Der Weihnachtsfrieden von 1914 – als der Krieg Pause machte

 

 

von Alexander Burstein

Selbst heute, nach mehr als 100 Jahren und unzähligen weiteren militärischen Auseinandersetzungen, gilt der Christmas Truce, der Weihnachtsfrieden von 1914, als eine der wenigen wundersamen und die Seele heilenden Geschichten des Krieges.

Schon fünf Monate lang tobte der Weltenbrand, die deutsche Kriegsstrategie im Westen war bereits gescheitert, die Hoffnung von Millionen Soldaten, zu Weihnachten wieder zu Hause zu sein, schwand dahin. An der Westfront entwickelte sich im Spätherbst 1914 ein furchtbarer Stellungskrieg, noch vier Jahre lang, bis zum Ende des  Ersten Weltkriegs im November 1918, sollten die zermürbenden Grabenkämpfe dauern. Millionen Soldaten starben auf beiden Seiten einer Front, die sich kaum mehr veränderte. Aber einen Moment lang, zu Weihnachten 1914, machte der Krieg Pause, hörte das Sterben auf, und Soldaten verschiedener Nationen feierten gemeinsam Weihnachten. Lesen Sie auf den folgenden Seiten, wie es zu diesem Wunder kam, wie Weihnachten an der Front zelebriert wurde und warum der Frieden nur für ganz kurze Zeit siegte.

Als Franz Ferdinand, der Thronfolger Österreich-Ungarns, am 28. Juni 1914 einem Attentat zum Opfer fiel, gab es zwar zahlreiche Spannungen unter den europäischen Großmächten, aber an Krieg, an einen großen Flächenbrand dachte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Die Habsburger-Monarchie und das Deutsche Reich eskalierten jedoch die Lage, und am 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Danach dauerte es nur wenige Tage, bis der Erste Weltkrieg Realität geworden war, Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich standen unter anderem mit Russland, Frankreich und Großbritannien im Krieg. Im Westen war es das Ziel des deutschen Militärs, Frankreich nicht nur entlang der gemeinsamen Grenze anzugreifen, sondern auch das neutrale Belgien zu durchqueren und von Norden her gegen Paris vorzurücken.

Dieser Plan misslang innerhalb weniger Wochen, und im belgischen Westflandern, im Nordosten Frankreichs und entlang der damaligen deutsch-französischen Grenze erstarrte die Front, der Krieg aber ging mit unverminderter Härte weiter. Das ungewöhnlich schlechte Wetter in diesem Spätherbst verschärfte die Lage noch zusehends, Regen, Schnee und Eis verwandelten die Stellungen in eine Hölle auf Erden – und dann nahte Weihnachten.

Auch wenn es wenig gesicherte Quellen gibt, allenfalls ein paar schwarz-weiß Fotos, idealisierende Erinnerungen, Briefe oder vom Hören Gesagtes, ist historisch jedoch belegt, dass an einigen Frontabschnitten sich feindlich gegenüberstehende Soldaten die Waffen beiseitelegten und stattdessen gemeinsam Weihnachten feierten. Bevor wir im Detail beleuchten, was genau passiert war, stellt sich natürlich die Frage, was löste dieses Aufflackern von Menschlichkeit, dieses Aufbegehren zivilisierten Verhaltens aus?

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Schon fünf Monate lang tobte der Weltenbrand, die deutsche Kriegsstrategie im Westen war bereits gescheitert, die Hoffnung von Millionen Soldaten, zu Weihnachten wieder zu Hause zu sein, schwand dahin. An der Westfront entwickelte sich im Spätherbst 1914 ein furchtbarer Stellungskrieg, noch vier Jahre lang, bis zum Ende des  Ersten Weltkriegs im November 1918, sollten die zermürbenden Grabenkämpfe dauern. Millionen Soldaten starben auf beiden Seiten einer Front, die sich kaum mehr veränderte. Aber einen Moment lang, zu Weihnachten 1914, machte der Krieg Pause, hörte das Sterben auf, und Soldaten verschiedener Nationen feierten gemeinsam Weihnachten. Lesen Sie auf den folgenden Seiten, wie es zu diesem Wunder kam, wie Weihnachten an der Front zelebriert wurde und warum der Frieden nur für ganz kurze Zeit siegte.

