Albertus Magnus
von Elisabeth Schinagl
Albertus Magnus – Der Geistesriese aus der schwäbischen Provinz
Jedem Tierchen sein Pläsierchen, sagt man. Eines meiner Pläsierchen sind mittelalterliche Kultur und Literatur – und dort ein sehr spezieller Bereich.
Seit etwa zwanzig Jahren befindet sich ein Stapel Fotokopien in meinem Besitz, die ich einmal für eine wissenschaftliche Arbeit benötigte. Obwohl ich sie seitdem eigentlich nicht mehr brauche, bewahre ich sie auf, hüte sie, vielleicht nicht gerade wie meinen Augapfel, das wäre zu viel behauptet, aber doch wie einen ganz persönlichen Schatz, eben mein ‚Pläsierchen‘.
Es handelt sich um die Kopie einer mittelalterlichen Handschrift, die lateinisch verfasste Predigten enthält. Der schwer lesbare Text fasziniert mich weniger wegen seiner theologischen Inhalte. Es sind vielmehr die Randbemerkungen, die Einschübe, die es mir angetan haben. Sie sind den zufälligen Hintergrundgeräuschen bei Tonbandaufnahmen vergleichbar: beiläufige Verweise auf das Alltagsgeschehen oder auf die aktuelle Politik, vor allem aber Erläuterungen zu allen möglichen naturwissenschaftlichen Bereichen. Sie reichen von der Botanik, über die Physiologie, Meteorologie und Mineralogie; all diese Themen werden in den Dienst der Theologie gestellt und vermitteln ein ganz eigenes, sehr unmittelbares Bild vom Wissen dieser Zeit und ihrem Weltbild.
Diese Predigten stellen für mich meine ganz persönliche Aufnahme aus einem fernen Jahrhundert dar. Die erwähnte Handschrift ist insofern einzigartig, weil nur sie diese Texte enthält.
Der Mann aber, von dem die Predigten stammen, ist eine der faszinierendsten Persönlichkeiten des Mittelalters überhaupt: Albertus Magnus, zu Deutsch Albert der Große.
Jahrelang hatte ich mir vorgenommen, mich diesen Predigten intensiver zu widmen, sie vielleicht sogar zu editieren, wenn ich einmal Zeit hätte.

Aber wie das eben oft geht: Die Zeit war immer gegen mich, sie reichte einfach nicht, immer war anderes wichtiger. Meine berufliche Laufbahn führte mich schließlich immer weiter von diesem Vorhaben weg und die Handschrift war für mich mehr oder weniger nur noch Erinnerung, ein abgeschlossenes, wenn auch leider nicht vollendetes Kapitel.
Da lag eines Tages ein an mich adressierter Brief aus den Niederlanden in meinem Briefkasten. Der Absender war mir völlig unbekannt. In gebrochenem Deutsch fragte mich darin ein Wissenschaftler, ob ich ihm bei der Transkription einiger Seiten aus der eben erwähnten mittelalterlichen Handschrift helfen könnte. Er war auf mich gekommen, weil ich mich damals, vor etwa zwanzig Jahren, als Letzte vor ihm, mit eben dieser Handschrift befasst hatte. In diesem Moment schloss sich für mich ein Kreis. Ich hatte wieder einen Anlass, mich mit der alten Handschrift zu befassen.
In diesem Text soll es aber nicht um Albert als Priester und bedeutenden Prediger gehen, sondern um ein ganz anderes seiner vielen Betätigungsfelder.
Albert war nämlich nicht nur Theologe und Philosoph, er war auch Naturwissenschaftler, ein Universalgelehrter im wahrsten Sinn des Wortes. Sein Werk umfasst mehrere tausend Druckseiten.
Dabei hat Albert sein Leben keineswegs ausschließlich im Gelehrtenstübchen verbracht. Er war in weiten Teilen Europas unterwegs und seine Laufbahn ist reich an prestigeträchtigen Aufgaben, Örtlichkeiten und Titeln. Er lernte und studierte in Venedig, Padua, Paris, wo er später ebenso lehrte wie in Köln und Würzburg, er predigte an vielen Orten, unter anderem in Augsburg, war Bischof von Regensburg und vieles mehr. Man kann sich durchaus die Frage stellen, wann der Mann überhaupt die Zeit hatte, ein solch gewaltiges Werk zu verfassen.

