Clementina Hawarden
von Christian Schaller
Clementina Hawarden – die doppelte Pionierin.
Frühe Fotografie und früher Feminismus im viktorianischen London
Sie lassen sich heute in so gut wie jedem Haushalt auf der Welt finden, füllen ganze Alben, Wände und Regale von zahllosen Familien und sind dennoch jedes für sich persönlich und einzigartig: die Rede ist von Familienfotografien. Heute gelten diese Momentaufnahmen als selbstverständlich und alltäglich – und doch liegen ihre Ursprünge keine 200 Jahre zurück.
Sind die Erfindung und Verbreitung der Fotografie damals auf den ersten Blick nur eine weitere Errungenschaft im Kontext der Industriellen Revolution, eine riesige Innovation der Technik, welche die Welt besser als jemals zuvor festhalten, dokumentieren und erforschen kann, so weicht diese etwas starre, zeittypisch naturwissenschaftlich geprägte Sichtweise in den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten sichtlich auf. Zunehmend wird versucht, die Fotografie künstlerisch anzuwenden. Diese in kunsthistorischer Hinsicht bedeutende Strömung des sogenannten Pictorialismus trägt ab der Mitte des 19. Jahrhunderts besonders im viktorianischen England Früchte.
Waren die anfangs erwähnten Familienfotografien damals zumindest in der gesellschaftlichen Elite bereits üblich, so gingen gewisse Pioniere noch einen Schritt weiter. Lady Clementina Maude, die Viscountess Hawarden (1822-1865), war einer von ihnen. Sie verband in ihrem Sujet auf einzigartige Weise den ursprünglichen Zweck der Fotografie – etwas festzuhalten – mit den pictorialistischen Bestrebungen und nicht zuletzt mit der klassischen Familienfotografie. Sie strebte in den Bildern ihrer heranwachsenden Töchter nach dem Gleichen, was wir auch heute im 21. Jahrhundert noch damit bezwecken wollen – sie wollte Erinnerungen schaffen.
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Hawardens Werdegang und das nasse Kollodiumverfahren
Clementinas Jugend und auch die ersten 12 Jahre ihrer Ehe ermöglichten ihr nur ein bescheidenes, wenn auch glückliches Leben. Erst mit dem Tod ihres Schwiegervaters 1857 und dem damit verbundenen Erbe erhielt die Familie Titel und damit auch Wohlstand. Die junge Mutter hatte nun die nötige Muße, sich der Kunst und Fotografie zuzuwenden.
Als Aufnahmetechnik verwendete sie das zeittypische nasse Kollodiumverfahren. Bei diesem 1851 von F. S. Archer erfundenen Verfahren wird Kollodium, eine zähe Lösung aus Baumwolle, Salpetersäure, Ether und Alkohol, die sich gut als Schicht für lichtempfindliches Silbersalz eignet, auf Glasplatten aufgetragen. Bevor diese Schicht trocken ist, wird sie im Dunkeln noch in Silbernitrat getaucht. Nach einigen Minuten ist sie lichtempfindlich und wird feucht in den Plattenhalter der Kamera eingesetzt. Nun wird zügig fotografiert, entwickelt, fixiert, gewässert und schutzbeschichtet. Dieser relativ einfache chemische Prozess erhob das nasse Kollodiumverfahren für etwa 30 Jahre zum Standardverfahren.
Lady Hawardens frühe Werke zeigen hauptsächlich stereotype Landschaftsbilder mit wenigem Personal, die um ihren damaligen, irischen Landsitz herum entstanden. Hawardens eigentliches und mit fast 800 Aufnahmen sehr umfangreiches Hauptwerk entstand erst ab 1859, nach dem Umzug der Familie nach London, bis zu ihrem frühen Tod im Jahr 1864. Das neue Stadthaus der Familie lag in South Kensington, in dem in dieser Zeit zahlreiche neue Residenzen geschaffen wurden.
