Der harmonische Grobschmied

von Thomas Stiegler

James Brydges (1673-1744), der spätere Earl of Carnarvon, ist das Musterbeispiel eines korrupten, prachtliebenden Adligen des 18. Jahrhunderts.

Während des Spanischen Erbfolgekriegs war er „Paymaster-General of the Forces Abroad“ (Generalzahlmeister der Armeen im Ausland), was er vor allem dazu nutzte, sich selbst zu bereichern.

Unter der Hand sprach man von der unglaublichen Summe von 600.000 bis 700.000 Pfund, die er während weniger Jahre auf die Seite brachte. Dafür wurde er zwar angeklagt und vor das Unterhaus zitiert, aber alle Anschuldigungen prallten an ihm ab.

Neben diesen eher unangenehmen Seiten seines Wesens war er ein hochgebildeter Mensch und ein Liebhaber der Musik und Literatur.

Einen beträchtlichen Teil seines Vermögens verwendete er für den Bau von Canons, einem glanzvollen Herrenhaus in der Grafschaft Middlesex, das er zu einem Zentrum der Künste ausbaute.

Zu seiner „Hofkapelle“, die etwa 30 Musiker umfasste, gehörte unter anderem der Bruder von Alessandro Scarlatti. Außerdem sammelte er um sich einen Kreis von progressiven Literaten, zu dem auch John Gay und Alexander Pope gehörten.

Zu dieser illustren Schar gesellte sich 1717 G. F. Händel als „Composer-in-Residence“ (Hofkomponist). Zu den Werken, die er hier in den zwei Jahren seines Aufenthaltes schreiben sollte, gehörte unter anderem die erste Fassung des Oratoriums „Esther“ und die englische Version von „Acis und Galatea“, die John Gay für ihn übersetzte.

In Canons war es auch, dass er die „Suites de Pièces pour le Clavecin“ komponierte, in denen jene Variationen enthalten sind, die heute unter dem Namen“ The Harmonious Blacksmith“ („Der harmonische Grobschmied“) weltweit bekannt sind.

Zu diesem Werk nun gibt es eine schöne Geschichte.

Eines Tages, als Händel auf einem seiner Ausflüge war, musste er vor einem plötzlich einsetzenden Regenschauer unter das Vordach einer Schmiede flüchten. Missmutig blickte er in den grauen Schleier, hinter sich das Dunkel der Werkstatt.

Plötzlich hörte er eine ihm unbekannte Melodie, die sich wundersam harmonisch zu dem Klang der Hämmer ausnahm. Es sah sich um und bemerkte den Schmied, der während seiner Arbeit ein Liedchen pfiff, das nun nach draußen drang.

Gewohnt, überall nach Melodien Ausschau zu halten, nahm er dieses unerwartete Geschenk dankbar an und verewigte es in seinem Werk.

So schön diese Geschichte auch klingt und so sehr ich sie liebe, ist sie leider nicht wahr.

Denn sie taucht erst ein dreiviertel Jahrhundert später in dem Buch „Reminiscences of Handel“ auf, in dem Richard Clark seine Erinnerungen sammelte und dabei mitunter recht arg ins fabulieren geriet.

So auch bei dieser Erzählung, die aber bald so beliebt wurde, dass noch Jahrzehnte später der Amboss des Grobschmiedes auf Auktionen gehandelt wurde.

Und auch der Name blieb dem Werk erhalten, und so kennen wir es heute nur noch unter dem Titel „Der harmonische Grobschmied“.

 

Die schlichte Schönheit seiner Melodie und nicht zuletzt die Geschichten, die sich um seinen Namen rankten, machten das Werk auch bei anderen Komponisten beliebt.

So war es schon Louis Spohr, der es als Grundlage für eines seiner Werke verwendete, genauso wie Francis Poulenc oder der australische Komponist Percy Grainger.

Auch in die Gitarrenliteratur hat dieses Werk Einzug gehalten, und zwar durch M. Giulianis „Variazioni su un tema di Händel“ op. 107, das er 1828 komponierte.

 

Doch bevor ich jetzt auf das Werk eingehe, möchte ich kurz über etwas Anderes sprechen.