Tatsächlich trägt er seinen Beinamen der Große zu Recht; er war ein Geistesriese im wahrsten Sinne des Wortes.
Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht erstaunlich, dass auch in seine Predigten immer wieder Vergleiche und Erklärungen aus allen Bereichen der Naturkunde einfließen.
Da gibt es Erläuterungen vom Zeugungsvorgang und zur Verdauung, zu physikalischen Phänomenen ebenso wie zur Botanik, Tierkunde, Meteorologie oder Mineralogie. Überall greift Albert auf sein eigenes naturwissenschaftliches Werk zurück.
Aber es ist nicht nur die schiere Menge an Wissen, so beeindruckend sie auch sein mag, die Albert zu einer bedeutenden Persönlichkeit der Wissenschaftsgeschichte macht, auch seine Vorgehensweise ist spektakulär. Er beschreitet in den Naturwissenschaften nämlich ganz neue Wege.
Der Dominikaner ist nicht nur ein unglaublich belesener Büchermensch, er ist vor allem auch ein Augenmensch, jemand, der seine eigenen Beobachtungen anstellt und Überlegungen daran anknüpft, und der so neue, eigene Erkenntnisse gewinnt.
Und nicht nur das, Albert definiert die Aufgabe der Naturwissenschaften völlig neu: Die Aufgabe der Naturwissenschaft ist es nicht, einfach das Überlieferte anzunehmen, sondern in den Naturdingen nach den Ursachen zu forschen.
Wenn uns diese Tatsache heute selbstverständlich erscheint, dann haben wir sie Persönlichkeiten wie Albert zu verdanken. Seine Zeitgenossen hatten nämlich noch ein gänzlich anderes Verständnis von den Aufgaben der Wissenschaft.
Nach mittelalterlicher Sicht war es mitnichten Aufgabe des Naturgelehrten, die Natur zu erforschen, zu beobachten oder Theorien gar im Experiment zu überprüfen. In den Augen seiner Zeitgenossen bestand die Tätigkeit eines Naturgelehrten darin, das Wissen der Alten zu kennen und zu überliefern. Die Wahrheit lag in den Büchern, sie an der Realität zu messen, war ein mehr oder weniger abwegiger Gedanke, auf den nur wenige verfielen.
Es gibt viele Orte, die man mit Albert in irgendeiner Weise in Verbindung bringen kann.
Geboren wurde er um 1200 im schwäbischen Städtchen Lauingen als Sohn eines niedrigen Adligen. Sehr viel, was an diese Persönlichkeit der europäischen Kulturgeschichte erinnern könnte, findet man dort nicht.

Den berühmtesten Sohn der Stadt ehrt man mit einer Statue vor dem Rathaus und natürlich ist das dortige Gymnasium nach ihm benannt.
Am nächsten kommt man Alberts Person und seinem wissenschaftlichen Denken an seinem Geburtsort wohl in der örtlichen Mineraliensammlung. Sie zeigt alle uns bekannten Minerale, die Albert in seinem fünfbändigen Werk De lapidibus et mineralibus anführt.
In alphabetischer Ordnung, und damit nach einer nachvollziehbaren Systematik, von abeston (Asbest) bis zigrites (einem Stein, den wir nicht identifizieren können) listet Albert darin sämtliche ihm aus der Literatur oder eigener Anschauung bekannten Steine auf. Systematisch beschreibt er ihr Aussehen, ihr Vorkommen und ihre Wirkung: Asbest aber hat die Farbe von Eisen. Dieses findet man nach Aussage der meisten Gelehrten in Arabien. Man erzählt, es habe eine wunderbare Eigenschaft, und diese zeigt sich in den Göttertempeln. Denn wenn es einmal angezündet ist, kann es kaum wieder gelöscht werden. Weil es eine flockige Struktur hat, wird es Salamanderflaum genannt …
Der Zigrites ist ein durchsichtiger Stein, er wird auch Evax genannt. Man sagt, dass er um den Hals getragen das Blut zum Gerinnen bringt und geistige Verwirrung vertreibt.
Zugegeben: Der Grat zwischen Wissenschaft in unserem modernen Verständnis und Aberglauben ist schmal, und doch gilt Albert mit diesem Werk als einer der Stammväter sowohl der modernen Chemie als auch der Mineralogie.
Er kennt die Silberminen in Freiberg und die Erzvorkommen in Goslar aus eigener Anschauung, er beschreibt, wie die Metalle den Stein wie Adern durchziehen, er kennt die unterschiedlichen Reinheitsgrade von Metallen und er weiß, wie man die wertvollen Metalle schließlich vom wertlosen Gestein trennt.

Wir sehen nämlich auch in dem Gold, das in einem Stein entstanden ist, dass es nicht im gesamten Stein enthalten ist, sondern es ist eine Art Ader, die ihn entweder zur Gänze durchzieht oder durch einen Teil der Gesteinssubstanz geht. Und dieses Gold wird aus dem Stein durch Abtragen herausgebrochen und durch Feuer gereinigt.
Wie aber entstehen diese Adern? Wie entstehen Metalle? Die Frage trieb auch die Alchemisten an. Denn würde man dieses Geheimnis der Natur erst kennen, so ihre Überlegung, wäre man auch in der Lage, sie nachzuahmen und damit das wertvollste aller Metalle selbst herzustellen: Gold.
Wie die Naturgelehrten sagen, entsteht alles Silber und alles, was aus Gold ist, aus Quecksilber und Schwefel. Der Beweis dafür ist, dass man an jedem Ort, wo derartige Metalle gefunden werden, man auch diese Substanzen findet. Wenn sich die Kraft der Sonne und der Gestirne anfangs mit diesen Substanzen vermengen, sind diese noch lange kein Gold. Doch ganz allmählich werden sie verkocht und verdaut und je mehr sie verdaut und verkocht sind, desto mehr nehmen sie die Eigenschaft und die Farbe von Gold an.
In Alberts Steinbuch können wir auch einen Blick in das Labor der mittelalterlichen Alchemisten auf ihrer Suche nach dem Stein der Weisen werfen.
Mit einem speziellen Gefäß, unten bauchig und oben mit einem langen, schmalen Hals, versuchen sie, mit Hilfe des elixirs den gerade beschriebenen Koch- und Verdauungsvorgang der Natur nachzuahmen und auf diese Weise Gold zu gewinnen. Es wird noch Jahrhunderte dauern, bis man die Vergeblichkeit dieser Bemühung begreift.
Und wenn wir heute versucht sind, amüsiert darüber zu schmunzeln, sollten wir uns vielleicht fragen, über welche unserer wissenschaftlichen Hypothesen und Versuche die Nachwelt in ein paar Jahrhunderten wohl lächeln wird.
Quellen: