Alle Farben der Welt …

von Andrea Strobl

Büchergeschichten: Alle Farben der Welt …

„Hat nicht jeder Mensch ein Recht auf seine Geschichte! Es gibt nicht nur Könige und Königinnen, Primaballerinen und Zeitungsbesitzer, große Admiräle und Heeresführer. Wichtiger für die Welt sind die Sämänner, die Weber, die Grubenarbeiter, diejenigen, die die Stoppelfelder abbrennen, und die, die das Korn mahlen, die Arbeiter, die Prostituierten, die Frauen, die zwischen den Obsthecken umherschlendern, und die Zypressen, die im Abendrot erstrahlen. Sie alle sind es, die die Welt ausmachen.“

Manchmal fallen dem passionierten Leser unerwartete, kleine Kostbarkeiten in die Hände. So erging es mir mit der Erzählung  „Alle Farben der Welt“ von Giovanni Montanaro (*1983), einem jungen venezianischen Autor. Der Roman erschien im Original im Jahre 2012 und ein Jahr später in deutscher Übersetzung.

Manchmal interessieren mich in der Literatur auch die „kleinen“ Aspekte hinter den erzählten Geschichten. Wenn mir ein Buch ganz besonders gefällt, mache ich mich dann etwas auf Spurensuche. Deshalb möchte ich Ihnen diesen Roman hier kurz vorstellen:

Die Geschichte spielt um das Jahr 1881 im flandrischen Ort Geel. Das Waisenkind Teresa wächst bei einer Pflegefamilie auf. Um aber dort bleiben zu können und nicht in einem Waisenhaus leben zu müssen, erstellt der Dorfarzt ein gefälschtes Gutachten und erklärt die kleine Teresa kurzerhand als „verrückt“. Die Familie bekommt so den damals üblichen staatlichen Zuschuss für die Aufnahme einer psychisch Erkrankten, und ein Teil dieses Geldes sollte Teresa eine spätere Mitgift garantieren – dazu aber später Genaueres.

Das introvertierte Mädchen ist viel allein und von klein auf beeindruckt von den Farben der Natur in der ländlichen Umgebung des Dorfes Geel:

Als kleines Mädchen fragte ich mich oft: Wie kann denn ein brauner Baumstamm einen gelben Apfel hervorbringen? Wie kann ein grüner Strauch blaue Beeren tragen? Wozu gibt es so viele Farben?“

Vincent van Gogh, Nachtcafé, 1888, © Yale University Art Gallery, New Haven, USA

Eines Tages taucht im Ort ein rothaariger, etwas zerlumpter und ausgehungerter junger Mann auf, der für wenige Tage von Teresas Pflegeeltern beherbergt wird. Die sechzehnjährige Teresa fühlt sich sofort hingezogen zu diesem seltsam stillen jungen Mann, der niemand anderes als Vincent van Gogh ist. Während langer Spaziergänge in der Umgebung und durch zögerliche Gespräche fassen diese beiden gesellschaftlichen Außenseiter ein zaghaftes Zutrauen zueinander.

Als Vincent ihr schließlich eine seiner Zeichnungen zeigt, sagt Teresa:

„Ich finde, dass die Farben fehlen, Monsieur.[] Ich hatte Ihnen etwas völlig Simples gesagt, doch erst da wurde es Ihnen bewußt. Dass die Bäume grün und braun sind, die Mäuse rötlich grau, die Sterne gelb oder silbern, je nachdem, wie die Nacht ist; dass die Statuen weiß sind, solange sie nicht verwittern, und wieder weiß werden, wenn man sie säubert; dass die Flüsse schwarz sind, wenn sie rasch fließen, und dass manche Tage und manche Menschen mehr leuchten als andere; dass es rote Blätter und dunkle Blüten gibt und dass der Tod gelbgrün ist, denn alles hat seine Farbe. So existiert die Welt, Monsieur van Gogh, das ist ihre Sprache. An der Farbe erkennt man [] ob man glücklich oder traurig ist.“

Teresa schenkt Vincent daraufhin eine Leinwand, Pinsel, mehrere Farben und fordert ihn auf, endlich ein farbiges Bild zu malen. Es sollte das erste Mal sein, dass er mit Farben experimentiert, was ihn allerdings so aus der Bahn wirft, dass er in eine tiefe psychische Krise fällt. Als er sich nach ein paar Tagen davon erholt hat, verschwindet er spurlos …

