Der Gedächtnispalast

von Thomas Stiegler

Ich persönlich liebe den Gedanken, ein Leser zu sein. Mich mit Worten zu beschäftigen, die Träume aufbauen, die von Gefühlen erzählen und dabei an mein Innerstes rühren.

Aber es ist so unglaublich schwer, in dieser lauten Zeit die Ruhe und die Muse dafür zu finden. Die Kraft aufzubringen, konzentriert zu lesen und sich nicht ablenken zu lassen. Manchmal ist es fast so, dass die Vorstellung, ein Leser zu sein, schöner ist als das Lesen selbst.

Doch wenn man lange Zeit nicht mehr richtig gelesen hat, dann ist es schwer, wieder damit anzufangen.

Ja, es ist schwer, aber ich merke, wie mich das Lesen wieder gefangen nimmt. Wie die Bücher meine Gedanken beanspruchen und versuchen, mir in die Seele zu greifen.

Und ich bekomme Sehnsucht, den nächsten Schritt zu tun. Wieder ein Mensch zu werden, der abseits steht. Abseits des täglichen Hamsterrades, abseits einer Welt voller Nachrichten, permanenter Verfügbarkeit und der Jagd nach Unterhaltung und dem nächsten Klick.

 

Beim Nachdenken über eines dieser Bücher ist mir ein altes Spiel eingefallen. Für mich war es einmal mehr als das, doch um das zu verstehen, muss ich ein wenig ausholen.

Um euch anschließend einzuladen, es einmal selber zu versuchen.

 

Kennt ihr den „Steppenwolf“ von Hermann Hesse? (Falls nicht, es ist ein schmaler Band, den man an einem Abend durchlesen kann)

Am Schluss des Buches steht Harry Haller im sogenannten magischen Theater und vor der Entscheidung, durch welche der vielen Türen er treten soll, die sich vor ihm öffnen.

Eine jede führt ihn in eine andere Welt und jede bedeutet einen anderen Teil seiner Geschichte. Begebenheiten aus seiner Jugend, Erlebnisse die er einst ersehnte, Möglichkeiten, die er einst hatte und nie ergriff.

Doch hier und jetzt, in seinem magischen Theater, konnte er durch eine Tür treten und sie in seinem Sinne neu erleben.

Das, was Hermann Hesse hier beschreibt, praktizieren Gelehrte schon seit Hunderten von Jahren. Und es deckt sich auch mit dem, was neueste Gehirnforschungen gefunden haben.

Denn für den menschlichen Geist sind Fantasie und Realität (unter gewissen Umständen) nur sehr schwer zu unterscheiden.

Wenn wir die Augen schließen und uns im Inneren in eine Situation begeben, sie intensiv mit allen Sinnen „erleben“, dann macht das für unseren Geist kaum einen Unterschied zur Realität.

Ein Effekt übrigens, der heute im Sport ebenso Verwendung findet wie in den verschiedensten Therapieformen.

Das erklärt vielleicht auch die intensive Wirkung, die Kunst auf uns haben kann. Dass wir nämlich bei einem intensiven Erleben von Kunst aus der realen Welt geworfen werden.

Und wenn das so ist, dann kann man es vielleicht auch einmal bewusst einsetzen?

Wieso nicht einmal diese Art „magisches Theater“ dazu benutzen, mit den Werken unserer Kultur zu spielen? Um damit tiefer in die Kunstwerke einzutauchen und sie intensiver zu erleben?

 

Einen ähnlichen Versuch dieser Art beschrieb Hermann Hesse Jahre später im Glasperlenspiel. Dort waren es die Ordensmitglieder der „pädagogischen Provinz“ Kastalien und namentlich der Glasperlenspielmeister Knecht, die es als ihre Aufgabe ansahen, die Werke unserer Kultur zu bewahren.

Und ihr hauptsächliches Werkzeug dafür war das sogenannte „Glasperlenspiel“, ein ernstes Spiel mit abstrakten Zeichen, die an die Literatur, Musik und alle anderen Arten von Wissenschaften unserer Kultur erinnern sollten und die man in sich auferstehen ließ, um sie miteinander in Beziehung zu setzen und im Laufe des Spiels in sich zu durchleben.

