Der Spekulatius

 

von Thomas Stiegler

»Dann stell ich mein Teller auf, Niklaus legt bestimmt was drauf.« – Wer kann sich nicht an dieses Lied erinnern und an diese ganz eigene Spannung, die sich am Nikolaustag schon morgens einstellte und die bis zum Abend hin immer größer wurde. Und die schließlich in der bangen Frage gipfelte, wann »er« denn endlich komme und ob er wohl auch etwas für uns mit dabei habe. Meist waren es dann ein paar Süßigkeiten, Mandarinen und Erdnüsse und vielleicht sogar das eine oder andere Geschenk. Ganz weit im Norden Europas hatten die Kinder sogar noch einen Grund mehr zur Freude, denn dort legte ihnen der Nikolaus auch ein paar Spekulatius mit auf den Teller.

Heute, in unserer globalisierten Welt, dürfte wohl jedem der Spekulatius bekannt sein. Denn neben Lebkuchen und Springerle zählt er wohl zu den bekanntesten und beliebtesten der sogenannten Bild- und Symbolgebäcke. Doch während der Springerle aus Eierschaumteig bestehen und nur eine leichte Anisnote aufweisen und der Lebkuchen zwar sehr schmackhaft, aber meist nicht zu stark gewürzt ist, ist der Spekulatius ein intensiv schmeckender Gewürzkeks aus Mürbteig, der wunderbar in die Vorweihnachtszeit passt.

Spekulatius, © HandmadePicture

Hat man das Glück, einmal traditionell hergestellte Spekulatius in der Hand zu halten, dann sollte man sich die Zeit nehmen und die Bilder genau ansehen. Denn alle Motive, egal, ob es sich dabei um Schiffe oder andere Seefahrt-Motive handelt (der Heilige Nikolaus ist auch der Schutzpatron der Seefahrer) oder um Darstellungen von Pferden und Maultieren (als Zeichen dafür, dass er von Haus zu Haus reitet, um Geschenke zu verteilen) haben mit der Geschichte rund um den Heiligen Nikolaus zu tun.

Wenn man geschickt ist, dann kann man durch das Sortieren der Kekse sogar ganze Episoden aus seinem Leben entdecken beziehungsweise anhand der Abbildungen nacherzählen. Natürlich gehören die meisten dieser Geschichten ins Reich der Legenden, denn über die historische Person des Nikolaus von Myra gibt es nur wenige Berichte. Als gesichert scheint nur, dass er im vierten Jahrhundert nach Christus als Bischof von Myra wirkte und durch ein selbstloses Leben, das ganz im Zeichen der Nächstenliebe stand, bald weithin bekannt war und schon früh verehrt wurde. Aus dieser Tatsache erklären sich auch die vielen Geschichten und Legenden, die sich rund um sein Leben ranken.

Sein Todestag ist der 6. Dezember, weshalb auch an diesem Tag in der gesamten christlichen Welt seiner gedacht wird und man mit zahlreichen Bräuchen sein Andenken feiert. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, wieso der Nikolaus die Kinder mit einem: »Wart ihr auch brav (und fromm)?« begrüßt. Diese Frage geht ursprünglich zurück auf das »Gleichnis von den anvertrauten Talenten«, das immer an diesem Tag gelesen wurde.

Die Geschichte ist wahrscheinlich hinlänglich bekannt, daher nur eine Kurzfassung: Ein Herr, der verreisen musste, vertraute seinen drei Knechten je nach ihren Fähigkeiten einige Talente (also Goldstücke) an. Nach seiner Rückkehr mussten sie ihm Rede und Antwort stehen, ob sie ihre Talente genutzt hatten oder sie versteckten. Und hierauf bezieht sich nun auch die Frage des Nikolaus – ob man wohl auch brav war und seine Talente genutzt hat (und nicht, wie heute fälschlicherweise angenommen wird, als Maßregelung der Kinder!).

Eine weitere Geschichte, die sich rund um die Abbildungen von Schiffen oder anderen Attributen der Seefahrt dreht ist folgende Legende: Einst gab es einen großen Sturm auf dem Meer und ein Schiff, das den Hafen von Myra ansteuern wollte, geriet in arge Not. Voller Verzweiflung riefen die Seemänner den Heiligen Nikolaus an – und wirklich: plötzlich erschien wie aus dem Nichts ein Mann, der sich ans Ruder stellte, ruhig seine Befehle gab  und das Schiff aus dem Unwetter rettete. Daraufhin verschwand er wieder und die Seeleute konnten ihre Reise fortsetzen. Sie rätselten lange herum, wer das wohl gewesen sei und als sie die Kirche von Myra betraten, um für ihre Rettung ein Dankgebet zu sprechen, erkannte sie auf einem Bild den Heiligen Nikolaus als ihren Retter.

Diese und ähnliche Geschichten und Legenden rund um den Heiligen Nikolaus waren in der christlichen Welt sehr beliebt und weit verbreitet. Im Mittelalter konnte man sie jedoch aufgrund der mangelnden Lesefähigkeit weiter Teile der Bevölkerung nicht schriftlich weitergeben, sondern man ging dazu über, diese und andere Heiligengeschichten in Form von Bildern darzustellen (nicht zuletzt deshalb ist auch das Innere der katholischen Kirchen so bildgewaltig und farbenprächtig).

