Mürrisch tritt Heinrich Hoffmann in die warme Stube und klopft einige Schneeflocken vom schwarzen Paletot. Draußen ist es bereits dunkel und der milchige Schein der Straßenlaterne scheint durch die von außen vereisten Fenster. Seine Frau Therese und der vierjährige Sohn Karl erwarten ihn schon. Der kleine Karl soll zum bevorstehenden Weihnachtsfest im Jahre 1844 mit einem schönen Bilderbuch beschenkt werden.
»Und nun bist Du stattdessen mit einem leeren Schreibheft zurückgekommen? Darüber wird sich der Junge sicher nicht besonders freuen«, entgegnet ihm seine Frau Therese.
»Aber Therese, nachdem ich allerlei Zeugs gesehen, trefflich gezeichnet, glänzend bemalt, Märchen und Geschichten von Indianern und Räubern, Bilder von Hunden und Vögeln, da stellte ich mir die Frage, was soll denn ein Kind mit all diesen Darstellungen?«
Hoffmann, der sich als Nervenarzt mit einer ganz anderen Ebene des kindlichen Gemütes befasste, stieß sich an den detaillierten und um Realitätsnähe bemühten Darstellungen.
Stattdessen findet Hoffmann eine eher dilettantische, kindgerechte Darstellungsweise für einen Vierjährigen viel passender: »Ich werde Karl ein Bilderbuch zeichnen!«, ruft er aus.
»Du willst ein Kinderbuch malen? Du bist doch Arzt und kein Autor!«, entgegnet Therese erstaunt, aber Heinrich hat den Kopf bereits voller Ideen:
Der Kontakt zu seinen kleinen Patienten hatte ihn einiges gelehrt. Bei jedem Hausbesuch kranker Kinder waren diese verschreckt, wenn der Herr Doktor mit der großen ledernen Arzttasche das Kinderzimmer betrat. Und die Eltern sorgten durch entsprechende Drohungen dafür, dass der Arzt als Respektsperson angesehen wurde. Die weinenden Kinder verstand Dr. Hoffmann aber durch schnell auf seinen Rezeptblock gekritzelte Zeichnungen abzulenken, und blitzschnell war das Fieber gemessen und eine Diagnose erstellt.
Warum also sollte er nicht für Karl ein Bilderbuch zeichnen können?
Und so geschah es! Unter dem Weihnachtsbaum 1844 in Frankfurt/M. lag ein schönes Bilderbuch mit lustigen Ansichten eines langmähnigen Jungen, der sich weigerte, zum Friseur zu gehen und sich die Fingernägel schneiden zu lassen. Auch fand man in dem Buch die Geschichte eines Buben, der seine Suppen nie aufessen wollte und dabei immer dünner wurde, bis er starb.
Ebenso fand sich dort eine Bildergeschichte eines Mädchens, das mit den gefundenen und damals gerade neu erfundenen Streichhölzern zündelte, bis es sich selbst in Brand setzte.
Das Bilderbuch erzielte beim Beschenkten die gewünschte Begeisterung.
Die blieb allerdings auch in der Familie nicht aus; und so riet man Heinrich Hoffmann nach dem Weihnachtsfest dazu, das Buch drucken zu lassen und es zu veröffentlichen. Es sei doch viel zu schade, wenn es von Karl, wie bei Kindern dieses Alters häufig üblich, auf seine »Reißfestigkeit« überprüft werden würde.

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Hoffmann lehnte das Ansinnen zunächst ab, schließlich sei er Arzt und kein Kinderbuchautor. Allerdings konnten ihn die befreundeten Verleger Zacharias Löwental und Carl-Friedrich Loening dann doch zu einer Veröffentlichung überreden.
1845 erschien unter dem Pseudonym »Reimerich Kinderlieb« die gedruckte Erstausgabe mit dem Titel »Lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von 3-6 Jahren«.
Erst ab der vierten Auflage 1847 wurde das Buch unter dem Titel »Der Struwwelpeter« veröffentlicht. Mag das Urmanuskript im Verlaufe seiner Editionsgeschichte auch manche Änderung erfahren haben, so erscheint das Buch immerhin seit 1861 in der Form, die wir noch heute kennen. In seinen posthum veröffentlichten »Lebenserinnerungen« bemerkt Hoffmann: »Ja, ich kann sagen, der Schlingel hat sich die Welt erobert, ganz friedlich, ohne Blutvergießen, und die bösen Buben sind weiter auf der Erde herumgekommen als ich. Ich habe gehört, dass man ihnen in Nord – und Südamerika, ja am Kap der guten Hoffnung, in Indien und sogar in Australien begegnet ist.«
Mittlerweile erscheint das Buch vom Struwwelpeter, vom bösen Friederich, von der unglücklichen Pauline, von den schwarzen Buben, vom wilden Jäger, vom Daumenlutscher, vom Suppenkaspar, vom Zappelphilipp, vom Hanns Guck-in-die-Luft und vom fliegenden Robert in vielen Sprachen und wurde über 540 mal aufgelegt.
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