzt. Welche bahnbrechende Erfindung die Massen bewegte, wird Thema des zweiten der „Drei Dinge, die das 19. Jahrhundert für immer verändert haben“, sein.

 

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Verwendete und weiterführende Literatur

Quellen

de Balzac, Honoré: Louis Lambert, Paris1832.

Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, Berlin 1784, H. 12, S. 481-494.

https://www.duden.de/rechtschreibung/Fortschritt (zuletzt abgerufen am 01.12.20).

https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/weltuntergang-2012-maya-kalender-besagt-nicht-das-ende-der-erde-a-873683.html (abgerufen am 16.12.20).

 

Literatur

Harari, Yuval Noah: Eine kurze Geschichte der Menschheit. München 2013.

Hanke, Gerolf: Regionalisierung als Abkehr vom Fortschrittsdenken? Magisterarbeit. Salem-Beuren 2012.

Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsbilder: Zeitdeutung und Zukunftsperspektive, in: Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (Hg.): Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung DasParlament), B 51-52, Bonn 2002, S. 13-22.

Kleinschmidt, Christian: Technik und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Gall, Lothar (Hg.): Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 79, München 2007.

Koselleck, Reinhart: Futures past: on the semantics of historical time, Frankfurt am Main/Cambridge 1985 (1979).

Osterhammel, Jürgen: Das 19. Jahrhundert, in: Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (Hg.): Informationen zur politischen Bildung Nr. 315/2012, Darmstadt 2012.

Ders.: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009.

Rohbeck, Johannes: Koselleck und die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts, in: Müller, Ernst, Leibnitz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL): Form Interdisziplinäre Begriffsgeschichte (FIB), 8. Jahrgang/1, Berlin 2019, S. 86-92.

Siemann, Wolfram: Das „lange“ 19. Jahrhundert. Alte Fragen und neue Perspektiven, In: Freytag, Nils und Dominik Petzold (Hgg.): Das „lange“ 19. Jahrhundert. Alte Fragen und neue Perspektiven. Münchner Kontaktstudium Geschichte, Bd. 10, München 2007, S. 9-26.

Speich Chassé, Daniel: Fortschritt und Entwicklung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 21.9.2012, URL: http://docupedia.de/zg/Fortschritt_und_Entwicklung, Versionen: 1.0 (abgerufen am 24.11.2020).

Links

1 … So z. B. im Spiegel: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/weltuntergang-2012-maya-kalender-besagt-nicht-das-ende-der-erde-a-873683.html (abgerufen am 16.12.20).

2 … Aus: https://www.duden.de/rechtschreibung/Fortschritt (zuletzt abgerufen am 01.12.20).

3 … Vgl. Koselleck, Reinhart: Futures past: on the semantics of historical time, Frankfurt am Main/Cambridge 1985 (1979), S. 11.

4 … Vgl. Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsbilder: Zeitdeutung und Zukunftsperspektive, in: Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (Hg.): Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung DasParlament), B 51-52, Bonn 2002, S. 16.

5 … Harari, Yuval Noah: Eine kurze Geschichte der Menschheit. München 2013, S. 323.

6 … Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift, Berlin 1784, H. 12, S. 481.

7 … Vgl. Speich Chassé, Daniel: Fortschritt und Entwicklung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 21.9.2012, URL: http://docupedia.de/zg/Fortschritt_und_Entwicklung, Versionen: 1.0 (abgerufen am 24.11.2020).

8 … Osterhammel, Jürgen.: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1059.

9 … Ebd., S. 1059.

10 … Vgl. Osterhammel, Jürgen: Das 19. Jahrhundert, in: Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (Hg.): Informationen zur politischen Bildung Nr. 315/2012, Darmstadt 2012, S. 46.

11 … Ebd., S. 46. Dies war aber natürlich nicht gleichbedeutend mit einer Säkularisierung!

12 … Harari, Geschichte 2013, S. 323.

13 … Ebd., S. 318.

14 … Vgl. Ebd.

15 … Osterhammel, Verwandlung 2009, S. 1105.

16 … Vgl. Ebd., S. 1105-1106. Und: Speich Chassé, Fortschritt 2012.

17 … Vgl. Harari, Geschichte 2013, S. 318.

18 … Vgl. Osterhammel, Verwandlung 2009, S. 1106.

19 … Osterhammel, Jahrhundert 2012, S. 46.

20 … Vgl. Osterhammel, Verwandlung 2009, S. 1106.

21 … Kleinschmidt, Christian: Technik und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Gall, Lothar (Hg.): Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 79, München 2007, S. 1.

22 … Vgl. Ebd., S. 1-2.

23 … Vgl. Ebd., S. 3.

24 … Osterhammel, Verwandlung 2009, S. 654.

25 … Vgl. Osterhammel, Jahrhundert 2012, S. 8-9 und 45.

26 … Vgl. Ebd., S. 9-11.

27 … Vgl. Ebd., S. 12.

28 … Ebd., S. 45.

29 … Harari, Geschichte 2013, S. 343.

30 … Vgl. Ebd., S. 319 und 322.

31 … Ebd., S. 342.

32 … Ebd., S. 345. Natürlich ist diese Aussage Hararis sehr absolut und überspitzt formuliert. Losgelöst von ihrem eigentlichen Kontext kann der Eindruck entstehen, dass der Historiker die Europäer als etwas Besseres darstellt. Tatsächlich aber versucht Harari eine Erklärung dafür zu liefern, wie es den europäischen Kolonialmächten gelang, sich einen beträchtlichen Teil der (– nicht die ganze) Welt Untertan zu machen. Vor allem der technische Vorsprung war es, begünstigt durch ein komplexes und vielschichtiges Netz an Faktoren, der zu einer militärisch-technisch-industriellen Überlegenheit führte, die von den europäischen Mächten scham- und zügellos ausgenutzt wurde.

33 … Vgl. Ebd., S. 374.

34 … Ebd., S. 377-378.

35 … Vgl. Ebd., S. 378.

36 … Vgl. Ebd., S. 381-382.

37 … Osterhammel, Verwandlung 2009, S. 1186.

38 … Siemann, Wolfram: Das „lange“ 19. Jahrhundert. Alte Fragen und neue Perspektiven, In: Freytag, Nils und Dominik Petzold (Hgg.): Das „lange“ 19. Jahrhundert. Alte Fragen und neue Perspektiven. Münchner Kontaktstudium Geschichte, Bd. 10, München 2007, S. 17.

39 … Vgl. Ebd., S. 17.

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