Ein Zaubergarten in der Toskana

von Anja Weinberger

Niki de Saint Phalles Tarotgarten in der Nähe von Capalbio

Manche Menschen begleiten uns während des ganzen Lebens. Mir geht es so mit der Künstlerin Niki de Saint Phalle – wohin auch immer ich reise oder wohin wir den Wohnort verlegen, ihre Skulpturen sind schon da. Ihre herrlichen, prallen, bunten und phantasievollen Nanas habe ich – bei einer vermutlich unvollständigen Liste –  gesehen in Mannheim, Ulm, Schwäbisch Hall, Hannover, Zürich, Hamburg, Paris, Angers, Lausanne, Duisburg, Mendrisio, Freiburg, Bilbao, Nizza, Glasgow, München und natürlich in Capalbio.

Doch man sollte die Künstlerin nicht auf ihre weltberühmten, quasi der Popkultur angehörenden Nanas reduzieren. In dem kleinen toskanischen Örtchen Capalbio z. B. hat die Ausnahmekünstlerin mit ihrem damaligen Ehemann Jean Tinguely den Tarotgarten geschaffen. Nanas sind auch hier zu sehen, aber nur als Beiwerk für dieses ›Kartenspiel‹ aus bunten, glitzernden und manchmal auch beweglichen Skulpturen. Entstanden ist dieser Traumgarten zwischen 1979 und 1996, also schon im letzten Viertel des Lebens und der Karriere der unangepassten, lebenshungrigen und charismatischen Künstlerin Niki de Saint Phalle.

Die Fotos, die man von ihr kennt, zeigen eine schlanke Frau mit großen, blauen, klugen Augen und langen, braunen Haaren, die Hände beim Sprechen ständig in Bewegung. Ganz anders indes die Nanas und auch ihre weiteren Skulpturen: Üppig, kunterbunt, massiv, nicht wankend und nicht weichend, nehmen sie den Raum ein und fesseln unseren Blick. Sind Niki de Saint Phalles Nanas einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort ins Leben entlassene weibliche, selbstbewusste, provokante Objekte, die ihre Schöpferin über Nacht berühmt gemacht haben, oder steckt mehr dahinter?

1930 wurde Niki in Frankreich geboren, Kindheit und Jugend verbrachte sie zu einem großen Teil in den USA. In ihrem 1994 erschienenen Buch Mon secret[1]erfährt man, dass diese frühen Jahre vom Großbürgertum und einer Klosterschule, aber auch vom traumatischen, vielfachen sexuellen Missbrauch durch den Vater bestimmt waren. Nach einem Zusammenbruch fing sie an zu malen. Die Malerei also als Selbsttherapie, um ihre Albträume und Ängste in den Griff zu bekommen. Schon ändert sich unser Blick auf die Nanas ein wenig.

Lange vor den üppigen Damen sorgte die Künstlerin mit ihren ›Schießbildern‹[2] für Aufsehen, bei denen recht plakativ die Aufarbeitung des Erlebten im Mittelpunkt stand. Niki de Saint Phalle: »1961 schoss ich auf Papa, alle Männer, bedeutende Männer, dicke Männer, Männer, meinen Bruder, die Gesellschaft, die Kirche, den Konvent […].«[3] Und weiter:» Ich war eine zornige junge Frau, doch gibt es ja viele zornige junge Männer und Frauen, die trotzdem keine Künstler werden. […] Es war mein Schicksal. Zu anderen Zeiten wäre ich für immer in eine Irrenanstalt eingesperrt worden […]. Ich umarmte die Kunst als Erlösung und Notwendigkeit.«

Nachdem genug geschossen, genug getrauert und dem Zorn genügend Raum gegeben war, kam 1964 die Zeit der ersten Nanas. Die frühen Damen hatte Niki noch aus Kaninchendraht und Stoff hergestellt, aber bald wird sie auf Polyester umsteigen. Die Nanas: Urweiblichkeit, weiche Amazonen, urtümliche Mütterlichkeit, ›zurück in den Mutterleib‹, Körper statt Geist – das umreißt recht genau die öffentliche Wahrnehmung.