Hawardens Studio nebst angeschlossener Dunkelkammer lag im zweiten Stock ihres Stadthauses in South Kensington und zeigt sich auf den Aufnahmen stets minimal dekoriert und für viktorianische Standards ungewöhnlich leer. Es gibt keine festen Möbel oder Wandbehänge, nur eine geringe Anzahl an gleichbleibenden Requisiten, wie den Stuhl und den Spiegel, welche Hawarden von Foto zu Foto beliebig auswählte und positionierte.
Ihr spätes Werk umschließt hauptsächlich ihre heranwachsenden Töchter, jedoch in einer für die privaten, viktorianischen Familienalben der Oberschicht sehr untypischen und mehrdeutigen Darstellungsweise. Die Fotografie bot Hawarden ein Medium, mit dem sie gleichzeitig idealisieren, romantisieren, suggerieren und evozieren, aber eben auch – da die Modelle meistens ihre Töchter waren – das häusliche Leben dokumentieren und aufzeichnen konnte. In Hawardens Werk lassen sich scheinbare Symbole, Metaphern und Stilelemente festmachen, mit denen sie sehr subtil experimentierte.
Hawardens Töchter spielen Rollen, Szenen und Attitüden, doch nie ist etwas explizit und offensichtlich dargestellt. Hawarden weicht auf den ersten Blick einer künstlerischen Transparenz aus, fast im Sinne der modernen Kunst. Dennoch behandelt sie mit ihren Bildinhalten sehr universelle Themen wie die naheliegende Flucht aus dem Alltag, aber auch den feinsinnigen Ausdruck von Intimität, Gefühlen und Weiblichkeit. Dies lässt Hawardens Bilder weit über den Status profaner Abzüge für ein Familienalbum aufsteigen.

Allgemein spielen bewegte und unbewegte Formen eine Rolle, ebenso wie konvergente und diagonale Schatten, die das Gefühl von Raum und Tiefe betonen und den Bildern zuweilen eine dramatische Spannung verliehen. Die Kleidung der jungen Frauen wird immer mehr zur Verkleidung und fungiert fast schon als architektonisches Element – das Licht und der Faltenwurf erzeugen Drama und Dynamik.
Hawarden beherrschte die fotografische Technik virtuos, sie besaß jedoch auch tiefergehende kunsthistorische Kenntnisse. Im mittleren viktorianischen Zeitalter um 1860 herrschte in Großbritannien die Idee der narrative photography vor – mit der fotografischen Technik sollten Geschichten erzählt und damit auch Werte vermittelt werden. Doch dieser Haltung scheint Hawarden nicht wirklich zu folgen. Einige Aufnahmen von ihr erinnern durchaus an zeitgenössische Tableaux, wie die Darstellung von Maria Stuart, einer Brautwerbung oder auch die allegorische Visualisierung des siegreichen Christentums, das über dem darniederliegenden Heidentum triumphiert.
Klare Hinweise auf eine tiefergehende Narrative bieten sich jedoch kaum. Viele Bilder bleiben deshalb rätselhaft, unbestimmt und mehrdeutig. Tatsächlich lassen sich einige ihrer Fotografien sogar mit den mittelviktorianischen subject pictures vergleichen, deren Tradition bis zu der niederländisch-flämischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts zurückreicht und auf den ersten Blick ein subject – ein Thema, eine zugrunde liegende Anekdote – eben missen lässt.
Trotzdem stehen Hawardens Bilder nicht in der Tradition der typischen Genremalerei des Viktorianismus, denn gerade die offenbar fehlende oder zumindest uneindeutige Narrative lädt zu einer kunsthistorischen Interpretation ein. Wie bereits erwähnt, betitelte und datierte Hawarden ihre Bilder nicht. Im Zuge der beiden öffentlichen Ausstellungen, an denen sie zeitlebens teilnahm, nannte sie ihre Fotografien jedoch „studies from life“ oder „photographic studies“. Diese Begriffe waren generisch und zeittypisch und kopierten den künstlerischen Begriff der „Studie“, der Darstellung einer Idee oder eines Konzepts – was wiederum das Streben der viktorianischen Fotografen hervorhob, ein anerkannter Teil der hohen Künste zu sein.
