Das Leben des D´Artagnan
von Thomas Stiegler
„Einer für alle!“ – „Alle für einen!“
Auch wenn sich die Welt von Jahr zu Jahr immer schneller zu drehen scheint und wir immer größere Teile unserer Geschichte verlieren, so wird doch immer dort, wo sich ein paar Knaben mit hochrotem Kopf und ein paar Stöcken gegenüberstehen, dieser Ruf schmetternd wie ein Fanfarenstoß durch die Jahrhunderte gellen. Und immer wieder wird sich der Musketier des Königs aus dem Staub erheben, Mief und Moder aus seiner Kleidung klopfen und, die Hand am Knaufe seines Degens, Ausschau nach neuen Abenteuern halten.
Denn erfunden vom französischen Autor Alexandre Dumas und seitdem in zahllosen Groschenromanen und Fernsehfilmen verbreitet, ist der Musketier d´Artagnan (gemeinsam mit seinen Freunden Athos, Porthos und Aramis) eines der modernen Urbilder unserer Kultur, vergleichbar nur noch dem Don Quichotte de la Mancha oder dem Prinzen Hamlet aus dem hohen Norden. Aber was die Wenigsten wissen, ist, dass der Figur des d’Artagnan eine historische Person zugrunde liegt, deren Leben mindestens genauso so spannend verlief wie das der Romanfigur.
Charles de Batz-Castelmore, besser bekannt als Comte d’Artagnan, wurde Anfang des 17. Jahrhunderts als jüngstes von acht Kindern auf Schloss Castelmore bei Lupiac geboren. Sein Vater Bertrand de Batz entstammte einer alten Kaufmannsfamilie, die Mitte des 16. Jahrhunderts Schloss und Gut Castelmore erworben hatte, wodurch sie in den Kleinadel (la petite noblesse) aufstiegen. Seine Mutter Françoise de Montesquiou hingegen stammte aus einer der einflussreichsten Linien Frankreichs, der Familie Armagnac, einem Geschlecht, dessen Wurzeln sich bis ins Jahr 960 zurückverfolgen lassen.
So schien er für das von ihm gewählte Leben das Beste aus beiden Welten mitbekommen zu haben – den Ehrgeiz des Kleinbürgers, sich zu beweisen und hochzuarbeiten, und gleichzeitig die Überzeugung des alten Adels, der seine wahre Rolle nur in einem Dienst an König und Vaterland sah.

D’Artagnans Leben fällt in eine der unruhigsten Epochen der französischen Geschichte. Erst zwei Jahrzehnte zuvor wurde mit dem Edikt von Nantes der alte Konflikt zwischen Katholiken und Hugenotten beigelegt. Heinrich IV., der schon 1593 zum Katholizismus konvertiert war, integrierte die Hugenotten in die Gesellschaft und schuf damit die Grundlage des französischen Einheitsstaates. Doch als er 1610 bei einem Attentat ums Leben kam, steckten die meisten seiner Pläne noch in den Kinderschuhen, und sein Erbe Ludwig, der dazu bestimmt war, sein Lebenswerk zu vollenden, war ein erst neunjähriger Knabe.
So übernahm seine Witwe Maria de´ Medici, unterstützt von ihrem Günstling Concino Concini, die Macht, während Ludwig XIII., der als einfältiger Knabe galt, von allen Aufgaben ferngehalten wurde. Aber in dem Jungen steckte mehr, als es den Anschein hatte. Denn hinter einer geschickt getragenen Maske sammelte sich all seine Wut und Leidenschaft, und 1617 sollte sein Wille zur Herrschaft endgültig hervorbrechen und ihn die Macht an sich reißen lassen. Ein Ereignis, das für Concini den Tod bedeutete und für Ludwigs Mutter lange Jahre in der Verbannung fernab vom Hofe.
Damit war der Weg frei für den größten Minister, den Frankreich je besessen hatte: Kardinal Richelieu. Dieser war es, der die absolute Macht des Königs durchsetzte, das Land befriedete und den Weg freimachte, um Frankreich neben dem Reich der Habsburger zur zentralen Macht Europas zu machen.