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In einer Ausstellung im ›Moderna Museet Stockholm‹ realisierte die Künstlerin 1966 ihre größte, außergewöhnlichste und auch verstörendste Nana. Sie  – eine Kathedrale war ein temporäres Kunstwerk, das nach Ende der Ausstellung wieder zerstört wurde. Man konnte die raumgroße Figur durch ein Tor, ihre Vagina, betreten. Die Künstlerin über ihre Nanas: »Ich sehe sie als Vorboten einer neuen matriarchalen Ära, die meiner Meinung nach die einzige Antwort auf den Zustand der Welt sein kann.«[4]

Längst hatte sie Jean Tinguely kennengelernt, der ihr Lebenspartner wurde und dessen mechanische Objekte sich in den kommenden Jahren häufig mit ihren Nanas oder anderen Skulpturen zu Großprojekten verbanden, wie auch im Tarotgarten, dessen Erschaffung lange Zeit einen Traum der beiden Künstler darstellte.

Und so stehen sie nun hier in der herrlichen toskanischen Landschaft – die 22 Figuren des Tarot-Kartenspiels. Vor einigen Jahren haben wir die Wochen um Pfingsten an der toskanischen Küste verbracht, eine gute Zeit, denn da ist es noch nicht zu heiß. Wir durchstreiften die Maremma mit ihrer großartigen, lebendigen Vielfalt, bestaunten die etruskischen Nekropolen und schlossen Bekanntschaft mit dem Upupa, dem Wiedehopf, der die Nacht zum Tage machen kann, klingt er doch wie eine Alarmanlage. Und selbstverständlich besuchten wir den Giardino dei Tarocchi. Schon die Anfahrt ist traumhaft – die hügelige Landschaft, der Blick auf’s Meer – und plötzlich sieht man die ersten Bewohner des Gartens über den Baumwipfeln grüßen. Der ›Turm‹ ist es, den wir zu allererst erspähen, genaugenommen der Jean-Tinguely-Teil des Turmes mit seinem anscheinend schwindelfreien Fahrrad unter der abgebrochenen, glitzernden Turmspitze.

Im Tarotgarten, © pixabay

Vom überraschend leeren Besucherparkplatz aus bewunderten wir zunächst die vom Stararchitekten Mario Botta geschaffene Eingangspforte; Tickets waren schnell gekauft, und schon standen wir auf der anderen Seite des Tores. Der Garten ist gar nicht groß, aber herrlich grün mit vielen Wegen und unterschiedlich eng bebauten und bepflanzten Arealen. Wie kommt eine französisch-amerikanische Künstlerin wohl mitten in Italien zu einem Stück Land, um es mit einem Fantasiegarten zu bevölkern? Beim Lesen einer Schautafel wird klar: Gute Freunde muss man haben, dann ist einiges machbar.

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Niki hatte in einem Gespräch mit ihrer Freundin aus Jugendtagen, Marella, vom vermutlich unerfüllbaren Traum eines Tarotgartens erzählt. Marella, unterdessen mit Gianni Agnelli verheiratet, schlug daraufhin einen Familienbesitz in der Toskana vor, auf den Hügeln eines etruskischen Steinbruchs liegend. Von da an, 1978, war Niki nicht mehr aufzuhalten. In den folgenden 20 Jahren wird sich die Künstlerin fast ausschließlich mit der Welt beschäftigen, die sie hier erschaffen möchte. Ab dem vierten Baujahr lebte sie gar in der ›Kaiserin‹, und noch heute kann man die silberne Küche und weitere Einrichtungen bewundern, die aus dieser Zeit stammen. 1982 entstand in Paris neben dem ›Centre Pompidou‹ der Stravinskybrunnen als Gemeinschaftsprojekt des Künstlerehepaares, und nur ungern verließ Niki hierfür kurzzeitig ihren Garten.