In Hawardens Zusatz „from life“ mag zudem ein realistischer Anspruch mitschwingen, der eine kunsthistorische Lesung ihrer Werke zu negieren scheint. Auch zeitgenössische Kritiker bewerteten an Hawarden, aber beispielsweise auch an ihrer Zeitgenossin Julia Margaret Cameron, nur formelle, ästhetische und technische Qualitäten – sie scheinen nicht „gelesen“ worden zu sein.
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Die Stellung der Fotografie und der Kunst im London der 1860er Jahren
Stand die Fotografie in den Jahren nach ihrer Erfindung noch unter dem Nimbus des technischen Fortschritts, so sorgte in der Folgezeit ein reges Experimentieren mit dem neuen Medium dafür, dass es sich vom naturwissenschaftlichen Aspekt des reinen Dokumentierens entfernte. Fotografie begann, von der Malerei, dem Theater und den beliebten tableaux vivants beeinflusst zu werden. Die Darstellung von historischen, mythologisch-biblischen, literarischen und allegorischen Figuren war bereits typisch für die viktorianische Ära und nun begann auch die Fotografie, Emotionen darzustellen und gleichsam zu erregen.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich nämlich die grundsätzliche Frage, ob die Fotografie beispielsweise im Rahmen von sittlichen oder emotionalen Szenen, aber auch im Bereich der Porträtfotografie, als wahrheitsabbildendes Medium angesehen werden konnte. Kritisiert wurde dabei die bewusste und unbewusste Selbstdarstellung, also die Schaffung eines theatralisch-inszenierten Moments. Die frühe Fotografie nahm sich nämlich Anleihen aus der Porträtmalerei, die das ambivalente Problem des „Stillstehens“ und gleichzeitigen „Lebeneinfangens“ bereits kannte und konventionalisierte, stereotype Posen entwickelt hatte.
Neben dieser Kontroverse war jedoch vor allem das Element der dargestellten Fiktion wichtig. Durch die Blüte des Laientheaters im 19. Jahrhundert wurde das Rollenspiel in Form des tableau vivant an sich sehr beliebt. Diese „lebendigen Bilder“ bezeichneten die Nachstellung von Werken der Malerei und Plastik, aber auch von Ereignissen und Alltagsleben durch entsprechend verkleidete Menschen und Requisiten. Dies konnte die Darstellung von Märchen ebenso umfassen wie Shakespeare-Szenen oder tatsächliche historische Epochen. Das bot der viktorianischen Gesellschaft im Rahmen einer Freizeitaktivität die Möglichkeit, die eigene Identität zu wechseln und mit starren Geschlechterrollen fast schon zu spielen.
Solche Grenzüberschreitungen waren nur im Rahmen einer imaginären Welt möglich. Die Fotografie begann nun auch, solche fiktionalisierten Welten darzustellen und mehr noch: Sie nahm im fortschreitenden 19. Jahrhundert regelrecht den Kampf gegen die gängige Kunstauffassung auf und versuchte sich als anerkannte und virtuose Form künstlerischen Ausdrucks zu etablieren. Die Stellung der Fotografie war zu Hawardens Lebzeiten noch hoch umstritten.

Die Kunst galt im beginnenden viktorianischen Zeitalter als ernstzunehmender Ausdruck nationaler Identität, der fest im Alltag verankert war. Kunst war Ware und Statussymbol. Ein ernster Ton, eine klare Narrative, ein mildes Pathos und Drama wurden kombiniert, damit die Bilder gleichzeitig bewegten und belehrten – sanfte Gefühle und ein moralisches Gewicht vermittelten in Bildform nationale und soziale Wertvorstellungen.
