Der Chitarrone
von Bernhard Reichel
Alessandro Piccininis Toccata XII und der stile moderno
Um 1600 erobert sich die Musik in Italien radikal neue Lebensräume.
Mit der seconda pratica lösen sich die Komponisten vom starren Korsett des Kontrapunkts eines Palestrinas oder Orlando Di Lasso und eine niemals zuvor dagewesene Pluralität an Stilen und Gattungen entsteht.
Die neu entstandene Oper entwickelt eine theatralische Musiksprache, die sich umgehend auf das Madrigal und somit auf alle andern musikalischen Formen der Musik des italienischen Frühbarock auswirkt.
Infolge der Erfindung der „Monodie“, des begleiteten Sologesangs, entwickelt sich aus der zarten, doppelchörigen Laute der mächtige und voluminöse Chitarrone (ital. große Gitarre). Mit seinen 14 Saiten und einem Hals von etwa zwei Metern Länge ist er wie geschaffen für die Oper – die Begleitung von Sängern aus dem Orchestergraben. Das Instrument wird zum Sinnbild einer neuen musikalischen Epoche und Komponisten wie Alessandro Piccinini und Girolamo Kapsberger schreiben die erste Solomusik dafür.

Die Instrumentalmusik löst sich aus dem Schatten der menschlichen Stimme und entdeckt ihren eigenen Kosmos an Ambitus, Farben, Dynamik und Rhythmus.
Durch die Emanzipation der Instrumentalmusik von der Vokalmusik entstand neben eigenen Gattungen (Toccata, Canzone, Sonate etc.) nun auch eine selbstständige Musikästhetik.
Zum einen drückt sich dies im Stylus Phantasticus aus: Werke, die wie improvisiert klingen sollen, mit kurzen, charaktervollen Abschnitten, die klangliche wie technische Extreme ausloten.
Der Alchemist und Universalgelehrte Athanasius Kircher beschrieb ihn in seiner Musurgia Universalis (Rom, 1650) als „freie Art der Instrumentalmusik, die der Phantasie der Komponisten keine strikten Regeln auferlege/ die nicht an Worte oder einen cantus firmus gebunden ist/ dem Komponist weite Entfaltungsmöglichkeiten gibt und Gelegenheit an die Grenzen seiner Kunst zu gehen/ in freien Formen wie Fantasien, Toccaten, Ricercare und Sonaten.“
Um ihre Neuerungen zu erläutern und anderen Musikern nahezubringen, verfassen die Komponisten ausführliche Vorworte und Traktate, die allerdings oft nur mit Mühe und im Kontext ihrer Zeit zur Gänze verständlich sind.
Zu den wichtigsten und, für den Chitarrone, ersten Quellen dieser Zeit gehört Alessandro Piccininis (1566 – 1638) Intavolatura di Liuto et di Chitarrone, libro primo (1623). In seinem Vorwort „a gli studiosi“ erklärt er ausführlich und geduldig die Techniken des neuen Chitarrone und gibt ein paar Hinweise, wie seine Musik aufzuführen sei.
Und trotzdem bleiben die Toccaten rätselhaft. Es existieren weder Tempoangaben, noch Hinweise über die dynamische Gestaltung. Die kurzen Stücke wirken so extravagant, dass Aufführungen nach den Maßstäben unser heutigen Tradition der „romantischen Musik“ nicht zielführend sind und zur Unverständnis dieser Musik beitragen.
„… come ueggiamo usarsi ne i Madrigali moderni …“ – Frescobaldi 1616
Klarheit wird in diesem Fall nur möglich, wenn man seinen Blick erweitert und die andern vorhandenen Quellen mit einbezieht.
Die damals am meisten zitierte, bekannteste und am häufigsten verlegte Quelle über Toccaten lässt sich beim römischen Organisten und Cembalisten Girolamo Frescobaldi (1583- 1643) finden.

Das ausführliche Vorwort „Al lettore“ aus seinen Toccate e partite d’intavolatura, Libro 1 (Rom 1616) erläutert detailliert wie diese Toccaten im neuen Stil musikalisch auszuführen sind und eröffnet dem Interpreten ungeahnte Freiheiten in dieser Musik.
Dennoch verweist er auf die Madrigali moderni als Interpretationsvorbild, was wiederum durch die enorme Vielzahl der Stile Verwirrung stiftet. Der letzte Schritt ist nun auch die zahlreichen Madrigalbücher von 1620 bis etwa 1640 durchzugehen, um diesen Stil, ja diese Musik, endgültig zu entschlüsseln.
„… in ihnen ist eine wunderbare Kraft die Empfindung zu bewegen …“ – Aquilino Coppini 1609
Letztendlich zeigte die Aufarbeitung dieser Quellen und das „Versinken“ in diesen Stil die unglaublichen Gestaltungsmöglichkeiten, die ein Instrumentalist im Stylus Phantasticus besitzt.
Es braucht nun zum ersten mal in der Musikgeschichte einen mündigen Interpreten, den Auftritt des Virtuosen, der zu jedem Zeitpunkt die Musik individuell gestalten und seine persönlichen Gefühle und Emotionen einbringen kann.
Statt madrigalistischer Wortausdeutungen der Spätranaissance konzentrieren sich Komponisten nun auf die Darstellung der seelischen Befindlichkeiten, sie wollen Empathie mit Mitteln der Musik erzeugen, die Textdarstellung wird zur Darstellung menschlicher Emotionen, der Musiker wird vom Erzähler zum Darsteller. Und das ist die eigentliche Revolution des „stile moderno“.
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In meinem Video möchte ich einen Einblick in die Quellenlage geben und zeigen, wie sie sich praktisch anwenden lässt. Ich möchte auf die Struktur des Stücks eingehen, es zerlegen, erläutern und am Ende wieder als Ganzes zusammenfügen.
Die Zuseher lade ich dazu ein mir mir auf die Suche nach den Madrigali moderni zu gehen, gemeinsam durch das Italien des Frühbarock zu reisen und die kurze Toccata XII in allen ihren Facetten zu verstehen, sodass beim schlussendlichen Hören eine Resonanz zwischen den Zuschauern und dem Werk entsteht und der Funke für die Musik dieser Epoche überspringt.