Als Franz Ferdinand, der Thronfolger Österreich-Ungarns, am 28. Juni 1914 einem Attentat zum Opfer fiel, gab es zwar zahlreiche Spannungen unter den europäischen Großmächten, aber an Krieg, an einen großen Flächenbrand dachte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Die Habsburger-Monarchie und das Deutsche Reich eskalierten jedoch die Lage, und am 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Danach dauerte es nur wenige Tage, bis der Erste Weltkrieg Realität geworden war, Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich standen unter anderem mit Russland, Frankreich und Großbritannien im Krieg. Im Westen war es das Ziel des deutschen Militärs, Frankreich nicht nur entlang der gemeinsamen Grenze anzugreifen, sondern auch das neutrale Belgien zu durchqueren und von Norden her gegen Paris vorzurücken.

Dieser Plan misslang innerhalb weniger Wochen, und im belgischen Westflandern, im Nordosten Frankreichs und entlang der damaligen deutsch-französischen Grenze erstarrte die Front, der Krieg aber ging mit unverminderter Härte weiter. Das ungewöhnlich schlechte Wetter in diesem Spätherbst verschärfte die Lage noch zusehends, Regen, Schnee und Eis verwandelten die Stellungen in eine Hölle auf Erden – und dann nahte Weihnachten.

Auch wenn es wenig gesicherte Quellen gibt, allenfalls ein paar schwarz-weiß Fotos, idealisierende Erinnerungen, Briefe oder vom Hören Gesagtes, ist historisch jedoch belegt, dass an einigen Frontabschnitten sich feindlich gegenüberstehende Soldaten die Waffen beiseitelegten und stattdessen gemeinsam Weihnachten feierten. Bevor wir im Detail beleuchten, was genau passiert war, stellt sich natürlich die Frage, was löste dieses Aufflackern von Menschlichkeit, dieses Aufbegehren zivilisierten Verhaltens aus?

Als Weihnachten 1914 heranrückte, erhielten die britischen Soldaten ein Geschenk des Königs, die Princess Mary Gift Fund 1914 Box, ein Messing-Etui für Unteroffiziere und Mannschaftsgrade oder eine Box aus Silber für Offiziere. Sie enthielt Tabak und Zigaretten, eine Porträt-Fotografie von Prinzessin Mary, der einzigen Tochter des britischen Königs George V., und Weihnachtsgrüße. Nichtraucher bekamen statt Tabak und Zigaretten Tabletten gegen Sodbrennen und Schreibzeug, Krankenschwestern erhielten Schokolade.[1]

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Eine konzertierte Aktion wie im Vereinigten Königreich gab es für deutsche Soldaten nicht, aber dennoch erhielten viele von ihnen Weihnachtspakete, die entweder durch ihre Heimatorte organisiert worden waren oder von den Lieben zu Hause geschickt wurden. Wie ihre britischen Kollegen bekamen die Deutschen Rauchwaren, aber auch Lebensmittel oder warme Bekleidung. Darüber hinaus orderten die obersten deutschen Militärs mehrere tausend kleiner Christbäume, die an diverse Frontabschnitte versandt und dort zu Weihnachten beleuchtet werden sollten. Frankreich und Belgien waren in dieser Hinsicht zurückhaltender, nicht nur weil Weihnachten in ihren Ländern nicht dieselbe große Bedeutung hatte, sondern weil sie aufgebracht und verbittert waren. Der Krieg fand in ihren Ländern statt, ihre Städte, Dörfer und Flure wurden zerstört.

Heute vermutet man, dass der Weihnachtsfrieden 1914 in der Gegend von Ypern begann, einer kleinen belgischen Stadt in Westflandern, die in den Wochen davor zu einem der Zentren der ersten Flandernschlacht geworden war. Fast das gesamte, zuvor neutrale Belgien war von den Deutschen binnen weniger Wochen überrannt und besetzt worden. Nur im äußersten Westen, ungefähr 60 bis 70 Kilometer von der französischen Grenze, war es vor allem britischen Soldaten gelungen, den Vormarsch der deutschen Divisionen zu stoppen.