Dies änderte sich im Lauf des Viktorianismus jedoch. Romantische als auch klassizistische Elemente untermauerten auf den ersten Blick zwar die idealisierte Darstellung in den Künsten, schlugen jedoch grundverschiedene Wege ein. In der Mitte des Jahrhunderts wurde es in der Kunst und Literatur zudem beliebt, die wahre Welt und ihre sozialen Milieus ungeschönt abzubilden. Die „art for art“-These, die Freude an der reinen, schönen Form fügte sich dem hinzu. Zusammenfassend lässt sich für die britische Kunst des 19. Jahrhunderts also das Nebeneinander von Idealismus, Realismus und Ästhetizismus feststellen.
Im Zuge des gothic revival und des starken Kontakts zu den britischen Kolonien etablierten sich zudem die Neogotik und der Orientalismus. Hawarden war wohl all diesen Strömungen, dem Wandel und dem Bruch in der Beziehung zwischen der Kunst und der Gesellschaft ausgesetzt und war gewiss auch versucht, Elemente dieser mannigfaltigen, wenn auch grundverschiedenen Strömungen in das neue fotografische Medium zu transformieren.
Pubertät und Weiblichkeit im Kontext von Sexualisierung und Feminismus
Obwohl Hawardens künstlerische Ausdrucksform im Kern viktorianisch ist, bildete sie trotzdem auf innovative Weise für die Kunstfotografie neue Stimmungen ab – mit der Lichtführung, aber vor allem mit den romantischen Elementen und der mehrdeutigen Sinnlichkeit, die sie in ihren Werken verbarg. Aus heutiger Sicht, besonders in Anbetracht der beinahe klischeehaft gewordenen viktorianischen Prüderie, liegt in den Bildern nämlich eine gewisse aufreizende Präsentation. Sie strahlen eine subtile Sexualisierung aus. Diese wurde von den Zeitgenossen allerdings nur sehr vermindert wahrgenommen, die Besucher der Photographic Society schienen zu wissen, dass es sich um die Töchter einer angesehenen Dame der Londoner Oberschicht handelt. Auffallend ist hierbei die Intensität im Ausdruck zwischen zwei Frauen, seien nun tatsächlich zwei Töchter im Bild dargestellt oder auch nur ein Mädchen, das ihre Reflektion im Spiegelbild betrachtet.
Der bereits angesprochene Spiegel spielt auch bei der Sexualisierung eine Rolle. Der Kunsthistorikerin Carol Mavor zufolge steht dieser stellvertretend für den weiblichen Narzissmus, den sie psychoanalytisch auch mit Auto-Erotizismus verbindet. Damit spielt sie auf die psychologische Verbundenheit der Mutter zu ihren Töchtern an. Hawarden sah demnach ihre Kinder als ihre eigene Vervielfältigung, als Bild oder Fotografie ihrer Selbst. So kann der Spiegel als direktes Symbol für die Mutter stehen, die in ihren Töchtern gespiegelt wird. Dies lässt sich auch auf die Fotografie an sich übertragen: Das Lichtbild der Töchter ist eine Reproduktion – so wie das Foto ein Abzug ist, ist die Frau ein Abzug der universalen Weiblichkeit, die Tochter ein Abzug der Mutter. Mavor sieht die puppenhaft inszenierten Töchter in ihren unschuldig hellen oder auch modischen Kleidern sogar als Erweiterung von Hawardens Fetisch, ihrer Kollektion „hübscher Dinge“, der variierenden Requisiten und getragenen Kostüme. Hawarden ermächtigt sich so symbolisch ihres Haushaltes. Ihr Werk kann demnach introspektiv, sprich selbstbeobachtend, gesehen werden.
