Aufführungspraxis des Gregorianischen Chorals
von Mirko Rechnitzer
Aufführungs-praxis des Gregoria-nischen Chorals
von Mirko Rechnitzer
Zur Geschichte und Bandbreite der Aufführungspraxis des Gregorianischen Chorals
Der einstimmige, unbegleitete gregorianische Gesang kann anfangs ein wenig langweilig wirken: Selbst dann, als ich mich eingehender mit dieser Musik zu beschäftigen begann, blieb dann und wann der Eindruck der Trockenheit bestehen. Doch je mehr die Aufmerksamkeit für die melodischen Feinheiten und die expressiven Schattierungen dieser Musik wächst, desto mehr zieht sie in den Bann und kann uns in Zustände versetzen, die keinesfalls bloß „meditativ“ sein müssen.
Doch entgegen der landläufigen Meinung steht überhaupt nicht fest, dass der Gregorianik Mehrstimmigkeit und der Einsatz von Instrumenten fremd seien: Einige mittelalterliche Bildnisse liturgischen Gesanges zeigen Mönche mit Saiteninstrumenten, und die ältesten Funde mehrstimmiger Bearbeitungen sind so alt wie die ältesten Choralbücher mit Neumen. Sowohl instrumentale Begleitung als auch das Singen mit liegenden Bordunen oder in Quinten oder Quarten reichen möglicherweise bis in sehr frühe Zeiten der Choralpflege, noch vor der Verschriftlichung, zurück.
Doch nicht nur der Kreis dessen, was zur Stimme hinzugekommen sein kann, erscheint sehr weit; sondern auch was in der einzelnen Singstimme geschah, birgt spannende Fragen in sich. Die Entwicklung des gregorianischen Chorals und besonders des altrömischen Chorals, aus welchem er sich abgespalten hatte, geschah zu einer Zeit, als Westeuropa noch viel stärker von byzantinischer sowie antiker römischer und griechischer Kultur geprägt war. Zu einem gewissen Grad wird sich dies auch in der Art zu singen niedergeschlagen haben. Doch leider gibt es ja keine Aufnahmen und auch wenige Berichte.
Die historische Aufführungspraxis des gregorianischen Chorals in verschiedenen Jahrhunderten ist ein schwer erforschbares Feld. In vielerlei Hinsicht tappen wir im Dunkeln. Besonders die Experimente mit anderen Gesangstechniken stehen unter Kritik, weil von Praktiken bestehender folkloristischer Musik auf die Vergangenheit geschlossen wird. Demgegenüber sind die historischen Belege für Mehrstimmigkeit beim Choralgesang solider, doch bleibt auch hier das Verhältnis der Praxis zur Theorie ein unbekannter Faktor. Dennoch ist die Frage der Aufführungspraxis der Gregorianik ein spannendes Thema, und so soll in diesem Artikel ein kleiner Rundflug über theoretische Diskurse sowie über verschiedene Ensembles geboten werden.
Welche Hinweise gibt es innerhalb Westeuropas darauf, wie gregorianischer Choral gesungen wurde? Die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion historischer Singpraktiken für den Choral entsprechen den allgemeinen Problemen auf dem Gebiet der Erforschung historischer Gesangstechniken: Aus Ikonographien können keine Informationen mit der Eindeutigkeit wie im Falle der Instrumente gezogen werden: Denn in diesem Fall gelang es Instrumentenbauern zunehmend besser, Instrumente anhand historischer Zeichnungen zu bauen. Das so entstandene Stück physischer Zeitmaschine erlaubt, die andere Art wichtiger historischer Quellen, nämlich die Beschreibungen, mit größerer Sicherheit und Klarheit zu deuten.
Die Möglichkeiten der Analyse visueller Darstellungen singender Menschen und das Ausprobieren auf Grundlage solcher Zeugnisse liefern demgegenüber weniger eindeutige Ergebnisse. Die singenden Engel beispielsweise, die van Eyck für den Genter Altar (ca. 1432) schuf, wurden kontrovers diskutiert. Wie man einem Überblick in Reidemeisters „Historische Aufführungspraxis“ entnehmen kann, schwankten die Ansichten hin und her. Mal wurde behauptet, von den Gesichtszügen lasse sich eindeutig auf nasales, gedrücktes und „orientalisches“ Singen schließen; dann trat wieder ein Autor auf, der erklärte, mit dieser Mundstellung müsse keineswegs notgedrungen ein nasaler Gesang entstehen, sondern nur ein feinerer, beweglicherer Klang.
Fest steht, dass mit derartigen Gesichtszügen Klänge entstehen, die sich vom „klassischen“ Gesang unterscheiden; diese Klänge können jedoch sehr unterschiedlich sein. In Bezug auf die Ausführung von Madrigalen und anderer Kammermusik erwähnen Autoren wie Vicentino und Zarlino Merkmale wie den wenig geöffneten Mund oder die Zunge am Mundboden. Unterstützt werden soll damit ein zarter und geschmeidiger Klang mit einer klaren Transparenz für die Artikulation des Textes.