Diese Front erstreckte sich nun etwa von Nieuwport am Atlantik Richtung Süden über Nieuwkapelle ins besagte Ypern und weiter nach Mesen.  An ungefähr der Hälfte dieser rund 50 Kilometer langen Front stand das British Expeditionary Force den Deutschen gegenüber, oft mit weniger als 100 Metern Abstand, also durchaus in Rufweite. Sowohl britische als auch deutsche Soldaten waren nach den ersten Monaten heftiger Kämpfe erschöpft, die Sehnsucht nach ein bisschen Frieden war groß, und die meisten hofften, ihre Weihnachtsgeschenke aus der Heimat ohne Todesangst in Ruhe auspacken und genießen zu können. Wie es genau begann, wissen wir nicht, aber ein englischer Journalist berichtete, ein paar Deutsche hätten irgendwie einen Schokoladenkuchen durch das Niemandsland, einen schmalen Streifen zwischen den beiden Frontlinien, zu den Briten gebracht; und die britischen Soldaten freuten sich, im Nu war der Kuchen verschmaust.

So mancher deutsche Soldat konnte recht gut Englisch, und so soll es einer von ihnen gewesen sein, der zu den britischen Kollegen hinüberrief, dass seine Kameraden zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt ein paar Weihnachtslieder singen wollten. Die Deutschen würden als Zeichen dafür brennende Kerzen an den Rand des Schützengrabens stellen, und er bat die Briten, in dieser Zeit nicht zu schießen. Die betroffenen Soldaten des britischen Expeditionskorps waren einverstanden, ein paar deutsche Soldaten begannen zu singen, und innerhalb kürzester Zeit soll sich der Gesang über mehrere Kilometer der deutschen Schützengräben verbreitet haben. Viele Briten klatschten sogar begeistert, als ihre Gegner zu Ende gesungen hatten. Nun luden an manchen Stellen der Front die deutschen Soldaten ihre britischen Kollegen sogar ein mitzusingen, und es entwickelte sich ein freundschaftliches Feixen, ob die Briten in Deutsch oder Englisch singen sollten.

Als die in diesem Moment vermeintlichen Gegner miteinander von Jesu Geburt und vom Frieden sangen, nahmen die Deutschen ihre kleinen Christbäume und stellten sie vor ihren Schützengräben auf. Am nächsten Tag verständigten sich Soldaten beider Seiten darüber, ihre verbliebenen Gefallenen im Niemandsland zu bergen und zu begraben. Unbewaffnet verließen einige der Männer ihre jeweiligen Schützengräben; nachdem sie ihre traurige Pflicht erledigt hatten, begannen einige der Deutschen und Briten sich miteinander zu unterhalten, in der Regel auf Englisch – der Weihnachtsfrieden war Realität geworden.[2]

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Handelten hier einfache Soldaten eigenmächtig? Wie standen ihre Vorgesetzten und die Militärführung dazu? Unterschiedlich, schließlich war das keine geplante Aktion und betraf auch nur wenige Frontabschnitte. Einzelne Offiziere unterstützten solch weihnachtliche Verbrüderung oder sicherten sie sogar durch dementsprechende Befehle ab, manche reagierten gelassen und ließen die Geschehnisse laufen, andere aber wie John French, der Oberbefehlshaber des britischen Expeditionskorps, waren alles andere als begeistert und reagierten mit harschen Befehlen, um die Disziplin wiederherzustellen.

Abgesehen von den mythenumrankten, schon geschilderten Ereignissen in der Gegend von Ypern hat es noch viele andere beeindruckende Ereignisse in den Weihnachtstagen des Jahres 1914 gegeben. So berichtete der deutsche Oberleutnant Kurt Zehmisch, Offizier in einem der Königlich Sächsischen Infanterie-Regimenter, dass in der Nähe von St. Yvon »ein paar Engländer einen Fußball aus ihrem Graben gebracht [hätten] und ein eifriges Fußballwettspiel begann«.  Schließlich sei eine so freudige Atmosphäre entstanden, dass aberhunderte deutsche und britische Soldaten entlang der Front miteinander kickten.[3] Auch der deutsche Oberleutnant Johannes Niemann berichtete von solch einem weihnachtlichen Fußballspiel.