Zusammengefasst sind die wichtigsten, fast schon minimalistisch anmutenden Komponenten in Hawardens späterem Sujet also das Licht und der Raum, neben einigen Requisiten vor allem das Fenster und der Spiegel sowie die junge Frau, meist in hellen Farben gewandet. Eine uneindeutige, enigmatische Narrative und eine subtile Erotik und Sexualisierung lassen zudem Fragen darüber aufkommen, inwiefern sich die Kunst einerseits und die Weiblichkeit andererseits in der viktorianischen Gesellschaft positionierten. Die Darstellung der Frau rekurrierte im Kontext der zuvor erwähnten tableaux vivants oft auf Attitüden und war so meist mit einer Zurschaustellung von Ideal, Schönheit und Anmut verbunden. Bei der Darstellung des Weiblichen kam es dadurch zu einer kontroversen Wechselwirkung von bürgerlicher Ethik, Ästhetik sowie auch Erotik.
Die Rolle der Frau in der Kunst spiegelte sich damit in ihrer gesellschaftlichen Stellung. Es wurde im viktorianischen England strikt unterschieden zwischen dem öffentlichen und dem privaten, familiären Bereich. Diese bürgerliche Ideologie der zwei Sphären stilisierte das weibliche Geschlecht zum kulturellen Mythos der tugendhaften Hausfrau. Die offiziell patriarchalisch geprägte Geschlechterideologie führte zu der konventionalisierten Darstellung der Frau als Repräsentation betreibendes und Schönheit verkörperndes visuelles Spektakel und begehrenswertes Objekt unter dem voyeuristischen Blick des männlichen Subjekts. Dennoch fand in gewisser Weise auch eine zweifache Kodierung der Weiblichkeit statt: In der viktorianischen Stereotypisierung der Frau steckte eine gewisse bedrohliche Ambivalenz, welche subtil die soziale und moralische Überlegenheit der Frau gegenüber dem Mann implizierte.
Die viktorianische Politik war im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts noch stark restriktiv und konservativ, die Frau als Eigentum des Mannes war tatsächlich ausschließlich auf das häusliche Leben beschränkt. Dies lockerte sich in der Folgezeit allmählich auf. Der schon länger schwelende Kampf um die Gleichberechtigung der Frau in physikalischer, moralischer und zivilistischer Hinsicht sowie die damit verwandte Diskussion über Emanzipation und Geschlechterrollen erreichte bis zu den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, während Hawardens Schaffensphase, einen neuen Höhepunkt und war bis weit nach dem Ende der viktorianischen Zeit ein wichtiges, kontrovers behandeltes Thema – nicht nur in der britischen Gesellschaft.

Bereits in Hawardens Zeit gab es zu der gängigen Ideologie eine deutliche Opposition in London. Eine Ausprägung dieser war beispielsweise die Female School of Art, die Hawarden auch aktiv unterstützte. Somit kann Clementina Maudes Werk auch durchaus als Kompromiss aufgefasst werden. Sie fotografierte hauptsächlich ihre Töchter in ihrem Haushalt, alles innerhalb ihres gesellschaftlich definierten Reiches. Dieser Einhaltung der Konventionen steht die emanzipierte Tätigkeit des Kunstschaffens gegenüber, denn Hawarden fügt sich nur scheinbar in die häusliche Idylle – ganz im Gegenteil. Der Raum ihres Stadthauses, halb Salon, halb Studio, ist luftig leer und lichtdurchflutet, fast schon eine Antithese zum typisch viktorianischen Interieur, das dem Prinzip des horror vacui zu folgen schien. Ebenso wie das häusliche Leben war auch die Erziehung der Kinder etwas sehr Privates. Der Vorgang des jugendlichen Heranwachsens und der Pubertät waren in der viktorianischen Epoche ein sehr problematisches, oft verschwiegenes Thema.