Erst viele Jahre später sollte ihn Teresa wiedersehen, in der psychiatrischen Heilanstalt von Saint-Rémy-en-Provence, in die sie gegen ihren Willen eingeliefert worden war und er sich im Mai 1889 freiwillig hinbegeben hatte; er aber erkennt Teresa nicht mehr. Den Weitergang dieser traurig-schönen Geschichte und ihre überraschende Wendung am Ende verrate ich hier aber nicht …

Der kurze Roman ist in der Ich-Form geschrieben; genauer gesagt besteht er aus einem einzigen langen Brief, den die mittlerweile sechsundzwanzigjährige Teresa an Vincent van Gogh schreibt. Die Idee, für den Roman die reine Briefform zu wählen, erscheint gerade im Zusammenhang mit van Gogh nicht abwegig, denkt man an die unglaublich vielen Briefe, die der eifrige Schreiber allein seinem Bruder Theo geschrieben hat – insgesamt geht man heute von bis zu 2000 Briefen aus, die van Gogh in seinem kurzen Leben an diverse Adressaten geschrieben hat; vor allem sind die Briefe an Theo eine lesenswerte Lektüre.

Was hat es nun aber mit den „Farben der Welt“ auf sich, auf die der Titel des Buches verweist? Tatsächlich durchlief van Gogh in jenen Jahren eine Zeit der verzweifelten Selbstsuche. Noch war er weit davon entfernt, der zu werden, den wir heute aus den Museen der Welt kennen.

Vincent van Gogh, Selbstportrait mit Strohhut, CC0; © The Met Museum

Zu jener (fiktiven) Zeit in Geel hatte er bereits eine unglückliche Zeit als Laienprediger hinter sich, bevor er sich, mittlerweile siebenundzwanzig Jahre alt,  entschloss, Künstler zu werden. Am 3. September 1888 schreibt Vincent an Theo: „ Und in einem Bild möchte ich etwas Tröstliches sagen, wie Musik. Ich möchte Männer und Frauen mit diesem gewissen Ewigen malen, wofür früher der Heiligenschein das Symbol war, und das wir durch das Leuchten, durch das Zittern und Schwingen unserer Farben zu geben suchen.“

Und wie verbindet sich nun das bisher Gesagte mit der Farbe Gelb, die dem Buch in Form eines damals gängigen Kinderreimes als Motto vorangestellt ist:

 „Gelb, ja Gelb, ich weiß es nicht

Ob ich wiederseh dein Licht

Irgendwann kommst du in Sicht

Vielleicht auch nicht“.

Nun, zunächst einmal bedeutet der Ortsname Geel schlichtweg „Gelb“. Geel, das „gelbe Dorf“, war schon seit dem 13. Jahrhundert eine Pilgerstätte für psychisch Kranke und wurde später bekannt für ein beispielhaftes Integrationsmodell, das bis heute praktiziert wird. Psychisch Kranke wurden aus städtischen Einrichtungen auf Familien in Geel verteilt. Die Familien bekamen dafür eine staatliche Unterstützung, und stark Depressive und psychisch Kranke konnten so in einem normalen Umfeld leben, übernahmen bestimmte Aufgaben im Haus oder auf den Feldern, mussten nicht tatenlos in den furchtbaren psychiatrischen Einrichtungen des 19. Jahrhunderts vor sich hin vegetieren und fragwürdigen, oft grausamen „Heilungsmethoden“ jener frühen Jahre der Psychiatrie unterzogen werden.

