Astor Piazzolla – 100 Jahre Tango Nuevo
von Christine Piswanger-Richter
Man kann Tango tanzen, hören oder leben. Astor Piazzolla hat letzteres getan, und das, obwohl er zunächst eine ganz andere Laufbahn einschlagen wollte: die des klassischen Komponisten. Doch ein Studienaufenthalt bei Nadia Boulanger in Paris ließ ihn seine Wünsche überdenken.
Einerseits und andererseits. So banal das klingt, so zutreffend ist es in so vielen Beziehungen für Astor Pantaleón Piazzolla. Das fängt schon bei seiner Geburt an: Einerseits ist er in Mar del Plata, rund 400 km südlich der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires am 11. März 1921 geboren, doch andererseits waren seine Eltern italienische Einwanderer. Kaum war er vier Jahre alt übersiedelte die Familie nach New York und blieb dort mit kurzen Unterbrechungen bis 1936. Einerseits lateinamerikanische Wurzeln – andererseits verpflanzt in den Big Apple und zwar so erfolgreich, dass der Teenager sich eher als Amerikaner fühlte und Englisch weit besser sprach als Spanisch. „Cocoliche“ wurde dieses Pidgin Spanisch genannt, mit dem er zunächst nach der Rückkehr nach Argentinien Außenseiter war.
Aber bleiben wir noch ein bisschen mit der Familie in New York. Vater Vicente eröffnete einen Friseursalon und hatte Heimweh. Nein, nicht nach dem fernen Italien, sondern nach dem wenigstens etwas näheren Argentinien. Das Heimweh wurde am besten mit Musik genährt, mit dem klassischen argentinischen Tango. Die Platten liefen nach Feierabend und waren wohl das letzte, das Astor vor dem Einschlafen hörte. Für ihn war das bestenfalls Hintergrundgeräusch. Dass er musikalisch war, zeigte sich schon bei seinen ersten Klavierversuchen. Er begeisterte sich mehr für Bach, Schumann und wenn es moderner sein sollte, dann für Gershwin und Ellington. Nicht einmal der persönliche Kontakt zur damals schon lebenden Tango-Legende Carlos Gardel konnte daran etwas ändern. Auch nicht der Umstand, dass er bereits mit neun Jahren in einem Film von Gardel mitwirkte.
Vater Piazzolla schenkte dem Sohn schon mit acht Jahren ein Bandoneon, in der Hoffnung, dass dadurch der Tango-Funke überspringen möge und man im Hause Piazzolla nicht mehr von Platten abhängig war. Astor hoffte, in dem Karton die Rollerskates vorzufinden, die er sich damals gewünscht hat. Nach der ersten Enttäuschung lernte er sehr rasch auf dem neuen Instrument zu spielen. Schließlich eignete es sich nicht nur für Tango. Sein erster Lehrer war Andrés D’Aquila, der auch ein sehr guter Pianist war.
Für ein Kind ist das Bandoneon nicht leicht zu erlernen, die Tasten sind seitlich und können nicht gut gesehen werden. Man muss lernen zu fühlen, zunächst die Tasten und dann die Musik. Deswegen war es auch nur eine Frage der Zeit, bis Astor Piazzolla ganz im Tango aufging. Doch davor übte er wie besessen klassische Komponisten. Bach war in diesen Zeiten ein ganz besonderer Lehrmeister für ihn. Die meisten Bandeonisten spielen im Sitzen. Als Piazzolla zum Solisten wurde, entdeckte er für sich eine stehende Position, bei der er einen Fuß auf einem Block stehen hatte, um das Instrument am Knie abzustützen. So hatte er besseren Kontakt zu seinen Mitmusikern und zum Publikum. Piazzolla nannte seinen persönlichen Stil selbst „different from everyone. Not better or worse than Troilo or Federico. What no one has is my touch.”
1939 wurde Piazzolla Mitglied im Orchester von Anibal Troilo. Es zeugt vom Vertrauen in die Fähigkeiten, dass er schon bald Arrangements für das Orchester schreiben durfte. Etwas, das ihn Zeit seines Musikerlebens nicht ausließ: für neue Besetzungen auch neue Arrangements zu schreiben. Einerseits und andererseits waren auch in jener Zeit wieder zutreffend: Einerseits hatte er Blut geleckt am Erfolg mit einem Tangoorchester, andererseits lernte er Artur Rubinstein kennen und der Wunsch nach einer akademischen Laufbahn mit klassischem Kompositionsunterricht war nicht mehr zu verdrängen. Nach fünf Jahren als Orchestermitglied bei Anibal Troilo wechselte er zu Francisco Fiorentino, um schließlich 1946 sein erstes eigenes Orchester, das Orquestra Tipica, zu gründen. Etwa in dieser Zeit entstanden auch seine ersten Platteneinspielungen. Drei Jahre lang hatte er Erfolg mit seinem Orchester, bevor das Ensemble 1949 aufgelöst wurde.