Hawardens angesprochene, zunehmend sexualisierte und erotische Darstellung ihrer Töchter kontrastiert diese Auffassung und steht zudem einem historischen Ereignis aus dem Jahr 1861 gegenüber, welches direkt in Hawardens Schaffensphase fällt. Der sogenannte Offences Against the Person Act hob damals unter anderem das Schutzalter, also den Rand der Adoleszenz und damit des heiratsfähigen Alters, von zehn auf 12 Lebensjahre. Offiziell gab es den kontrovers diskutierten Begriff der Pubertät, den Übergang zwischen Kind und Erwachsenem, im viktorianischen Zeitalter nicht. Das Kind galt als geschlechtslos, unschuldig und schutzbedürftig, es war ein vermeintliches Geschlecht ohne Geschlecht. Die Pubertät als Wandel dieser verklärt „reinen“ Form erhielt in der Gesellschaft allerdings selten Aufmerksamkeit.
Der enigmatische Eindruck, den dieser Prozess des Heranwachsens auf die Gesellschaft machte, wurde dadurch teilweise sowie sehr subtil und indirekt in der zeitgenössischen Literatur kompensiert. In viktorianischer Zeit beliebte Märchen, die Transformationen und Metamorphosen behandeln, wie beispielsweise „Aschenputtel“ oder „Die Schöne und das Biest“, können symbolisch für den mysteriösen, schwer greifbaren Begriff des Erwachsenwerdens stehen. Auch Autorinnen wie Jane Austen (1775-1817) mit „Stolz und Vorurteil“ oder Charlotte Brontë (1816-1855) mit „Jane Eyre“ ließen ihre jungen Heldinnen einen psychischen Reifeprozess vollziehen, eine Persönlichkeit entwickeln und letztendlich ihre Weiblichkeit, ihr männliches Gegenüber, aber auch die Sexualität an sich akzeptieren.
Zusammenfassend boten sich Hawarden also zahlreiche Vorformen und eine umfassende Ansammlung an verwendbarer Ikonographie. Allein die in der Schauspielkunst kodifizierte Attitüde als Ausdruck des Weiblichen bot die Zurschaustellung von leidenschaftlichen Gefühlen und Anmut. Doch sie ging weiter: Hawarden zeigte die Undefinierbarkeit und Zerbrechlichkeit der Jugend. Allerdings lässt sie die direkte Thematisierung der problematischen Pubertät visuell außen vor. Obwohl die Mädchen oft einen ernsten Blick tragen, so entbehren Hawardens Fotografien doch meist eines heftigen negativen Gefühls. Die Schwestern präsentieren Eindrücke von Schönheit, Verspieltheit, aber auch Selbstbewusstsein und durch die häufig dezent aufreizende Aufmachung und die dargestellte Verbundenheit der jungen Frauen auch eine subtile Erotik. Für typisch pubertäre Empfindungen wie geschwisterlichen Neid oder Wut ist allerdings kein Platz. Dennoch – und das legen die teilweise entblößten Frauen sowie die Intimität und Erotik mancher Bilder nahe – geschieht diese beschönigende Darstellung des Heranwachsens nicht nur auf konventionelle Weise.

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Fazit
Clementina Hawarden kann abschließend als eine Art Übergangsfigur des 19. Jahrhunderts zwischen den ersten, aristokratischen Amateurfotografen der vierziger Jahre und den professionellen Kunstfotografen der sechziger Jahre gesehen werden.
Der Einsatz von Licht, Schatten, Verkleidungen und Requisiten bescheinigen Hawarden zusammenfassend tiefergehende Kenntnisse sowohl in der fotografischen Technik als auch in der Kunstgeschichte, derer sie sich bei ihren Werken bediente. Die Mehrdeutigkeit ihrer Bilder, ihre scheinbare Narrative und der Einsatz von symbolträchtigen Gegenständen wie dem Spiegel oder dem Fenster lassen viel offenen Raum für Interpretationen. Dennoch thematisiert sie ohne Zweifel kontroverse Themen wie ihre heranwachsenden Töchter, deren Pubertät, Weiblichkeit und Erotik sowie ihre Rolle als Frau im viktorianischen Kontrast zwischen Innen- und Außenwelt.
