Alirio Díaz

von Thomas Stiegler

Im Hochland von Carora konnte man bis vor einigen Jahren einen Mann beobachten, der im Morgengrauen auf den Feldern stand und dem Gesang der Vögel lauschte. Ein einsamer Mensch vielleicht, der auf das Wehen eines Blattes sah oder dem Flug des Kondors folgte und der um sich eine Mauer des Schweigens schuf, die niemand zu durchbrechen wagte. Von Weitem glaubte man einen einfachen Bauern zu sehen, der, zufrieden mit sich selbst, Gottes schöne Natur betrachtete und auf ein ruhiges Alter im Kreise seiner Enkel sah. Erst aus der Nähe bemerkte man, dass hier ein Fremdling stand, ein Weitgereister aus einer fremden Welt.

Die Anwohner ließen ihn in Ruhe, denn sie wussten, wer er war. Einer der ihren, vom gleichen Blut wie sie, der sich aufgemacht hatte, die Welt da draußen zu erobern. Und der trotzdem immer wiederkehrte, auf diesen Fleck, der seine Heimat war. Es war Alirio Diaz, der blendende Virtuose, einer der großen Interpreten des 20. Jahrhunderts, dessen Spiel sich vollkommen von dem seiner Zeitgenossen unterschied und der vielen als »Horowitz der Gitarre« galt. Wer ihn einmal auf dem Weg zur Bühne gesehen hatte, mit seinem wiegenden Schritt, der dem eines urtümlichen Bauern glich, der war überrascht von einem Spiel, in dem sich die urtümliche Kraft seiner Heimat mit einer Noblesse vereinte, die selten ist auf diesem Instrument.

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Wer aber war er, der von sich selber sagte, dass er aus der Stille kam? Und der immer wieder in die Stille flüchtete, an die Orte seiner Kindheit? Wer war dieser Mann, und wo liegt der Ort, an dem sein Leben begann? Begeben wir uns gemeinsam auf eine Reise, eine Reise zu seinen Wurzeln in den Nordwesten Venezuelas. Doch Vorsicht – es braucht Mut und Ausdauer, um bis nach La Candelaria vorzudringen. Vor allem aber braucht es eine gute Straßenkarte, ein Auto mit starken Stoßdämpfern und einige Flaschen kalten Wassers. Denn auch heute noch ist es ein Abenteuer, dieser Straße zu folgen, an deren Ende den Reisenden nur ein kleines Dorf erwartet, das sich trotzig gegen den Lauf der Welt zu stemmen scheint. An einem stillen Ort, einem Ort, von dem selbst die Einheimischen sagen, dass hier sogar die Ziegen verrückt werden, weil schon deren Urgroßeltern die letzten Blätter von den Bäumen gefressen haben. Und trotzdem ist es ein Ort, der den Menschen eine Heimat gibt. Ein Ort, an dem sie ihre Kinder gebären, sie aufziehen und dann in die Welt entlassen, während sie selbst immer älter werden und schließlich sterben.

Genau so, wie es auch Alirio Diaz vorherbestimmt schien, der hier am 12. November 1923 als Sohn armer Landarbeiter das Licht der Welt erblickte.

Es war eine dunkle Welt, in die er geworfen wurde. Denn Venezuela war ein armes Land, und die Ärmsten der Armen waren die einfachen Menschen auf dem Lande, die nicht selten von der Hand in den Mund lebten. Schon die Kinder mussten von früh bis spät auf den Feldern arbeiten, um Mais und Kartoffeln anzupflanzen, oder bei der Versorgung der wenigen Schweine und Ziegen zu helfen, um sich schließlich trotz aller Mühe mit knurrendem Magen ins Bett zu legen.

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Aber so arm die Menschen auch waren, liebten sie doch nichts mehr als zu lachen und zu singen. In jedem Haus fand sich ein Instrument, sei es eine Geige, ein Cuatro (1) oder eine Maracas (2). Sogar Gitarren und Bandolinen waren zu finden und immer gab es jemanden, der sie spielte. Und so waren die wenigen freien Tage, die Sonntage vor allem, voller Tanz und Musik, die das harte Leben ein wenig fröhlicher machten und diese Welt erhellten.

