Chagalls wunderbare Welt aus Glas
von Anja Weinberger
Ich liebe Kirchen. Ich könnte stundenlang in ihnen sitzen, durch ihre Seitenschiffe schlendern oder den Kopf in den Nacken legen, um in die Kuppel oder den Vierungsturm hinauf zu staunen.
Und da gibt es noch diese eine Besonderheit in vielen Kirchen – die Fenster. Manchmal sind sie natürlich einfach nur Fenster: durchsichtig, um Licht herein zu lassen, und dicht, um Kälte, Wind und Wetter draußen zu lassen. Manchmal sind sie aber auch herrliche, sehr alte Bildmalereien wie in der Kathedrale zu Chartres, die zum Glück Krieg und Irrsinn überstanden haben und uns aus ferner Zeit und von fremden, damals wichtigen Begebenheiten berichten.
Und manchmal sind sie eben Fenster mit Entwürfen Marc Chagalls.
Stehe ich vor diesen, dann werde ich immer ganz ruhig. Häufig herrscht die Farbe Blau vor, sodass die ganze nähere Umgebung des jeweiligen Fensters in ein himmlisches Licht getaucht wird. Chagalls Figuren erinnern oftmals an naive Kinderzeichnungen, dabei sind sie doch so erwachsen und tiefgründig.
In der Kathedrale von Reims zum Beispiel hat Chagall 1974 die drei Fenster der Scheitelkapelle des Ostchores geschaffen. Vom Chorumgang aus kann man die blauen Wunder sehr gut betrachten. Eine Zeit lang allerdings war eben dieser Chorumgang wegen Restaurierungsarbeiten nicht zugänglich und lediglich das mittlere der schönen Fenster war zu sehen, und dies auch nur aus relativ weiter Entfernung. Dennoch leuchtete die Geschichte Abrahams den weiten Weg bis zu mir; trotz des großen Abstandes konnte man die zarten Gelb-, Rosa- und Grüntöne in der unteren Hälfte gut wahrnehmen und die starken, roten Akzente im restlichen Fenster sowieso.
Noch ergreifender sind Chagalls Fenstergeschichten natürlich, wenn man direkt vor ihnen steht. Das linke der drei Fenster in Reims zeigt den Baum Jesse, also den Stammbaum Jesu Christi: Weich geschwungene Linien, blau-grüne Farbwolken – Salomon sitzt auf seinem Thron, König David musiziert, Maria hält ihr Söhnchen im Arm; die Köpfe sind nur angedeutet, und trotzdem meint man, den Gesichtsausdruck dieser Gestalten zu sehen. Über dem doppelten Lanzettfenster kündigen Propheten aus dem Alten Testament den Messias an, am feurigsten tut das Elias mit seinem rotflammenden Wagen. Und noch einmal darüber sehen wir den siebenarmigen Leuchter, der das Licht Israels symbolisieren soll.
So gar nicht zart, sondern eher vorwärtsstrebend in Erzählduktus und Farbgebung ist das rechte Doppelfenster. Hier führt uns Chagall durch die Geschichte der französischen Könige, die sich in der Nachfolge der Könige von Juda verstehen. Alle Grundfarben und noch mehr treffen aufeinander, das Geschehen belebt sich, die Welt wird zu unserer. In der oberen Rosette finden wir diesmal in altbewährter Einigkeit die vier Evangelisten aus dem Neuen Testament, in ihren gotischen Rahmen das Lamm Gottes umkreisend. Auch dieses Lamm badet in kräftiger roter Farbe, passend zu Elias ihm gegenüber. Der Bogen spannt sich wie von selbst zur Offenbarung des Johannes und seinem visionären, hoffnungsvollen Blick auf das Gute in der Welt.