Spekulatius, © firn

Irgendwann im Laufe des 10. Jahrhunderts hatte dann Mönche die findige Idee, zu Ehren des Heiligen Nikolaus nicht mehr nur einfache Bilder zu verteilen, sondern diese direkt in Holz zu schnitzen, in Teig zu pressen und daraus ein spezielles Kleingebäck herzustellen – den Spekulatius (natürlich war das keine originäre Erfindung des Mittelalters, sondern diese Technik war bereits bei den Alten Ägypten und Mesopotamiern bekannt und auch im antiken Griechenland wurde sie verwendet).

Das Ganze war allerdings eine aufwendige Arbeit, für die sich der Schreiner oder Holzschnitzer gesondert Zeit nehmen musste, die ihm dann für wichtigere Arbeiten fehlte. Das ist auch der Grund, warum sich die Motive auf den Spekulatius so oft wiederholen: denn »früher wurde der Spekulatius in einem Stücke Eichenholz geformt, in dem die Motive aufwändig eingeschnitzt wurden.« (2) Und diese aufwendige Arbeit konnte ein Mönch aus Zeitgründen nicht allzu oft ausführen. Später, als auch das gehobene Bürgertum Freude an diesem Gebäck fand, wurden die Palette der Motive natürlich zahlreicher, denn auch Kunstschnitzer und Bildhauer beschäftigten sich damit, und daher kennen wir heute auch so viele verschiedene Arten an Motiven.

Natürlich erheben heute unterschiedliche Regionen ihren Anspruch darauf, die Erfinder dieses Gebäcks zu sein, so etwa das Rheinland. Aber Forscher gehen davon aus, dass die ersten Spekulatius in den Niederlanden gebacken wurden. Auch der Theologe und Autor Becker-Huberti (3) sieht das so: »Das Gebäck hat seinen Ursprung in den heutigen Niederlanden.« Ein wichtiger Hinweis darauf ist, dass die ersten profanen Bilder, die nichts mit der Nikolausgeschichte zu tun haben, holländische Windmühlen waren und die finden sich nun einmal nur im nordwestlichen Teil der Niederlande.

Kurz möchte ich auf den Namen dieses Gebäcks eingehen – Spekulatius.

Die wahrscheinlichste Herleitung steht in direktem Zusammenhang mit dem Heiligen Nikolaus. Denn das Wort Bischof wird vom altgriechischen »ἐπίσκοπος« abgeleitet, was so viel wie »Aufseher« oder »Behüter« bedeutet. Auf Latein wiederum lautet die Bezeichnung »speculator«, woraus sich dann das Wort »Spekulatius« herleitete. Diese Herleitung findet auch die Volkskundlerin Gabi Grimm-Piecha am einleuchtendsten: »Der Begriff leitet sich wahrscheinlich von speculator ab, übersetzt Aufseher – was der lateinischen Bezeichnung für Bischof entspricht.« (4) In einem anderen Bericht geht sie sogar noch näher auf diese Bezeichnung ein, denn das Wort »speculare« bedeutet auch »beobachten«, was eine der Grundaufgaben eines Bischofes war. Denn diese mussten regelmäßig die ihnen unterstellten Pfarreien besuchen und nach dem Rechten sehen: »Das Konzil von Trient hat diese Eigenschaft des Beobachtens vor allem dem heiligen Nikolaus zugeschrieben.« (5)

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Natürlich gab es je nach Region und Mundart die verschiedensten Verballhornungen dieses Wortes wie etwa »Spikelātsje«, »Spekelātsje« oder »Spekulaties«, doch heute kennen wir dieses Gebäck nur noch unter der Bezeichnung »Spekulatius«.

Am Ende müssen wir noch eine letzte Sache ansprechen, und zwar, welche der heute bekannten Spekulatius der »richtige« ist: der Gewürzspekulatius, der Mandelspekulatius oder der Butterspekulatius. Und, um es kurz zu machen – ein jeder von ihnen. Denn wie schon gesagt ging es bei diesem Gebäck nie um die Zutaten, sondern immer nur um seine Form und die eingeprägten Bilder. Die verschiedenen Zubereitungsarten lassen sich ganz einfach erklären, denn die teuren Gewürze, die für den Gewürzspekulatius nötig waren, konnte sich der Großteil der Bevölkerung nicht leisten und daher wich man auf andere Rezepturen aus.

Deshalb gibt es heute den Gewürzspekulatius, der seinen typischen Geschmack dem verwendeten Kardamom, den Gewürznelken und dem Zimt verdankt, den Mandelspekulatius, der etwas milder schmeckt und an der Unterseite mit Mandelsplittern beschichtet ist und natürlich den Butterspekulatius. Original niederländische und belgische Spekulatius haben übrigens ein typisches Karamellaroma, das durch den verwendeten Zucker (»Basterdsuiker«, also brauner Zucker) mit seinem hohem Melasse-Anteil erreicht wird.

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