Ein solch frühes Eintauchen, ein solch natürliches Aufwachsen mit der Musik seiner Heimat war natürlich ein Segen für einen Musiker, der später zu einem der wichtigsten Interpreten südamerikanischer Musik werden sollte. Schon im Alter von acht Jahren machte Alirio seine ersten Versuche auf der Cuatro und von seinem Onkel, der ihm auch das Lesen und Schreiben beibrachte, lernte er das Gitarrespiel. Dabei legte er einen solchen Eifer an den Tag, dass er schon bald mit anderen Musikern auftreten und so ein wenig zum Unterhalt der Familie beitragen konnte.

Doch in dem kleinen Jungen glühte ein Feuer, das ihn überall nach Wissen und Weisheit suchen ließ, und so griff er nach jedem Strohhalm, um seinen noch jungen Geist zu füttern. In einer Kiste seines Großvaters fand er endlich den geeigneten Stoff zum Träumen. Dantes »Göttliche Komödie« etwa, die er auswendig lernte, oder, frühes Omen vielleicht für seinen weiteren Weg, die Gitarrenschule von Ferdinando Carulli (3). Aber trotz dieser seltenen Momente der Freude bestand sein Leben in erster Linie aus harter Arbeit und einer Armut, die ihn hinderte, aus den engen Grenzen seines Lebens auszubrechen.

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Doch eines Tages beschloss er, es einigen Freunden gleichzutun und seine Heimat zu verlassen. Während es sie auf die Ölfelder Zulias zog (auf der ewigen Jagd nach Macht und Reichtum), wollte er nach Carora, der einzigen Stadt, die er kannte und die seinen Hunger nach Wissen stillen konnte. Und so packte er, erst sechzehn Jahre alt, in aller Stille seine Sachen und schlich sich aus dem Hause seiner Eltern, um für lange Jahre nicht mehr zurückzukehren.

Der erste Schritt in die Freiheit schien getan, doch die fremde Stadt wartete nur mit einer neuen Enttäuschung auf ihn. Denn für sie war er nur einer der zahlreichen Jungen vom Lande, einer der Namenlosen, die auf ein besseres Leben innerhalb ihrer Grenzen hofften. Um  überleben zu können, besorgte ihm einer seiner Brüder, der in Carora sein armseliges Brot als Typograf verdiente, eine Stelle als Kartenabreißer in einem Kino. Doch die Bildung und Kultur, nach denen er sich so sehnte, blieben ihm verwehrt. Da las er zufällig in einer Zeitung, dass der Staat Stipendien an talentierte junge Menschen vergab. Noch am selben Tag traf er Vorbereitungen zu einer Reise, umden Staatspräsidenten persönlich sprechen zu können. Durch seine Hartnäckigkeit schaffte er es sogar bis in das Büro des persönlichen Sekretärs des Präsidenten der Republik, doch just an diesem Tag war dieser zu einer Reise durch sein Land aufgebrochen und daher nicht zu sprechen. So kehrte Alirio Diaz um, blieb aber fest entschlossen, es bald wieder zu versuchen.

Doch dann geschah einer jener Zufälle, die auch dem größten Spötter eine Ahnung von der Vorherbestimmung alles Lebens geben könnten. Der berühmte Journalist Cecilio Zubillaga Perera (4) hörte den jungen Alirio auf der Gitarre spielen und empfahl ihm, sich nicht um das Stipendium zu bemühen (was ihn dazu gezwungen hätte, Literatur und Philosophie zu studieren), sondern sich ganz auf die Musik zu konzentrieren.

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Alirio Diaz hörte auf diesen Rat. Mit einem Empfehlungsschreiben ausgestattet, machte er sich auf die Reise und wurde Schüler des Musikers und Komponisten Laudelino Mejías (5). In den nächsten Jahren sollte er sich nicht nur einen umfassenden musikalischen Grundstock erwerben, sondern hatte endlich Zugang zu der Art von Bildung, nach der er sich so lange gesehnt hatte. Doch diese Zeit war weit härter, als sie sich in der Rückschau darstellt. Denn mit der Erlaubnis, die Schule zu besuchen, war kein Stipendium verknüpft und so musste er während all dieser Jahre Tag für Tag acht Stunden in einer Druckerei stehen, um für sein tägliches Brot zu sorgen.

Aber trotz allem: Während dieser Jahre verdichtete sich sein Wunsch, Musiker zu werden und die Gitarre zum Mittelpunkt seines Lebens zu machen. Doch Laudelino Mejías ermahnte ihn, sich Zeit zu lassen und zu warten. Und so wartete er auf den richtigen Augenblick, der 1945 gekommen schien. Auf Anraten seines Freundes Cecilio Perera reiste er nach Caracas, um sich dort auf der Gitarre zu vervollkommnen.