Das mittlere der drei Doppelfenster ist dem Aufeinandertreffen der beiden großen Figuren des Alten und Neuen Testamentes gewidmet, Abraham und Christus. Wir sehen die bekannten Szenen – Abraham und die drei Engel, Abraham und Isaak, Jakob sieht im Traum die Himmelsleiter – und unser Blick wandert weiter zum Gekreuzigten, weiter zur Kreuzabnahme und noch weiter zur vielversprechenden Auferstehung. In der Rosette über diesem Bildprogramm sehen wir die Ausschüttung des Heiligen Geistes in warmem Grün. Nichts anderes wäre hier passend, nichts anderes könnte so sehr auf den Wunsch nach Frieden und Verständigung hinweisen
Bei seinem ersten Besuch in Reims 1957 hatte Chagall bereits den Glasmaler Charles Marq kennengelernt. Mit ihm gemeinsam konnte er in den Folgejahren die vielen großartigen Fenster auf der ganzen Welt schaffen.
Auch die in der Kathedrale von Metz. Die Fläche der Glasmalereien in diesem Steingebirge im äußersten Osten Frankreichs beträgt 6500m². Keine französische Kirche hat mehr zu bieten, und so heißt die Kathedrale Saint-Étienne im Volk auch »La lanterne du Bon Dieu«(Die Laterne des lieben Gottes). Hier muss man Chagalls Fenster suchen, drei an der Zahl sind es, denn in der schieren Menge und Vielfalt der Fenster des Metzer Kirchenbaus fällt unser Blick nicht ganz von selbst auf sie.
Ich erinnere mich kurz zurück an Reims – auch dort gibt es eine Vielzahl eindrucksvoller Fenster, v. a. die beiden Rosetten der Westfront dominieren die Kirche. Jedoch sind Chagalls Fenster im Reimser Chorumgang durch den ganzen, großen, gotischen Kirchenraum von diesen Aufmerksamkeit heischenden Rosen im Westen getrennt; und die drei blauen Schönen leuchten uns von ihrem ebenfalls zentralen Platz im Ostchor ausselbstbewusst entgegen.
In Metz sieht das ganz anders aus, herrliche Glasmalerei, soweit das Auge reicht, und Chagalls Kunstwerke sind durchaus dezentral »versteckt«. Doch dann, dann biegt man um eine Ecke und steht plötzlich vor einem Fenster, das scheinbar ganz aus Sonnenlicht besteht. Wir haben das Paradies gefunden oder, besser gesagt, Chagalls leuchtend gelbe Vision der Schöpfung Adams und Evas und deren Vertreibung aus demselben. Es ist nicht zu übersehen: Hier sind die Figuren viel deutlicher und genauer dargestellt als bei den Fenstern der Kathedrale von Reims, und man meint, das Geschehen auf den ersten Blick zu verstehen. Auf den zweiten Blick jedoch stellt man fest, dass Chagall hier wesentlich mehr Einzelheiten, Kleinigkeiten und Andeutungen im Bild untergebracht hat, die kaum verständlich sind, ohne die Geschichte und den Lebensweg des Künstlers ein wenig zu beleuchten.
Er, der 1887 geborene russisch-französische Jude, der seit dem Tod seiner ersten Frau Bella im Jahr 1944 noch mehr sehnsuchtsvolle Mutter-Kind-Figuren in sein Werk integrierte, der zwei Weltkriege, Pogrome und die Shoa überlebt hatte, der Gläubige und Menschenfreund, malte immer wieder Geschichten über Versöhnung, Liebe, Freiheit und göttlichen Schutz, der all dies erst ermöglicht. In Metz sind es neben den kraftvollen Hauptakteuren der Fenster die vielen Kleinigkeiten, die faszinieren. Hier das zärtliche Paar in der Mitte einer Blüte, dort die Haare Evas, die von grün im Paradies zu blau beim Kontakt mit der Schlange bis zu schwarz bei der Vertreibung aus dem Paradies changieren. Wunderbare, tiefsinnige und erzählkräftige Bilder.
Zwei weitere große Fenster hat Chagall für diese Kathedrale des Lichtes im Zentrum von Metz geschaffen. Sie erzählen uns schon bekannte Geschichten über Abraham und Jakob, aber auch Neues aus dem Chagall-Universum: Noah schickt eine Taube auf den Weg, Moses kniet vor dem brennenden Dornbusch und nimmt ein paar Schritte weiter die Gesetzestafeln in Empfang, Jeremia trauert um Jerusalem, und immer wieder dazwischen hält eine Frau ein Kind auf dem Arm.