In den 50er Jahren entstanden verschiedene orchestrale oder kammermusikalische Werke, wie die „Rapsodía porteña“, die Sinfonie Buenos Aires und die „Sinfonietta“. Das letzte Werk sollte wieder eine Wende in sein Leben bringen. Denn einerseits brachte sie ihm den nationalen Kritikerpreis ein und andererseits ein Stipendium für die Universität in Paris. Eine Chance, die Piazzolla sofort ergriff. Gemeinsam mit seiner damaligen Frau, einer Malerin, zog er nach Paris und nahm Unterricht bei der berühmten Komponistin, Pianistin, Dirigentin, Musiktheoretikerin und Pädagogin Nadia Boulanger. Diese Frau war eine künstlerische und pädagogische Ausnahmeerscheinung. Sie dirigierte bereits 1938 als erste Frau das Boston Symphony Orchestra. Mit 15 wurde sie stellvertretende Organistin für niemand Geringeren als Gabriel Fauré und mit 16 erhielt sie erste Preise in Orgel, Begleitung und Komposition.
Als Piazzolla Nadia Boulanger 1954 in Paris kennenlernt, war sie bereits arrivierte Professorin am Conservatoire Américain in Fontainebleau. Verständlich, dass Piazzolla sehr gut auswählte, welche Kompositionen er ihr bei ihrem ersten Vorspiel zeigte. Sie sah sich seine Partituren aufmerksam an, entdeckte Einflüsse einiger europäischer Komponisten wie Maurice Ravel, Igor Strawinsky, Béla Bartók und Paul Hindemith. Was sie jedoch vermisste, war etwas unverkennbar Eigenes. Piazzolla kam doch aus Argentinien, da ist doch der Tango zu Hause, ob er nicht so etwas vorspielen könnte?
Dieses Ansinnen war ihm zunächst gar nicht recht. Für den Porteño ist der Tango die Musik der Halbwelt, Piazzolla schämte sich dafür, dass er selbst in Bordellen und Spelunken gespielt hatte. Diese Musik sollte er nun der respekteinflößenden Kompositionspädagogin vorspielen? Einerseits hätte er das gerne vermieden, andererseits wollte er sie nicht enttäuschen, also spielte er am Klavier einen seiner Tangos und siehe da, Boulanger bestärkte ihn darin, sich dieser Art von Musik zu widmen, denn das sei der „echte Piazzolla“. Er vervollkommnete seine Studien mit weiterem Unterricht im Dirigieren bei Hermann Scherchen. Diese umfassende Ausbildung in Theorie und Praxis ist letztlich neben seinem Talent und Fleiß für seine weitere Entwicklung entscheidend.
Ein Jahr später, 1955, kehrte er – nun mit stolz erhobenem Haupt – nach Argentinien zurück und gründete das „Octeto Buenos Aires“, in dem zwei Bandoneons, zwei Violinen, und je ein Bass, Violoncello, Klavier und elektrische Gitarre vertreten waren. Mit dieser Besetzung konnte die Epoche des „Tango Nuevo“ beginnen, obwohl sie damals noch nicht so genannt wurde. Zu Piazzollas großer Enttäuschung wurde er für seine Weiterentwicklungen angefeindet. Es gab Zeiten, wo sich weder er noch seine Familie aus dem Haus wagten, so sehr fühlten sich die Argentinier von seiner Musik brüskiert.
Für Piazzolla unvorstellbar, Buenos Aires war ein Schmelztiegel verschiedener Menschen, Völker und Rassen und der Tango war die gemeinsame Ausdrucksform, in die alle aus ihren Heimatländern etwas einbrachten: Aus Osteuropa kamen Mazurka, Polka, Kujawiak, Obertas, Obererk, aus Frankreich die Quadrille, aus Chile der Zamacueca und aus Argentinien Chifra, Cielito und Zamba. Was ist falsch daran, wenn Piazzolla nun auch seine Einflüsse aus Amerika und Europa miteinbringt? Piazzolla ließ sich von der anfänglichen Abneigung seiner traditionsbewußten Landsleute nicht beirren und ging seinen weg konsequent weiter. Zunächst hatte er damit im Ausland Erfolg, was schließlich auch auf seine Heimat übergriff.