Bei Armentieres, schon auf der französischen Seite der Grenze mit Belgien, standen sich das II. Königlich Sächsische Armeekorps und die 12. Division des British Expeditionary Force gegenüber. Wie bei Ypern sollen die Soldaten beider Seiten am Vorabend Weihnachtslieder gesungen haben, und nun, am 24. Dezember, »brachte ein Schotte einen Fußball an, und es entwickelte sich ein regelrechtes Fußballspiel mit hingelegten Mützen als Toren«, hielt Niemann später fest. Besonders amüsierte Niemann, dass die Schotten ohne Unterhosen unter ihren Röcken spielten, sodass sie in der Hitze des Gefechtes und durch den Wind immer wieder ihren Allerwertesten entblößten. Angeblich gewannen die Deutschen 3:2, so jedenfalls bestätigte es auch der britische Soldat Ernest Williams viele Jahre später gegenüber der BBC.[4]

Nicht nur Fußball soll gespielt worden sein, da und dort hätte man gemeinsam Schweine gegrillt, sich gegenseitig die Haare geschnitten oder einfach nur zusammen gebetet. In der Nähe des französischen Fromelles, etwas mehr als 10 Kilometer südlich von Armentieres, gingen Soldaten der Gordon Highlanders daran, zwischen den Frontlinien ihre Gefallenen zu bergen. Der Regimentspfarrer hielt eine Messe, sprach den Psalm Nr. 23 auf Englisch, ehe ein des Deutschen mächtiger Soldat die heiligen Zeilen wiederholte:

 

»Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen; er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen. Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht. Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl, du füllst mir reichlich den Becher. Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit.«[5]

Die Deutschen waren ebenfalls aus ihren Schützengräben gekommen, nahmen ihre Mützen ab und lauschten andächtig dem Zeremoniell. Unterleutnant Arthur Pelhem Burn schrieb in sein Tagebuch: »The Germans formed up on one side, the English on the other, the officers standing in front, every head bared. Yes, I think it was a sight one will never see again.« Der britische Captain R. J. Armes befand sich mit dem North Staffordshire Regiment in derselben Gegend und schrieb seiner Frau von außergewöhnlichen Ereignissen am Abend des 24. Dezember 1914.

Zunächst wurde in der Region noch geschossen, aber Armes berichtete, dass um circa sieben Uhr abends der gegenseitige Beschuss aufhörte. Während Armes beschäftigt war und die Mannschaften gerade ihre Post erhielten, kam die Meldung, dass die Deutschen ihre Schützengräben beleuchtet hätten. Die gegnerischen Soldaten wünschten sich frohe Weihnachten, jemand rief: »Nicht schießen!« Die Briten verließen ihre Stellungen, setzten sich auf die Erdwälle vor ihren Gräben, die Deutschen taten es ihnen gleich. Armes, der Deutsch konnte, bat die gegnerischen Soldaten, ein deutsches Volkslied zu singen, und als diese loslegten, stimmten seine Männer mit ein. Anschließend applaudierten alle, und die Soldaten jubelten sich gegenseitig zu.

Schließlich traf sich Armes mit dem deutschen kommandierenden Offizier und sie vereinbarten, bis am nächsten Tag vierundzwanzig Uhr nicht aufeinander zu schießen. Die Offiziere verabschiedeten sich, wünschten einander frohe Weihnachten, eine gute Nachtruhe, und zum Abschluss sangen die Deutschen »Die Wacht am Rhein« und die Briten »Christians Awake«. Armes konnte kaum fassen, was sich zugetragen hatte, und noch ehe er sich zur Ruhe legte, musste er seiner Frau Bescheid geben und begann zu schreiben. Am nächsten Tag, für die Briten der eigentliche Weihnachtstag, ging die Verbrüderung weiter, und Armes griff wieder zu Bleistift und Papier: »I was astonished at the easy way in which our men and theirs got on with each other.« Aber Armes wusste auch und schrieb es nieder, dass in wenigen Stunden das Töten wieder beginnen würde.[6] An vielen dieser Frontabschnitte kämpften auf deutscher Seite Sachsen, und auch in einer weiteren Szene wurden sie erwähnt.

Captain Clifton Inglis Stockwell von den Royal Welsh Fusiliers vermerkte in den offiziellen Aufzeichnungen seines Bataillons, dass zu Weihnachten plötzlich mehrere Deutsche unbewaffnet ihre Schützengräben verließen und den Briten zuriefen, sie mögen nicht auf sie schießen. Die Sachsen meinten, sie wollten heute nicht kämpfen, sondern lediglich ein paar Fässer Bier hinüberbringen. So kam es auch, und die Briten schickten ihrerseits einige Portionen von ihrem berühmten Christmas Pudding. Stockwell und ein deutscher Offizier prosteten einander zu, gingen dann zurück zu ihren Leuten, und der restliche Weihnachtsabend klang singend, aber vor allem in Frieden aus.[7] Die meisten Berichte über den Weihnachtsfrieden 1914 blieben von britischen Soldaten erhalten, so auch jener von Captain Edward Hulse von den Scots Guards.