In dieser Welt nun spielt der erste der drei Romane von Alexandre Dumas rund um den Musketier d´Artagnan und seine Freunde. Hintergrund ist der schwelende Konflikt zwischen dem ersten Minister Frankreichs und Anna von Österreich, der Gemahlin Ludwigs XIII., der darin gipfelt, dass Richelieu die Gattin des Königs des Ehebruchs überführen will. Rund um diese Geschichte entwickelt sich ein munterer Reigen voller Spannung, Abenteuer und Liebeshändel, der in der Ernennung d’Artagnans zum Musketier seinen Höhepunkt findet.
In der realen Welt zog Charles de Batz-Castelmore um 1630 gen Paris, wo er, gleich seinen älteren Brüdern, bei den Musketieren eintreten wollte. Doch wurde ihm dieses Privileg, obwohl er unter dem klingenden Namen seiner Mutter auftrat, aufgrund seiner mangelnden militärischen Ausbildung verwehrt. Doch er hatte Glück, denn ein enger Freund der Familie, Jean-Armand du Peyrer, war zu jener Zeit Capitaine-lieutenant der Musketiere. Seinem Einfluss war es zu verdanken, dass der Spross der Familie Montesquiou im Regiment der „Gardes Françaises“, einem der beiden Infanterieregimenter der königlichen Garde, eintreten konnte.
Während der folgenden Jahre sollte in Frankreich eine Epoche zu Ende gehen. Innerhalb weniger Monate starben sowohl Richelieu als auch sein König, und der rechtmäßige Thronfolger, Ludwig XIV., der spätere „Sonnenkönig“, war wieder ein Kind, diesmal erst vier Jahre alt. So übernimmt abermals eine Frau die Regentschaft, diesmal Anna von Österreich, und wieder ist es ein Kardinal, der die Geschäfte Frankreichs führt: Mazarin.
Mehr dazu gibt es in meinem Buch „Kulturgeschichten Europas“ :
Am Beginn unserer europäischen Geschichte steht der Aufschrei eines blinden Sängers: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus.“
Dieser Zorn des Achilles, dieser Zorn des alten Dichters Homer, sollte unser aller Zorn sein. Zorn darüber, in eine Welt geworfen zu sein, die von Tag zu Tag geistloser wird, menschenfeindlicher, und in so weiten Teilen ohne Wissen um ihre Geschichte und Kultur.
Als Italiener mit einem verführerischen und einschmeichelnden Wesen gesegnet, leitet er nicht nur die Regierung, sondern fungiert auch als Erzieher und Vertrauter des jungen Königs. Außenpolitisch war er äußerst erfolgreich und schuf die Voraussetzung dafür, dass Frankreich zur führenden Macht auf dem Kontinent aufstieg. Doch im Inneren unterstütze er die Ansprüche des alten Hochadels, und so kam es zu neuen Ausbrüchen von Gewalt, die in einer Serie von Aufständen, der sogenannten Fronde, gipfelten, die ganz Frankreich erschütterten.
Doch wir befinden uns noch im Jahr 1640, und d’Artagnan ist ein schlichter Fußsoldat der königlichen Garde. Als solcher diente er unter Henri de Turenne und nahm etwa im Jahr 1642 an der Besetzung der Grafschaft Roussillon teil. Bei diesem und folgenden Feldzügen zeigte er bald solchen Mut und gab Beweise einer solch außerordentlichen militärischen Begabung, dass er schließlich doch bei den Musketieren aufgenommen wurde.
Im Jahre 1646 allerdings löste Kardinal Mazarin die Garde wegen zunehmender Spannungen mit ihrem Kommandanten Treville auf und die Soldaten mussten in anderen Regimentern Unterschlupf finden. Als einer der wenigen konnte d’Artagnan auf diesen demütigenden Wechsel verzichten, denn zu dieser Zeit war er bereits persönlicher Kurier Mazarins (zu gleichen Teilen Diplomat, Geheimagent und Bote) und begleitete ihn 1651, während der Wirren der Fronde, auf seiner Flucht nach Brühl. Doch 1657 wurde die erste Kompanie der Musketiere – auch „Mousquetaires gris“ genannt (nach ihren grauen Satteldecken) – wieder aufgestellt und d’Artagnan trat erneut der Truppe bei. 1658 sollte er sogar Sous-lieutenant der königlichen Garde werden und mehr und mehr die Aufgaben eines Capitaine-lieutenant übernehmen, denn der Inhaber dieser Funktion (ein Neffe Mazarins) frönte lieber einem „dolce far niente“ in Italien als sich seinen Pflichten zu widmen.