Dieser Gedanke Hesses ist es wohl, der dieses Werk seit Jahrzehnten so beliebt macht und warum es so befruchtend auf Menschen in der ganzen Welt wirkt.

 

Bevor ich jetzt von meinem kleinen Spiel erzähle, muss ich noch einen kleinen Schwenk machen und von einer uralten Methode erzählen, um sich Dinge einzuprägen.

Es ist dies die bekannte Mnemotechnik, die unter dem Namen „Gedächtnispalast“ bekannt ist. Dabei baut man in seiner Phantasie einen Palast und befüllt diesen mit den Dingen, die einem etwas bedeuten.

Wenn man sich nun an etwas erinnern möchte, dann begibt man sich in seiner Phantasie in seinen Gedächtnispalast, sucht die Stelle auf, an dem man die Erinnerung abgelegt hat (egal ob in einem Buch, einem Bild oder Ähnlichem) und kann sich dadurch daran erinnern.

 

Womit ich jetzt endlich zu dem Spiel kommen möchte, das ich für mich erfunden hatte. Eine Methode, um tiefer in Kunstwerke einzutauchen und dadurch neue Ebenen des Verständnisses zu erlangen.

 

Damals war ich sehr geprägt von Hermann Hesse und habe dabei mit seinem Werk begonnen, und daher will ich auch heute wieder mit diesem Dichter beginnen.

Und ich möchte euch auf diese kleine geistige Übung einladen.

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Stellt euch ein Zimmer vor, das eurer Meinung nach zu Hermann Hesse passt und gleichzeitig eure Gefühle zu seinen Werken ausdrückt.

Hängt ein paar Bilder an die Wand, vielleicht den „Regenmacher“ oder eines, auf dem Hesse Erde brennt. Verteilt Gegenstände, die ihr mit ihm verbindet und stellt die Bücher auf, die ihr von ihm gelesen habt.

Dann nehmt euch etwas Zeit, schließt die Augen und betretet dieses Zimmer.

Stellt euch vor, wie ihr hineingeht, die Bilder anseht, die leichte Brise spürt, die durch das offene Fenster streicht und die Gardinen sanft bauscht. Versucht, in euch hinein zu lauschen, zu spüren und alles aufzunehmen, den Geruch, die Farben, die Gefühle, die sie in euch auslösen.

Und dann nehmt eines seiner Bücher zur Hand. Versucht, euch nicht nur an die Geschichte zu erinnern, sondern sie intensiv nachzuerleben und gleichzeitig die Gefühle wieder auferstehen zu lassen, die ihr einst beim Lesen hattet.

Lasst ein Bild in euch erstehen und versucht, mit allen Sinnen dabei zu sein. Probiert euren Geist aufzuspalten. Seid in dem Zimmer, seid Leser des Buches und seid gleichzeitig mit euren Gefühlen im Buch, als wäret ihr eine der Figuren und würdet die Erzählung erleben.

Versucht für ein paar Minuten wirklich, in dem Zimmer und gleichzeitig dem Buch zu sein.

 

Ist das nicht wunderschön? Es ist vielleicht etwas seltsam und ungewohnt. Albern, gewiss, vielleicht sogar lächerlich.

Aber – ist es nicht wunderschön?

 

Und wenn euch das einmal gelungen ist, dann könnt ihr es mit allem machen, das euch wichtig ist. Ein Zimmer für Schubert, ein Zimmer für Monet oder mittelalterliche Stickerei.

Versucht, diese Zimmer mindestens einmal am Tag zu besuchen, vielleicht kurz vor dem Einschlafen, und ihr werdet merken, wie es euch von Mal zu Mal leichter fällt und ihr mehr Genuss und Gewinn aus den Kunstwerken zieht.

Mehr dazu gibt es in meinem neuen Buch: Literaturgeschichten, Kulturgeschichten aus der Welt der Literatur

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