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Alirio war nun 22 Jahre alt, ein junger Mann, ausgestattet mit einem neuerwachten Selbstbewusstsein und der Gewissheit, dass er für die Gitarre bestimmt war. Außerdem wusste er, wie hart er arbeiten konnte und war bereit, sein Leben einzusetzen, um die Grundlagen der klassischen Gitarre zu erlernen und dieses Instrument zu beherrschen. Für einen Menschen mit diesem Ehrgeiz war Raúl Borges (6) der richtige Lehrer. Ein Freund von Agustin Barrios Mangoré (7) und Antonio Lauro (8), war er selbst Komponist und ein bekannter Virtuose, durch dessen Hände die größten Gitarristen Venezuelas gegangen waren. Der begnadetste unter ihnen war sicher Alirio Diaz und unter der Führung seines weisen Lehrers gelang es ihm schließlich, dieses Instrument vollendet zu beherrschen.

Nun endlich, nach langen Jahren des Lernens und des Kampfes, sollte all die Arbeit Früchte tragen. Am 12. Februar 1950 debütierte Alirio Diaz in der Biblioteca Nacional in Caracas mit Werken von Johann Sebastian Bach, Heitor Villa-Lobos (9) und Manuel María Ponce (10) und wurde schon bald als neuer Stern am Gitarrenhimmel gefeiert. Um sich künstlerisch weiter zu entwickeln, schloss er seine Studien ab und plante, nach Europa zu reisen. Diesmal sollte ihm, der sich einst erfolglos auf den Weg zu seinem Präsidenten gemacht hatte, ein Stipendium gewährt werden; und so reiste er  im selben Jahr noch nach Spanien, um bei Sáinz de la Maza (11) zu studieren.

Doch auch hier hielt es ihn nicht lange. Als er erfuhr, dass Andrés Segovia (12), den er schon in Venezuela bewundern durfte, einen kleinen Kreis von Schülern um sich versammelte, machte er sich wieder auf die Reise. Segovia war sofort von ihm begeistert, denn Alirio Diaz hatte nicht nur eine makellose Technik und ein umfangreiches Repertoire, sondern er hatte sich auch anhand einiger Schallplatten des Meisters dessen Stil komplett zu eigen gemacht. Segovia sollte ihn später als einen der besten Schüler bezeichnen, den er je unterrichtet hatte, und als eines der größten Versprechen an die Welt der Gitarre.

In den folgenden Jahrzehnten sollte Alirio Diaz dieses Versprechen einlösen. Er konzertierte auf allen wichtigen Bühnen und eroberte mit seinem Spiel die Herzen zahlloser Menschen. Doch immer wieder kehrte er zurück an jenen Ort, an dem alles begann, ins Hochland von Carora, um dort dem Flug der Vögel zu lauschen.

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Quellenangaben

1 …Eine kleine Gitarre mit vier Saiten, die in Venezuela weit verbreitet ist.

2 … Südamerikanische Gefäßrasseln, bei uns einfach als Rasseln bekannt.

3 … 1770-1841, mehr dazu in meinem Buch

4 … 1887-1948, auch bekannt als Chío Zubillaga, war ein bekannter Journalist und Mitglied der Venezolanischen Nationalen Akademie für Geschichte.

5 … 1893-1963, venezolanischer Musiker und Komponist.

6 … 1882-1967, gründete den ersten Lehrstuhl für Gitarre in Venezuela.

7 … 1885-1944, einer der ersten Gitarrenvirtuosen Südamerikas und Komponist zahlreicher noch heute gespielter Werke für die Gitarre.

8 … 1917-1986, Komponist und Gitarrist aus Venezuela.

9 … 1887-1959, bekanntester klassischer Komponist Brasiliens.

10 … 1882-1948, bedeutender mexikanischer Komponist, der viele Werke für die Gitarre schrieb.

11 … Regino Sáinz de la Maza, 1896-1981, spanischer Gitarrist und Komponist, gilt als einer der wichtigsten Gitarristen des 20. Jahrhunderts.

12 … 1893-1987, Gitarrist, Lehrer und Herausgeber von Gitarrenliteratur, wichtigste Figur der klassischen Gitarre im 20. Jahrhundert.

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