Einen großartigen Vortrag habe ich vor Jahren über diese Bilder von Robert Fery gehört, Kanoniker in Metz und Chagall-Spezialist. Er kann wie kein anderer eben dieses Universum durchschreiten und dabei auch noch den allerletzten Zuhörer in Chagalls Bildwelten hineinziehen. (Im Video hier im Text kann man ihm auch zuhören.) Und er war es auch, der darauf hingewiesen hat, dass es hier in Metz noch viel mehr Chagall gibt, denn, noch eine Etage höher hat mein Lieblingsglasmaler acht schmale Fenster der Grundfarbe weiß mit einem ganzen Kosmos an Blumen, Vögeln und anderen Tieren und Tierchen erschaffen – eine eigene kleine Welt, leider recht schlecht zu sehen, voller Leben, Glück und Schönheit. Kaum jemand nimmt sie wahr, kaum jemand weiß überhaupt, dass dieses Chagall-Geschenk weit dort oben existiert. Wie schade! Alle Chagall-Fenster in der Kathedrale zu Metz sind zwischen 1959 und 1968 entstanden. Sie gehören also zu den frühen Fenster-Entwürfen des Ausnahmekünstlers. Lediglich die berühmten zwölf Fenster der Synagoge des Hadassah-Krankenhauses in Jerusalem sind ein wenig älter.
Übrigens, fährt man von Deutschland aus an ein Urlaubsziel im Westen oder Norden Frankreichs, so reihen sich bei der Anfahrt Chagalls Kirchenfenster auf wie die gläsernen Perlen einer Kette. Gleich nach der Grenze, nicht weit entfernt von Straßburg oder Saarbrücken, trifft man in Sarrebourg auf eines der größten und ungewöhnlichsten Fenster Marc Chagalls. Die Chapelle des Cordeliers ist nur noch ein Rest einer ehemals weitläufigen Anlage. 1970 wurde eine ganze Menge Baufälliges abgetragen und übrig blieb eine nach Osten offenstehende Kapelle. Man beauftragte Chagall mit dem Verschluss dieser Wunde, und so entstand zwischen 1974 und 1976 »La Paix« (Der Friede), dieser wunderschöne, zwölf Meter hohe und über sieben Meter breite Blumenstrauß.
Von hier aus ist es nicht sehr weit nach Metz und Reims. Und nach diesen Farb- und Gefühlsexplosionen steht einem Urlaub in der Normandie und der Bretagne nichts mehr im Wege. Oder aber man biegt nach Süden ab und besucht dort Saillant, wo eine Kapelle ausschließlich mit Fenstern von Chagall ausgestattet ist; oder Moissac, wo man in der berühmten romanischen Abtei Saint-Pierre ein besonders schlichtes Chagall-Fenster sehen kann, oder gar Nizza, wo Marc Chagall ein Museum gewidmet ist. Dort, im Süden Frankreichs, in dem kleinen Ort Saint-Paul-de-Vence ist der Maler Marc Chagall 1987 gestorben. Nur knappe drei Jahre später wäre er hundert geworden – ein langes Leben, das viel gesehen und viel geschenkt hat.
Dieser und viele andere Texte sind zu finden im Buch „Meine französischen Kulturgeschichten“ von Anja Weinberger, erschienen beim Leiermann in einer erweiterten Neuausgabe im Dezember 2022
Ein großartiges Buch über Marc Chagalls Glasfenster ist im Belser-Verlag erschienen. Leider kann man es nur noch im modernen Antiquariat erhalten.
Anja Weinberger im Leiermann-Verlag
Drei Bücher zu Musik und Kunst, voller Geschichte und Geschichten. Lesen Sie mehr über Coco Chanel, Marc Chagall, Friedrich den Großen, Misia Sert und so manch andere.



Dieses Kulturprojekt wird vollständig privat getragen. Daher sind wir auf Ihre Unterstützung angewiesen, um noch mehr Beiträge zur Kunst und Kultur Europas teilen zu können.