1659 heiratete d´Artagnan die wohlhabende Witwe Charlotte-Anne de Chanlecy. Aber aufgrund ihrer übergroßen Eifersucht, die bei einem stadtbekannten Frauenhelden wie d´Artagnan sicher nicht unbegründet war, wurde die Ehe bereits nach wenigen Jahren wieder geschieden. Dieser Verbindung entstammten zwei Söhne, die beide auf den Namen König Ludwigs XIV. getauft wurden, der auch als ihr Pate fungierte. Diese Ehre wurde d’Artagnan zuteil, da er Zeit seines Lebens zum engsten Vertrautenkreis um Ludwig XIV. gehörte. Schon in den Zeiten der Fronde hatte er den kleinen Prinzen bewacht, und als der junge König zu seiner späteren Gemahlin, der Infantin Maria Teresa von Spanien, reiste, war er einer der wenigen Auserwählten, die ihn begleiten durften.

Auch anderweitig wurde er von Ludwig XIV. ausgezeichnet und nach allen Kräften gefördert, denn d’Artagnan erwies sich als ein Mann, den man mit den geheimsten und heikelsten Missionen betrauen konnte. Am bekanntesten dabei ist sicher die Verhaftung des Oberintendanten der Finanzen, Nicholas Fouquet, den er 1661 nach einer Ständeversammlung in Nantes festsetzte. Denn Fouquet hatte während seiner Zeit in der Regierung die Finanzen des Staates heillos durcheinandergebracht, und der König vermutete, dass der Großteil des vermissten Goldes dabei in Fouquets eigene Taschen geflossen war.
Mit dem Tode Mazarins allerdings hatte Fouquet seinen wichtigsten Fürsprecher verloren, und so beschloss Ludwig XIV., ihm seine Gunst zu entziehen, wofür er Männer wie d’Artagnan brauchte. Dieser sollte aber nicht nur Fouquets Gefangennahme befehligen, sondern ihn in den folgenden Jahren auch von Gefängnis zu Gefängnis begleiten und erst nach drei Jahren wieder an den Hof zurückkehren.
In den folgenden Jahren sollte d’Artagnan, der wie sein großes Vorbild Treville als unbekannter und mittelloser junger Mann nach Paris gekommen war, die Karriereleiter immer höher klettern. So wurde er etwa zum „Capitaine des petits chiens du Roi le chevreuil“ ernannt, was zwar keinen Zuwachs an Macht bedeutete, aber eine noch größere Nähe zu seinem König versprach. Am 15. Januar 1667 schließlich war d’Artagnan dann am Ziel seiner Träume angelangt: Unter den Augen der gesamten Kompanie seiner geliebten Musketiere wurde er zum Capitaine-lieutenant, also zum Kompaniechef der „Première Compagnie des Mousquetaires“ ernannt und trat damit in die Fußstapfen seines militärischen Ziehvaters Comte de Treville.
1672 sollte er sogar noch eine Stufe höher klettern, denn er wurde zum Gouverneur von Lille ernannt. Doch war das ein Amt, das nicht seinen Begabungen entsprach. So legte er es noch im selben Jahr nieder und übernahm wieder ein aktives Kommando bei der Feldarmee, um im Französisch-Niederländischen Krieg das zu tun, was er am besten konnte.
Während der Belagerung von Maastrich waren seine Musketiere an der nächtlichen Eroberung einer Bastion beteiligt, die sie jedoch im Licht des anbrechenden Tages nicht mehr halten konnten. Wider besseren Wissens ließ sich d’Artagnan vom Befehlshaber der Armee zu einem erneuten Versuch überreden, die Bastion zurückzuerobern, der zwar erfolgreich war, bei dem ihm jedoch eine Musketenkugel die Kehle zerriss.
So starb der berühmteste Musketier aller Zeiten bei einem sinnlosen Angriff an der Seite seines geliebten Regiments. Am selben Abend noch schrieb der trauernde Ludwig XIV. an seine Gemahlin: „Meine Dame, ich habe d’Artagnan verloren, in den ich großes Vertrauen hatte.“