Ihr Werk war beeinflusst von der Porträt- und Genremalerei, sollte jedoch unbedingt davon abgehoben werden. Hawarden wollte die Realität – ihre Töchter – gewiss auch dokumentieren, aber gleichzeitig die Möglichkeiten der neuen Kunst des Lichtbilds unkonventionell ausloten, was ihr späteres Werk fast schon wie experimentelle Fotografie anmuten lässt.
So offenbart sich Lady Clementina Hawarden als zweifache Pionierin, als doppelte Wegbereiterin. Auf der einen Seite steht sie in der Tradition der britischen Kunst, in der Tradition einer romantischen Auffassung der Welt im sich stetig wandelnden 19. Jahrhundert, dem starren viktorianischen Zeitalter und der Epoche der wechselhaften Industriellen Revolution. Als Pionierin der Fotografie steht sie zwischen den Amateuren der ersten Jahre und den professionellen Kunstfotografen gegen Ende des Millenniums, als eine Vorkämpferin für die noch junge Technik des Lichtbildes, die sich in der Mitte des Jahrhunderts noch als anerkanntes künstlerisches Ausdrucksmittel zu etablieren versuchte. Auf der anderen Seite war sie eine Frau, eine viktorianische Dame, gebunden an Heim und Kinder. Ihre Werke waren Familienfotografien, gedacht für ein häusliches Album, wie es zahllose bürgerliche Familien pflegten, damals wie heute noch. Doch sie ging dabei noch viel weiter und ebnete den Weg für zukünftige Fotografen. Zusammenfassend mag es wohl einige Vergleiche, Bezugspunkte und Parallelen zwischen Hawarden und zeitgenössischen Fotografen, wie Julia Margaret Cameron, und späteren Fotografen, wie zum Beispiel Cindy Sherman und Sally Mann, geben.
Allerdings gibt es neben Ähnlichkeiten in der Darstellung und Hawardens Status als Vorbild in ihrer Funktion als Pionierin der Fotografie vor allem einen Punkt, der sie bis in die heutige Zeit so interessant und attraktiv macht: die Darstellung der Pubertät und des Heranwachsens, vor allem aber der Weiblichkeit an sich – in ihrer ganz eigenen Sichtweise und im Spiegel der viktorianischen Auffassung des weiblichen Geschlechts. Ihre „studies from life“ waren letztendlich genau das – Studien aus dem Leben. Sie fing das Heranwachsen ihrer Kinder, das Leben an sich, ein und formulierte mittels ihrer künstlerischen Expertise und Aussagekraft zudem eine dem Fotografierten innewohnende Idee, ein Konzept – im Sinne des künstlerischen Begriffs der Studie und der Skizze. Sie fing einen Moment, eine Erfahrung, eine Empfindung des Lebens ein.
Verwendete Literatur
- Bartram, Michael: The Pre-Raphaelite camera. Aspects of Victorian photography. London 1985.
- Dodier, Virginia: Clementina, Lady Hawarden. Studies from life 1857-1864. New York 1999.
- Jooss, Birgit: Tableaux und Attitüden als Inspirationsquelle inszenierter Fotografie im 19. Jahrhundert. In: Rollenspiele – Rollenbilder. Hrsg. von Toni Stooss. München 2011.
- Lawson, Julie: Women in white. Photographs by Clementina Lady Hawarden. (Ausstellungskatalog Scottish National Portrait Gallery, Edinburgh 1997). Edinburgh 1997.
- Mavor, Carol: ´In Which the Story Pauses a Little´: Clementina, Viscountess Hawarden´s Home as Camera Box. In: Symbolic imprints. Essays on photography and visual culture. Hrsg. von Lars Kiel Bertelsen. Aarhus 1999.