Als er von einer Besprechung im Hauptquartier zu seiner Einheit zurückgekommen war, musste er feststellen, dass sich seine Soldaten mit dem Feind verbrüdert hatten. Wohl weil es sich auch in diesem Fall nicht um einen privaten Brief, sondern eine Notiz im Bataillonstagebuch handelte, schrieb Hulse zunächst sehr nüchtern davon, dass die Soldaten kleine Erinnerungsstücke austauschten oder sich Fotos von ihren Liebsten zu Hause zeigten.

Als sich Deutsche und Briten schließlich über ihren jeweiligen Tabak austauschten, kam es, nicht zuletzt durch sprachliche Hürden, zu lustigen Dialogen, und am Ende lachten alle, auch Captain Hulse.[8] Einer der ganz wenigen deutschen Berichte stammte von Josef Wenzl, einem Soldaten des 16. Bayrischen Reserve Infanterie-Regiments. Er schrieb seinen Eltern, dass er gerade etwas erlebt hätte, das er noch vor wenigen Stunden für völlig verrückt gehalten habe.

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Zwischen den Schützengräben standen sich die verhassten Feinde gegenüber und sangen gemeinsam Weihnachtslieder. Für Wenzl offenbarte sich ein Zeichen von Humanität, zu einer Zeit, als alle nur eines wirklich verstanden, nämlich zu töten. Wie allen anderen bisher zitierten Augenzeugen war es auch Josef Wenzl nicht vergönnt, das Ende dieses furchtbaren Krieges noch zu erleben, er fiel 1917.[9]

Heute gehen HistorikerInnen davon aus, dass mindestens 100.000 Soldaten an diesen spontanen Waffenstillstandsaktionen an verschiedenen Frontabschnitten teilnahmen.  Der Weihnachtsfrieden 1914 dauerte maximal vom 23. bis 25. Dezember, in wenigen Einzelfällen aber auch etwas länger. Sehen wir uns nochmals die Reaktion obersten Militärs an: Captain Edward Hulse war nicht der einzige Scots Guard, der einen Augenzeugenbericht hinterließ, denn auch sein Kollege Captain Iain Colquhoun berichtete über die Ereignisse zu Weihnachten 1914. Anders als Hulse erzählte Colquhoun aber auch über die Konsequenzen des Geschehenen.

Als er nach weiteren zehn Tagen an der Front hinter die Linien zurückkehrte, wurde er kurzzeitig inhaftiert und am 17. Januar 1916 schließlich wegen Verletzung der militärischen Disziplin und Genehmigung eines Waffenstillstands mit dem Feind angeklagt. Allerdings kam er mit der geringstmöglichen Strafe, einem Verweis, davon. Sehr wahrscheinlich erwies es sich als ausgesprochen nützlich, dass sein Verteidiger der Sohn des damaligen britischen Premierministers Herbert Asquith war. Seiner Karriere schadete dieser Vorfall nicht, nach dem Krieg gelangte Colquhoun zu höchsten zivilen Ehren und wurde unter anderem zum Ritter geschlagen.[10]

Wir haben gesehen, dass die Initiative zum Weihnachtsfrieden 1914 oftmals von deutschen Soldaten ausging und von den Briten zumeist freudig aufgenommen wurde, aber auch, dass die obersten britischen Militärs nicht immer »mitspielten«. Auf Seite der Deutschen waren die Vorgänge der Obersten Heeresleitung zwar bekannt, aber sie wurden nicht öffentlich, die Zeitungen berichteten mit keinem Wort darüber – anders als die Presse im Vereinigten Königreich und in Frankreich. Als es auch zu Weihnachten 1915 da und dort Bestrebungen gab, so wie 1914 gemeinsam Weihnachten zu feiern, wurde dies von den Generälen auf beiden Seiten rigoros unterbunden.