The Ghent Altarpiece: panel The Singing Angels, Jan Van Eyck; © Art in Flanders (www.artinflanders.be); Collection: Sint-Baafskathedraal Gent; Photographer: Hugo Maertens; CC4.0; Link zum Bild
Dass in diesem Fall mit dem Gesichtsausdruck keine „orientalischen“ Effekte verbunden sind, erscheint umso wahrscheinlicher, als es solche Abbildungen noch auf Bildern Hieronymus Boschs, also ein gutes Jahrhundert später, gibt, wo die Spuren östlicher Einflüsse auf die Gesangstechnik in Westeuropa doch schon abgeebbt sein dürften.
Doch wie sieht es mit dem gregorianischen Gesang aus, der schon Jahrhunderte früher praktiziert worden ist? Sollte hier auch ein Klang produziert worden sein, der nach Zarlino speziell für Kammern und kleine Räume, nicht aber für Kirchen zu verwenden ist? Wie schon erwähnt lassen sich mit der entsprechenden Kopfstellung ganz verschiedene Klänge erzeugen. Im Rahmen der Tutorien, die ich an der Universität in musikalischer Paläographie gebe, lernte ich eine junge Frau kennen, die als Kind deutscher Eltern in Georgien aufgewachsen war. In ihrer Kindheit und Jugend lernte sie dort Vokal- und Instrumentalmusik verschiedener Regionen kennen. Unter ihrer Anleitung konnte ich im georgischen Gesang auch einige praktische Erfahrungen sammeln.
Als wir gemeinsam die Darstellung von Sängern im Codex Chantilly (14. Jhd.) betrachteten, merkte sie an, dass dies für sie ganz natürlich aussehe. Auf diese Weise wird in Georgien mit wenig geöffnetem Mund gesungen, und die Muskulatur um die Augen herum zur Modulation des Klanges benutzt. Damit ist es möglich, ohne irgendwelche Anspannung ein breites Spektrum zu erzeugen, von zart, aber farbig bis hin zu sehr kernig und doch ausgewogen. Auch eine Dynamik um große Räume zu füllen stellt kein Problem dar – anders als es Forscher von der Gesangstechnik für Kammermusik im Italien der Renaissance behaupten.

aus dem Codex Chantilly; Werk ist gemeinfrei
Die folgenden Aufnahmen zeugen vom Facettenreichtum, den verschiedene georgische Sänger hervorbringen können.
In dieser Musica enchiriadis, einem Traktat aus dem 9. Jahrhundert, befindet sich eine Erklärung der Praxis des mehrstimmigen Singens mit Beispielen. Stimmen können in den Konsonanzen Quarte, Quinte, Oktave parallel laufen, aber auch Haltetöne können vorkommen. Mehrstimmigkeit wurde lange Zeit kaum notiert, weil sie eine Praxis darstellte, welche die Sänger zum gegebenen Gesang erzeugen konnten. Vor dem 13. Jahrhundert wurden mehrstimmige Fassungen nur selten notiert. Wenn zum Beispiel neue Gesänge für ein neues Heiligenfest eingeführt wurden, notierte man sie bisweilen gleich mehrstimmig. Äußerungen mittelalterlicher Autoren deuten indessen darauf hin, dass man die Mehrstimmigkeit als Zugabe zum Gesang, und nicht als dessen Bestandteil angesehen hatte.
In den nächsten Jahrhunderten entwickelten sich komplexere Improvisationstechniken, die in liturgischen Büchern oder im Anhang des Codex Calixtinus notiert sind. Dabei floriert eine Oberstimme über dem Choral, der in gedehnten Noten durch die untere Stimme vorgetragen wird. Auch im Magnus Liber Organi aus Paris um 1200 finden wir Bearbeitungen dieser Art. Mit dieser Art des sogenannten Organums ist jedoch die eigentliche mehrstimmige Choralaufführung bereits überschritten: Der Choral wird hier mehr und mehr zur Begleitung, zur Grundlage für eine neue Erfindung, die ins Rampenlicht rückt.
Werfen wir nun einen Blick auf verschiedene Aufnahmen diverser Ensembles und begeben uns zu Beginn in das Jahr 1930: Eine historische Aufnahme lässt uns den Gesang der Mönche von Solesmes hören. Es wird durchaus kräftig gesungen, zudem scheint beabsichtigt zu sein, die Stimmen verschmelzen zu lassen. Die Klangfarbe ist eher gleichmäßig, dynamische Kontraste werden stark markiert, wobei grundsätzlich das Steigen der Tonhöhe mit Lautstärke assoziiert wird. Bemerkenswert brachial klingt, zumindest in der Aufnahme, die Stelle „Venite et audite“. (1:53) Alle Töne werden gleichlang gesungen, Tonwiederholungen als Dehnung eines Tones gedeutet.