In Geel hingegen konnten sie sich frei bewegen und wurden in das alltägliche ländliche Leben integriert, was zur ihrer Heilung beitragen sollte. Nachgewiesenermaßen erwog auch van Goghs Vater, seinen Sohn eine Zeit lang in dieses Dorf zu schicken, in der Hoffnung, es möge Vincents Psyche guttun. In seinem Nachwort zum Roman bemerkt Montanaro: „Bei meinen Recherchen konzentrierte ich mich unwillkürlich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, auf die Zeit also, in der die Hospitalisierung der Kranken (und von Menschen, die irrtümlich dafür gehalten wurden) einen grausamen Höhepunkt erreichte und in der Geel eine auch heute noch unglaubliche Ausnahme war.“

Kirche St. Dymphna in Geel; CC BY-NC-SA 2.0; © Karel Lavrijsen; https://www.flickr.com/photos/erfgoed/2481628014

Wie kam es aber zu dieser „Ausnahme“? Dem zugrunde liegt eine alte Legende um die Heilige Dymphna aus dem 7. Jahrhundert.  Sie war die Tochter des irischen Königs Damon, der nach dem Tode seiner geliebten Frau in eine tiefe Depression geriet. Um ihn psychisch wieder aufzurichten, empfohlen ihm seine Berater, so schnell wie möglich wieder zu heiraten. Er stimmte dem zu, sofern er eine Frau fände, die so schön wie seine verstorbene Frau wäre.

Und er fand sie – in Person seiner eigenen Tochter Dymphna, die er daraufhin so sehr begehrte, dass er sie unbedingt heiraten wollte. Dymphna entfloh jedoch den inzestuösen Nachstellungen ihres Vaters mit Hilfe eines Priesters nach Belgien. Ihr Vater spürte sie nach langem Suchen schließlich im flandrischen Geel auf, wo Dymphna Zuflucht vor dem mental verwirrten Vater fand.  Er aber tötete den Priester und enthauptete seine Tochter.  Soweit die Legende. Im Jahre 620 schon wurde Dymphna von der Kirche kanonisiert und gilt seitdem als Patronin der psychisch Kranken und der Opfer von Inzest.

Nach einigen Jahrhunderten wurde am vermuteten Ort ihrer Geeler Grabstätte eine Kirche errichtet, die schnell zum Wallfahrtsort für psychisch Kranke wurde. Bald schon entstanden erste Pilgerunterkünfte rund um die Kirche. Da mit den Jahren nicht alle dieser zunehmenden Pilgerschar in den kirchlichen Unterkünften Platz fanden, brachte man sie bei Familien im Dorf unter. War über die Jahrhunderte hinweg die Kirche zuständig für die Versorgung der psychisch Kranken gewesen, übernahm dann im Jahre 1852 der Staat die Verteilung und medizinische Betreuung der Kranken, was auch für den Roman keine unbedeutende Rolle spielt.

Aber noch einmal kurz zurück zu unserer Frage nach der Bedeutung der Farben, insbesondere der Farbe Gelb:

Im Februar 1888 kam van Gogh ins südfranzösische Arles und mietete dort wenig später Atelier und Wohnung – sein „Gelbes Haus“.  An seinen Bruder Theo schreibt er am 1. Mai 1888: „Ich hoffe, diesmal habe ich es gut getroffen, weißt Du – außen gelb, innen weiß, viel Sonne, endlich sehe ich meine Bilder mal in einem wirklich hellen Raum.“

Diese Reise in den Süden, mit seinem gleißenden, in der Mittagshitze flirrenden Licht, sollte ihm ganz neue künstlerische Inspirationen bescheren, wie wir heute an seinen Gemälden erkennen können.

Madame Roulin and Her Baby, 1888; © The Met; Link zum Bild

Aus dieser Zeit stammen einige seiner bekanntesten Gemälde, in denen der Betrachter u.a. all die Schattierungen der Farbe Gelb finden kann. In seinem Brief an den Bruder vom 13. August 1888 schreibt er:“Jetzt haben wir hier eine gewaltige Hitze ohne Wind, das ist etwas für mich. Eine Sonne, ein Licht, das ich mangels besserer Bezeichnungen nur gelb, blasses Schwefelgelb, blasses Zitronengelb nennen kann. Ach, schön ist das Gelb!“ Eine Unmenge von Bildern wird er in dieser Zeit erschaffen. Aber in diese Zeit fallen auch der erneute Ausbruch seiner Anfälle, seine Selbstverstümmelung und schließlich sein Entschluss, sich für eine begrenzte Zeit in die Heilanstalt von Saint-Rémy zu begeben – womit sich der Kreis zum Buch von Montanaro wieder schließt.