Im Tarotgarten, © pixabay

Dem Weg hinter Bottas Eingangspforte folgend, erreicht man bald die ›Hohepriesterin‹, die in Gemeinschaft mit dem ›Rad des Schicksals‹ über den Garten wacht. Wasser plätschert, Tinguelys Kunstwerke klackern regelmäßig-unregelmäßig vor sich hin, die Spiegelflächen und Wasserläufe glitzern im Sonnenschein, und der Besucher fühlt sich seltsam beschützt von diesen vielen riesigen Gestalten.

Welche Tarot-Trümpfe habe ich noch nicht genannt? Narr, Magier, Herrscherin und Herrscher, der Tod, die Liebenden, Mäßigung, Sonne und Mond – sie alle und noch mehr wird man finden und oft überrascht sein von ihrer Darstellung.

Manche sind begehbar, alle darf man berühren, überall findet das Auge Bezauberndes, auch im Kleinsten. »Un posto, che faccia gioire gli occhi e il cuore«[5], so steht es geschrieben im Tarotgarten in der Toskana. Von eigener Hand hat Niki de Saint Phalle 12 Keramikplatten mit der Entstehungsgeschichte ihres Gartens beschrieben.

Um die Unsummen für die Herstellung der großen Skulpturen bereitstellen zu können, hatte sie 1982 ein Parfüm kreiert, das in einer passenden bunten Verpackung auf den Markt kam und tatsächlich einen Teil des Skulpturengartens finanzieren konnte. Nach ›Chanel No. 5‹ in den 20er-Jahren war das der Beginn einer ganzen Flut an Parfüms, die von mehr oder weniger Prominenten entworfen wurden. Die letzten zwei Jahre der Arbeit am Tarotgarten überließ Niki ihren vertrauten Helfern und zog auf ärztlichen Rat hin in das günstigere Klima von Kalifornien.

1991 war Jean Tinguely an seiner schon lange andauernden Herzkrankheit verstorben; Ricardo Menon und Jean-Jacques Goetzman, zwei der engsten Mitarbeiter und Freunde, waren der AIDS-Welle erlegen. Niki erarbeitete ein Büchlein, das über die Gefahren dieser neuen Krankheit aufklären sollte: Vom Händchen-Halten bekommt man es nicht[6], und es entstand endlich ihr Buch Mon secret. Auch ihr selbst ging es gesundheitlich immer schlechter, die jahrzehntelange Arbeit mit Kunststoffen und den dabei entstehenden Dämpfen forderte nun ihren Tribut.

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1998 konnte sie überraschenderweise noch einmal Kraft für eine ganze Reihe Kunstwerke aufbringen, und so entstanden die Serien Schwarze Helden und noch einmal gemeinsam mit Mario Botta Arche Noah. 2000 übergab sie 300 ihrer Arbeiten dem Sprengel-Museum in Hannover – Niki machte sich also bereit für den Abschied. Und so starb die streitbare, feministische, lebenslustige Niki de Saint Phalle nach sechs qualvollen Monaten der Intensivpflege im Mai 2002 in Kalifornien. Die Grotte in den Großen Herrenhauser Gärten in Hannover wurde ihren sorgfältig erstellten Plänen folgend noch nach ihrem Tod fertiggestellt. So ist Hannover in Deutschland die Niki-de-Saint-Phalle-Stadt schlechthin.

(Dieser Text ist auch zu finden im Buch Frauengeschichten – Kulturgeschichten aus Kunst und Musik von Anja Weinberger, das im Leiermann-Verlag erschienen ist.)

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Fußnoten

[1] »Mein Geheimnis«

[2] Hinter einer präparierten Leinwand waren Farbbeutel verborgen, auf die die Künstlerin oder das Publikum schoss.

[3] Schulz-Hoffmann, Carla, u. a.: Niki de Saint Phalle, Ausstellungskatalog der Hypo-Kunststiftung. München, 1987.

[4] Ebd.

[5] Ein Ort, der Augen und Herz erfreuen soll.

[6] Saint Phalle, Niki de: Aids. Vom Händchenhalten kriegt man’s nicht. Hamburg, 1992.

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