Im folgenden Video hören wir im Kontrast dazu eine spätere Aufnahme aus Solesmes. Hier wird mehr die Ästhetik einer hellen, klaren Stimme angestrebt. Es wird nicht mit ganzer Stimme gesungen, und die Stimmen erweisen sich als beweglicher. Man kann sich durchaus an die Beschreibungen von Zarlino und anderen erinnert fühlen. Die Bandbreite klanglicher Schattierungen ist größer als im ersten Video, doch im Allgemeinen ist der Klang nicht besonders kernig. Repetierte Noten scheinen auch hier zu einer zusammengerechnet zu werden, doch mir scheint, es werde immer dynamisch ein wenig differenziert, oder ein leichtes Beben gemacht.
Die nächsten Tonbeispiel stammt vom „Ensemble Binchois“ unter der Leitung von Dominique Vellard. Der französische Tenor und Dirigent scheint verschiedenes ausprobiert zu haben. Das erste Video bietet ab 0:54 eine mehrstimmige, ziemlich kernige Aufführung des Introitus „Gaudeamus“ in der Version für Mariä Himmelfahrt. Der Bass beschränkt sich auf einen beweglichen Bordun. Der Charakter der Darbietungen in diesem Video ist insgesamt würdevoll und gemessen. Interessant ist, dass auch Gesänge wie die Lesungen in die Interpretation mit einbezogen wurden (20:10). Das Album im zweiten Video präsentiert im Kontrast zum zuvor beschriebenen eine geschwindere und verschnörkeltere Interpretation. Bei 20:05 z. B. können wir dies auch einmal von Frauenstimmen vorgetragen hören.
Größere Bekanntheit erlangte das Ensemble Organum unter der Leitung von Marcel Pérès. Der Musikwissenschaftler und Kirchenmusiker zieht seine Ansätze unter anderem aus der Beschäftigung mit orthodoxer Kirchenmusik und korsischem Gesang (vgl. das dritte und vierte der folgenden Videos). Die Interpretationen des Ensembles heben sich durch mikrotonale Verzierungen von semiologisch ausgerichteten Ensembles ab. Hervorstechend gegen über anderen in diesem Artikel vorgestellten Gruppen ist jedoch besonders ihr sehr farbiger, fasst schon prolliger Stimmeinsatz. Das Ensemble experimentiert auch mit ungewöhnlichen Intonationssystemen. Ein Konzertgänger berichtete zum Beispiel davon, dass er von ihnen Gesänge im vierten Modus mit einer „orientalischer Terz“, d. h. einer Terz zwischen der gleichstufigen kleinen und großen, gehört habe. In meinen Ohren sind sie in der Darbietung anderer Choralstile vor und neben dem gregorianischen überzeugender; darauf liegt auch ihr Schwerpunkt.
Ein belgischer Sänger, der im YouTube-Kanal „Chant grégorien“ das Repertoire mit Noten vorstellt, möchte einen Mittelweg zwischen „Orientalisierung“ und „Romantisierung“ gehen. Er singt mit sehr ausgeprägten Schleifen in der Stimme, und einem sehr starken Vibrato. Ich finde die Verzierungen interessant, teile jedoch die Kritik am übermäßigen Vibrato. Das Vibrato war nicht nur in der europäischen Klassik noch bis ins 20. Jahrhundert hinein verpönt, wie Richard Bethell aufzeigte, sondern kommt auch in Traditionen wie in Indien kaum vor. Die Sänger klassischer indischer Musik verwenden eine Fülle mikrotonaler Bewegungen, und doch kommt nur eine Art der Verzierung, die in Südindien vorkommt, einem Vibrato entfernt nahe.
Als weitere Hörbeispiele für die Vielfalt der Gregorianik-Interpetration stelle ich an diese Stelle noch abschließend Aufnahmen vom „Egidius Kwartet & College“, der „Schola Nativitatis“, des „Ensemble Discantus“, des Youtubers „Brother Goodcraft“, dem Chor des Abbé Damien Poisblaud, dem „Ensemble Peregrina“, der Gruppe „Anonymous four“ sowie des „Ensemble Diabolus“. Auf manchen dieser Aufnahmen wird eine rekonstruierte franko-flämische Aussprache angewendet. Es freut mich sehr, mit diesem Artikel in den Reichtum der Gregorianik-Interpretationen eingeführt, und auf das Spannende dieses Themas aufmerksam gemacht zu haben.
Verwendete Literatur
Peter Reidemeister: Historische Aufführungspraxis, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1988, S. 82-84.
Richard Bethell: Vocal Traditions in Conflict, Peacock Press, 2019.