Ich weiß, dass hier auch zahlreiche Nichtgitarristen und musikalische Laien mitlesen und daher werde ich ein paar allgemeine Worte zu dem Begriff „Variation“ sagen.

 

Der Begriff Variation bedeutet, etwas Vorgegebenes zu verändern.

Um das leichter zu verstehen, vergleichen wir die Musik mit unserer Sprache. Wir müssen nicht so weit gehen und ein musikalisches Werk mit einem Gedicht, einen Essay oder einen Roman gleichsetzen.

Aber im Kleinen ist das durchaus sinnvoll, indem man eine Melodie oder ein Thema mit einem Satz vergleicht. Denn dann ist es leichter zu verstehen, wie ein Komponist arbeitet.

 

Nehmen wir einen einfachen Satz wie etwa: „Ich gehe heute im Regen spazieren.“

Wenn wir diesen Satz bekräftigen wollen, etwa, weil wir glauben, dass er nicht verstanden wurde, dann wiederholen wir ihn.

„Ich gehe heute im Regen spazieren.“ – „Ich gehe heute im Regen spazieren.“

 

Um nun verschiedene Aspekte seiner Aussage zu unterstreichen oder ihn genauer zu erläutern, müssen wir ihn verändern.

Man kann ihn entweder:

– verkürzen: „Ich gehe spazieren.“

– erweitern: „Ich gehe heute Vormittag im Regen spazieren und werde dabei tanzen.“

– oder sonstwie beliebig verändern: „Ich werde jetzt im Nieselregen flanieren.“

 

Wie wir sehen, bleibt die Grundaussage des Satzes zwar erhalten (Ich, Bewegung usw.), aber trotzdem verändert sie sich mit jeder „Variation“.

Ein Komponist macht dasselbe und er kann dabei, ganz wie wir in der Sprache, jeden einzelnen Aspekt eines Themas hervorheben, verschieden beleuchten und verändern.

Ein Variationswerk ist einfach die Umsetzung dieses Prinzips nicht nur auf ein Thema, sondern auf ein ganzes Stück.

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Kommen wir jetzt zurück zu Giulianis Musik.

Sein op. 107 ist ein konservatives Werk ohne Überraschungen oder besondere musikalische Höhepunkte. Trotzdem ist es ein schönes Musikstück und erscheint mir als ein guter Einstieg in die Welt der Variationen, sowohl für Zuhörer als auch für ausführende Musiker.

 

Ich habe mich heute für eine Aufnahme von Ben Lougheed entschieden. Von den mir bekannten Videos auf Youtube erscheint mir seine am authentischsten im Geiste Giulianis zu sprechen.

Zu Beginn erscheint das Thema, das Lied des „harmonischen Grobschmieds“, im Bass begleitet von den „Schmiedehämmern“.

Die erste Variation (0:58) bringt wenig Neues, nur der Bass spielt ein paar Nebennoten.

Die zweite Variation (1:46) wird etwas lebhafter, indem Giuliani Triolen komponiert und dadurch das Tempo erhöht.

Erst mit der dritten Variation (2:44) spürt man eine Veränderung. Die Stimmung scheint sich gewandelt zu haben und der virtuose Aspekt tritt etwas in den Hintergrund. Sehr schön nachzuspüren hier in dieser Aufnahme.

Die vierte Variation (4:02) steht nun wieder unter dem Vorzeichen der Virtuosität. Nicht im Sinne eines Paganinis oder Liszt, aber jeder der das Stück selbst eingeübt hat weiß, wie schwer es ist, alle Noten so zum Klingen zu bringen, wie sie auf dem Papier stehen.

Natürlich darf auch eine Moll Variation (5:06) nicht fehlen. Auf der Aufnahme ist sehr schön zu beobachten, wie Ben Lougheed sie nicht romantisch verzerrt, sondern immer im Geist der Klassik in einem festen Grundrhythmus bleibt und sie ohne romantischen Schmelz interpretiert.

Variation Sechs (7:25) ist der typische Kehraus, der fast immer am Schluss eines Variationswerkes steht. Die Gitarre darf glänzen und ihre Tonkaskaden abwerfen. Die paar kleinen Fehler, die dem Interpreten im Eifer des Gefechts unterlaufen, sollten uns dabei nicht weiter stören.

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