Soldaten, die sich widersetzen würden, wurde mit einer Anklage vor dem Kriegsgericht gedroht; zu inoffiziellen Waffenstillständen kam es trotzdem an einigen, kleineren Frontabschnitten. 1916 und 1917, der Frontverlauf war noch immer so ähnlich wie 1914, wurde endgültig und ganz normal weitergekämpft..[11] Die Generäle wussten genau, warum sie so und nicht anders reagierten. Ein weiterer Augenzeuge, Murdoch M. Wood, meinte nach dem Krieg, dass die einfachen Soldaten wohl keinen einzigen Schuss mehr abgegeben hätten, wenn man sie nur gelassen hätte.[12]

Der Weihnachtsfrieden 1914 war ein kurzes Signal von Humanität, geboren aus individueller Nächstenliebe, Sehnsucht nach Frieden und Lust am gemeinsamen Feiern. Ein einmaliges Ereignis, das sich in dieser Form nie wiederholte und gerade deshalb auch heute noch, mehr als hundert Jahre später, eine immerwährende Faszination ausstrahlt.

PS: Der Text ist auch in einem Weihnachtsbuch des Leiermanns zu finden – Weihnachtliche Kulturgeschichten – ein Streifzug durch Europa

 

Fußnoten

[1] Look inside the Princess Mary Gift Fund 1914 Box, in: Imperial War Museum, [online] https://www.iwm.org.uk/history/look-inside-the-princess-mary-gift-fund-1914-box [14.09.2022).

[2] Der Weihnachtsfrieden (24.12.2018), in: Corpus librare, [online] https://corpuslibrare.net/2018/12/24/der-weihnachtsfrieden/ [16.09.2022].

[3] The Christmas Truce of 1914: The Truce, in: The University of North Carolina, Greensboro, [online] https://uncg-lis.libguides.com/c.php?g=1084494&p=8028049 [17.09.2022].

[4] Macdonald, Alastair: How Christmas Truce led to court martial (24.12.2014), in: Reuters. Lifestyle, [online] https://www.reuters.com/article/us-ww1-century-truce-idUSKBN0K20K320141224 [17.09.2022].

[5] The Christmas Truce of 1914: The Truce, in: The University of North Carolina, Greensboro, [online] https://uncg-lis.libguides.com/c.php?g=1084494&p=8028049 [17.09.2022].

[6] Silent Night: The Story of the World War I Christmas Truce of 1914, in: Time. History. Conflict, [online] https://time.com/3643889/christmas-truce-1914/ [17.09.2022].

 

[7] The most extraordinary scenes (19.10.2015) in: Letters of Note, [online] https://lettersofnote.com/2015/10/19/the-most-extraordinary-scenes/ [16.09.2022].

[8] The Royal Welch Fusiliers and the Great Christmas Truce. Lt-Gen Jonathon Riley tells a familiar and much mythologised story, in: Generalship, [online] http://generalship.org/military-history-articles/royal-welch-fusiliers-christmas-truce.html [16.9.2022].

[9] Christmas Truce, 1914, in: Historical Eye, [online] https://historicaleye.com/ww1/xmastruce [17.9.2022].

 

[10] Daniel Niemetz, Erster Weltkrieg. Als Deutsche und Briten Weihnachten 1914 an der Front Fußball spielen, in: Geschichte, [online] https://www.mdr.de/geschichte/weitere-epochen/erster-weltkrieg/fussball-weihnachtsfrieden-westfront-christmas-truce-100.html [15.09.2022].

[11] Eine wahre Fußball-Weihnachtsgeschichte (24.12.2011), in: Hannover 96, [online], https://www.hannover96.de/aktuelles/news/details/13142-eine-wahre-fussball-weihnachtsgeschichte.html [15.9.2022].

[12] Die Psalmen, Kapitel 23, in: Universität Innsbruck. Die Bibel in der Einheitsübersetzung, [online] https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/ps23.html#:~:text=Er%20l%C3%A4sst%20mich%20lagern%20auf,mich%20zum%20Ruheplatz%20am%20Wasser.&text=Er%20stillt%20mein%20Verlangen%3B%20%2F%20er,rechten%20Pfaden%2C%20treu%20seinem%20Namen.&text=Muss%20ich%20auch%20wandern%20in,dein%20Stab%20geben%20mir%20Zuversicht [15.9.2022].

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