1960 gründete er zusätzlich ein Quintett, bestehend aus Violine, Gitarre, Klavier, Bass und dem weiterhin von ihm selbst gespielten Bandoneon. 1975 erfolgte die letzte Ensemblegründung, das „Octeto Electrónico“, in dem dann auch Sohn Daniel mitspielte.
Fleißiger Komponist unterschiedlicher Genres
In Summe sind es über 300 Tangos aus seiner Feder, für fast 50 Filme schrieb er die Musik und rund 40 Schallplatten spielte er mit unterschiedlichen Formationen ein. Bemerkenswert ist die „Tango-Operita“ namens „Maria de Buenos Aires“. Für dieses Werk vereinigte er so unterschiedliche musikalische Formen wie Fuge, Toccata und sogar geistliche Musik. Das gewohnte Agnus Dei wird hier zum „Tangus Dei“.
„Adios Nonino“ ist das Werk Piazzollas, das auch nicht erklärte Tango-Aficionados häufig kennen. Es ist besonders berührend aufgrund der verschiedenen Stile und nicht zuletzt durch seine Entstehungsgeschichte: „Adios Nonino“ ist das Abschiedslied an den verstorbenen Vater und wurde von Piazzolla in kürzester Zeit komponiert und für verschiedene Besetzungen arrangiert.
Man könnte jetzt zu dem Schluss kommen, dass dieser Piazzolla letztlich ein Musikbesessener war, der wenig Interessen für anderes aufbrachte. Mitnichten. Er war sogar sehr vielseitig interessiert und auch sehr belesen. Die literarischen Werke von Jorge Luis Borges und Horacio Ferrer hatten es ihm besonders angetan. Ferrer schrieb das Libretto zu dem musikalischen Drama mit Ballett „Los amantes de Buenos Aires“, das Piazzolla 1969 schrieb. Er initiierte auch genreübergreifende Projekte und einmal mehr machte sich der amerikanische Einfluss durch die Mischung von Tango mit Jazz bemerkbar. Für „Bandoneon“, ein Ballett von Pina Bausch, schrieb er die Musik.
Wenn er nicht komponiert, konzertiert er
Piazzollas live Konzerte sind legendär. Er erlaubte nicht nur sich, sondern allen beteiligten Musikerkollegen Improvisationen und so wurde kein Konzertabend wie der andere. Einige davon wurden auf YouTube verewigt. Trotz der zuweilen schlechten Bild- und für heutige Begriffe auch nicht perfekten akustischen Aufnahmequalität lohnt es allemal, sich wenigstens auf diese Weise einen original Piazzolla-Abend zu gönnen. Nicht nur Piazzolla selbst, auch zeitgenössische Musiker, die auf Piazzollas „Tango Nuevo“-Spuren wandeln und ihrerseits Weiterentwicklungen auf Basis seiner Schöpfungen kreieren, sind durchaus hörenswert.
Mittlerweile ist der Tango Nuevo auch aus den großen Konzerthäusern nicht mehr wegzudenken. Weitere Wegbereiter dazu waren und sind Daniel Barenboim, Yo-Yo Ma, Gidon Kremer, sowie das Kronos Quartett und die Assad Brothers.
Einerseits starb Astor Piazzolla am 4. Juli 1992, aber andererseits war sein musikalisches Leben bereits am 4. August 1990 beendet, denn an diesem Tag erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Piazzolla hatte keine Angst vor dem Tod, aber er fürchtete lange Krankheit. Umso schlimmer waren für den vormals rastlosen und stets energiegeladenen Ausnahmekünstler die letzten beiden Lebensjahre im Rollstuhl, ohne komponieren und ohne auftreten zu können.
Man formuliert gerne bei runden Jubiläen, das Geburtstagskind „hätte seinen 100. Geburtstag gefeiert“. Zeitgenossen und Wegbegleiter hätten so ein Alter für Piazzolla wohl nicht für möglich gehalten. Er glich einer Kerze, die an beiden Enden brannte und das Tag und Nacht. Was den Tango-Aficionados bleibt, ist sein umfassendes Oeuvre und seine Ermutigung an nachfolgende Musiker, ihren Weg zu suchen und wenn sie ihn gefunden haben, auch kompromisslos zu verfolgen.
Verwendete Literatur
Tango und Jazz: Kulturelle Wechselbeziehungen? Herausgegeben von Rainer Dollase, et.al.
Wikipedia, YouTube

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