Vincent Van Gogh, Das Schlafzimmer, Arles, October 1889, Credit Line: Helen Birch Bartlett Memorial Collection; Reference Number: 1926.417: CC0; © Chicago Museum of Art; https://www.artic.edu/artworks/28560/the-bedroom

L’Arlésienne: Madame Joseph-Michel Ginoux (Marie Julien, 1848–1911); © The Met; Link zum Bild

Vincent van Gogh, Vincents Stuhl mit Pfeife, Arles, 1888; CC BY-NC-ND 4.0; © The National Gallery London; https://www.nationalgallery.org.uk/paintings/vincent-van-gogh-van-goghs-chair

Vincent van Gogh, Fünfzehn Sonnenblumen, 1888; CC BY-NC-ND 4.0; © The National Gallery London; https://www.nationalgallery.org.uk/paintings/vincent-van-gogh-sunflowers

 

Manche werden sich jetzt fragen, war all dies hier überhaupt einer Erwähnung wert? Nun,  das Buch von Montanaro auf jeden Fall – rein literarisch gesehen; aber auch die interessante Geschichte um den belgischen Ort Geel, die ich vor dem Lesen des Buches noch nicht kannte.

Aber so ergeht es dem Leser manchmal mit der Literatur.  Auch wenn man letztendlich keine Nachweise für einen kurzen Aufenthalt van Goghs in Geel findet; auch wenn van Gogh in Wirklichkeit von seinem Freund, dem niederländischen Maler Anton Mauve, zur Verwendung von Farben aufgefordert worden ist: Sie, Teresa, steht exemplarisch für so viele reale Fälle von auch fälschlich diagnostizierten psychisch Kranken, und er, Vincent, hat Zeit seines kurzen Lebens mit einer tatsächlichen psychischen Krankheit zu kämpfen gehabt.

Am Ende bleibt dem Leser dieses Buches die Erkenntnis, dass ein wirklich begabter Autor aufgrund von zwei zufälligen Informationen zwei Personen, eine reale und eine fiktive, in einer so wunderbaren Geschichte miteinander verwoben hat. Das ist dann oft Literatur „at its best.“ Und das Entscheidende: Es bleiben uns  „Alle Farben der Welt“, wie wir sie in van Goghs Bildern bis heute wiederfinden!

Das letzte Wort überlasse ich aber Teresa, als sie Vincent van Gogh in Saint-Rémy wieder erblickt:

„Man kann uns in Wannen mit kaltem Wasser stecken, uns die Mandeln und Zahnwurzeln herausreißen und uns mit den Fingern die Augen in die Höhlen drücken, um uns ruhigzustellen. Doch wir halten durch. Weil wir das Land der Farben erreicht haben und in diesen Bildern sind. In diesen Bildern sind Sie. Sie sind ein kleines Café, eine Heugarbe, eine Treppe, ein Granatapfel, eine Mühle, der Zweig eines Mandelbäumchens. Sie sind überall. Wenn Sie Gelb in sich haben, nimmt auch der Himmel diese Farbe an. Wenn Rot in Ihnen ist, überflutet das Rot eine Talebene, füllt Dächer und Holzschuhe und gelangt in die Augen der Frauen, in Baumstämme und in alle Handläufe der Häuser. Da sind Kühe in Hellblau, weil sie die stille Heiterkeit eines Sees haben, und da sind kleine, gelbe Häuser, unruhig und aufgeschreckt wie Wespen. Und da bin ich. Auch ich bin ein Stuhl, ein Boot, ein Mühlenflügel. Wir sind alle da. Geel ist da. All der sinnlose Schmerz ist da, dieser Schmerz, der uns vernichtet. Doch auch all die Hoffnung ist da, die noch sinnloser ist. Da sind wir, arme, verhinderte Wunder.“

Meine französischen Kulturgeschichten –

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Sommerfrische –

ein Buch der Leiermann-Autorinnen und -Autoren

Texte über den Sommer, wie er in vergangenen Zeiten verbracht wurde.

Post Scriptum

Dank schulde ich Georg Rode und seinem so interessanten Blog-Beitrag hier über Van Gogh: https://www.blog.der-leiermann.com/van-gogh-konnte-gar-nicht-malen/.  Sein Beitrag erinnerte mich beim Lesen wieder an das Buch von Montanaro!

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