Der Pate

 

 

von Thomas Stiegler

Jahrhundertelang glaubten die Menschen an die Mär vom Wolf als wilder Bestie. Der unser aller Leben bedroht und der selbst in einer Welt voller Gewalt und Brutalität lebt, in der nur das Recht des Stärkeren zählt.

Die wildesten Mythen rankten sich dabei um den Leitwolf, von dem man glaubte, dass er ein Wesen der brutalen Stärke war. Ein blutiger Despot, der jedem an die Kehle sprang, der seinen Platz bedrohte.

Auf diesem Bild gründet sich auch die bekannte Sentenz: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“

Doch nichts könnte falscher sein als das.

Weder ist der Mensch dem Menschen ein Wolf, noch sind Wölfe die blutrünstigen Bestien, als die wir sie heute noch allzu oft sehen.

Vielmehr ist diese Interpretation ein Zeichen dafür, wie wir denken und gewohnt sind, unser eigenes Leben zu sehen. Aber es hat nichts mit der Realität in einem Wolfsrudel zu tun.

Denn wären Wölfe wirklich solche Wesen, dann hätten sie niemals so lange überlebt.

 

Beobachtet man Wölfe in freier Natur, dann sieht man, dass sie in erster Linie soziale Wesen sind, die in einem fein abgestimmten Miteinander für das Wohlergehen ihrer Familie sorgen.

Natürlich geht es in einem Rudel immer auch um Dominanz und das Durchsetzen von Hierarchie und Regeln. Aber der größte Teil eines Wolfslebens besteht aus sozialen Interaktionen, gegenseitigen Berührungen und dem gemeinsamen Spiel.

 

Daher ist der Rudelführer selten der brutale Wolf, den wir aus den Mythen kennen. Sondern er ist das Tier mit dem stärksten Geist, das am fähigsten ist, seiner Familie in einer feindlich gesinnten Welt das Überleben zu sichern.

Denn in jedem Rudel gibt es Wölfe, die stärker sind als er, bessere Jäger oder schnellere Läufer. Aber es ist keiner da, der sich mit solcher Kraft um das Wohlergehen des Rudels kümmert und der sein Leben so bereitwillig in den Dienst seiner Familie stellt.

Deshalb gibt es in der freien Natur auch so selten Kämpfe um die Macht und den Platz an der Spitze.

Denn selbst, wenn der Anführer verletzt wird, übernimmt kein anderes Tier seine Rolle, sondern er wird so lange gepflegt und versorgt, bis er wieder seinen Platz einnehmen kann.

 

Unter diesem Gesichtspunkt bekommt der Satz: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ eine ganz andere Bedeutung.

Wir sollten den Menschen nicht mehr als Feind des Menschen sehen, sondern anfangen, ihn als soziales Wesen zu begreifen, das auf der Welt ist, um in ihr zu leben und für seine Familie zu sorgen.

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Jemand, der in diesem Sinne eine Geschichte schrieb, war Mario Puzo.

Sein Buch „Der Pate“ war ein Welterfolg und ist bis heute bekannt als das große Epos über einen brutalen Mafiaclan.

 

Aber auch wenn es an der Oberfläche von Verbrechen handelt, von Gewalt, Leid und Gesetzesbrüchen, so gibt es auf einer tieferen Ebene eine viel stärkere Erzählung.

Eine Erzählung, die Wahrheiten enthält, die wir heute nicht nur vergessen haben, sondern die wir anscheinend gar nicht mehr hören wollen.

Die Familie Corleone lebt in einer feindlichen Welt. In einer Welt, in der ihr der Weg in die Armut vorgezeichnet scheint und es scheinbar kein Entrinnen gibt.

Doch Don Corleone lehnt sich gegen dieses Schicksal auf.

„Er weigert sich, seinen Willen dem der Gesellschaft zu unterstellen. Er weigert sich, nach Regeln zu leben, die andere gesetzt haben, nach Regeln, die ihn zu einem Leben im Elend verdammen.“

 

Was ist das für ein Mann, der es schafft, seinen Willen gegen eine ganze Welt zu stemmen? Der nicht bereit ist, sich zu unterwerfen und nach fremden Regeln zu spielen?

Und der unterhalb der scheinbar so ruhigen Oberfläche der Gesellschaft ein eigenes, unabhängiges Reich für seine Familie schafft?

„Er akzeptiert nicht die Regeln der Gesellschaft, in der wir leben, weil diese Regeln ihn zu einem Leben verdammt haben, das einem Mann wie ihn nicht ansteht, einem Mann mit einer so außerordentlichen Kraft und einem so außerordentlichen Charakter.“

 

Das Buch um den alternden Mafiachef Don Corleone entwickelt einen eigenen Sog, der uns hineinzieht in eine uns unbekannte Welt. In eine Welt der Ehre, der Loyalität und der ihr eigenen Gesetze.

Es entwirft aus sich heraus ein vollkommen stimmiges Bild einer abgeschlossenen Gesellschaft und wir haben allzu bald vergessen, dass es sich dabei im Grunde um Verbrecher handelt.

Wir sehen nur noch eine Familie, die im ursprünglichen Sinne wie ein Wolfsrudel lebt. Eine Familie mit festen Banden, die wie ein Unternehmen aufgebaut ist und die mit brutalen Methoden ihren Platz unter ihresgleichen einnimmt.

Um nach ihren Regeln in Freiheit zu leben.

 

Die Kernaussage des Buches lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: „Ich vertraue nicht darauf, dass die Gesellschaft uns schützt. … Wenn sich unsere Familie in die Gesellschaft einfügt, dann will ich, dass wir Geld und Besitz mitbringen. Ich möchte für meine Kinder die größtmögliche Sicherheit schaffen, bevor ich sie in die Gesellschaft entlasse.“

 

Jeder Vater kennt diesen Wunsch. Im Innersten hat jeder den Wunsch, genau das für seine Familie zu tun. Sie zu beschützen, ihre Zukunft zu sichern und etwas aufzubauen, dass ihnen als Schutzschild dienen kann in dieser feindlichen Welt.

Doch die meisten von uns scheinen diese Lektion vergessen zu haben. Wir vergiften unser Leben mit Alkohol, Fernsehen und sinnlosen Spielereien und versäumen darüber unsere wahre Aufgabe.

 

Das ist meiner Meinung nach auch der Grund, warum diese Geschichte nach so langer Zeit noch diesen Reiz ausübt.

Denn Mario Puzo stellt uns ein Gegenbild vor Augen. Er schreibt die Geschichte eines Wolfsrudels, die Geschichte eines Leitwolfes, der sein Leben gibt für die Familie, die er liebt.

Zitate aus: Mario Puzo, Der Pate, Rowohlt Taschenbuch 2001, Übersetzung: Gisela Stege

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