Die Frauen der Familie Boulanger
von Anja Weinberger
Drei besonders musikalische Frauen gab es in der Familie Boulanger. Eine hieß Marie-Julie, war eine geborene Halligner und die Großmutter der anderen beiden wesentlich bekannteren mit Namen Nadia und Lili.
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Lili et Nadia Boulanger, Quelle gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France; Link zur Lizenz
Marie-Julie war die erste Künstlerin in der weiblichen Linie und hat bestimmt musikalisch und künstlerisch Günstiges an ihre beiden Enkeltöchter vererbt. Zu ihrer Zeit war sie ebenfalls eine Berühmtheit. Deshalb soll ihre Geschichte hier den Anfang machen.
Marie-Julie Halligner kam 1786 als Tochter von Kaufleuten in Paris zur Welt und wurde 1806 als Solfège-Schülerin am dortigen Konservatorium aufgenommen. Sehr viel weiß man nicht über sie; und ihre eigene Karriere wird eindeutig von denen ihrer beiden hochbegabten Enkeltöchter überstrahlt. Dazu später mehr.
Was man jedoch weiß ist, dass Marie-Julie eine ungewöhnlich schöne Stimme hatte und gute Lehrer, die diese Stimme hegten und pflegten. 1811 bejubelte das Pariser Publikum schließlich ihr Debut an der Opéra-Comique. Viele Rollen hob sie in den kommenden Jahren aus der Taufe, lebte sie doch in jener Zeit, in der Frankreich mit André-Modest Grétry, François-Adrien Boieldieu, Daniel Auber und vielen anderen auf dem Gebiet der Opéra comique einen ganz eigenen, sehr erfolgreichen Weg innerhalb der rückblickend klassisch genannten Epoche ging.
Marie-Julies Mezzosopran wird als leicht, brillant und hell beschrieben, ihr Schauspiel als sehr feinfühlig und angenehm, wobei sie durchaus auch witzig sein konnte und in äußerst unterschiedlichen Rollen glänzte. 1845 zog sie sich mit beinahe 60 Jahren von der Bühne zurück, nachdem sie nicht lange zuvor an der Uraufführung eines Werkes ihres Sohnes, des Komponisten Ernest Boulanger teilnehmen konnte. Dieser, Ernest, heiratet Jahre später die Sängerin Raïssa Mytchetzky , die ihm in der Folgezeit zwei Töchter schenken wird. Den beiden Mädchen, Nadia und Lili, war es leider nicht vergönnt ihre Großmutter kennenzulernen, denn diese starb bereits 1850 im Alter von 64, lange vor der Hochzeit und der Geburt ihrer Enkeltöchter.
Das Pariser Publikum behielt Marie-Julie Boulanger nach ihrem Tod noch lange in sehr wohlwollender Erinnerung.
1877 schließlich heiratete Ernest, damals schon in seinen frühen Sechzigern, die aus Russland stammende Aristokratin Raïssa Mytchetzky. Die junge Sängerin war nach Frankreich gekommen, um in Paris Musik zu studieren. 1887 kam ihr zweites gemeinsames Kind Nadia zur Welt, nachdem das erste Töchterchen Ernestine mit wenigen Monaten verstorben war. Die kleine Familie Boulanger lebte am Montmartre und ihre großzügig bemessene Wohnung war Anziehungspunkt für Musiker, Literaten und andere Künstlerinnen und Künstler. Musik spielte eine große Rolle im Leben aller Boulangers, auch weil der Vater Ernest immer wieder zuhause unterrichtete. Umso verblüffter waren die Eltern, als sie feststellen mussten, dass Nadia Musik so gar nicht mochte. Die Kleine weinte, hielt sich beide Ohren zu oder rannte in ein Versteck, wo sie sich für längere Zeit verkroch.
Irgendwann, es war während Raïssas dritter Schwangerschaft, änderte sich Nadias Verhalten von einem Tag auf den anderen. Plötzlich versucht sie Alltagsgeräusche wie z.B. die Feuerglocke am Klavier zu imitieren und beginnt schon kurz darauf mit großem Ernst und außergewöhnlichem Fleiß Klavier zu üben, zu singen und beim Gesangsunterricht, den der Vater nach wie vor zuhause erteilte, zuzuhören.
Im August 1893 kommt schließlich Lili zur Welt, da ist Nadia knapp sechs Jahre alt.
Dieses Schwestergespann der Familie Boulanger wird nun also 24 Jahre lang gemeinsam die Musikwelt erobern und verändern. Dann stirbt Lili nach lebenslanger Krankheit und hat in ihrem kurzen Dasein vieles erreicht, das vorher noch keiner Frau gelungen war. Und Nadia wird zu der Kompositionslehrerin des 20. Jahrhunderts, die außerdem das Werk der Schwester am Leben hielt und als Dirigentin, Organistin und Pianistin für Furore sorgte.

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Nadia studierte zunächst am Conservatoire de Paris und erhielt 1903 und 1904 erste Preise für Komposition, Harmonielehre und Orgelbegleitung. Gleich darauf begann sie zu unterrichten. Anders Lili: Nicht nur weil sie deutlich jünger war, sondern auch wegen ihrer wechselhaften Gesundheit studierte sie anfangs nicht, sondern begleitete ihre ältere Schwester lediglich, sobald ihr Alter und ihre Kräfte das zuließen. Sie erlernte privat Klavier, Violoncello, Violine und Harfe und sprach häufig mit ihrem Vater über Musik.
Der stirbt schon 1900, hinterlässt eine junge Witwe und zwei Töchter, die eine gerade zwölf Jahre alt, die andere sechs. Auch das wird mit ein Grund gewesen sein, warum Nadia so früh mit dem Unterrichten begann – jemand musste Geld verdienen.
1908 gewann Nadia einen 2. Preis im großen Prix de Rome, nicht schlecht war das, aber eben nicht der Hauptpreis. Lili hingegen war der Inbegriff eines Wunderkindes. Nach dem Tod des Vaters erhielt sie Kompositionsunterricht von Gabriel Fauré, den sie mit ihrem guten Gehör beeindruckte. Allen der im Hause Boulanger ein – und ausgehenden Musiker war es früh klar, dass da ein ungeschliffener Edelstein mit zarten Mädchenfingern erstaunliche Klänge am Klavier produzierte.
1909 wurde Lili schließlich offiziell am Konservatorium aufgenommen, obwohl sie wegen ihrer Krankheit dort nur selten erschien. Und ab 1912 bereitete sie sich gezielt auf den Prix de Rome vor, den sie unbedingt gewinnen wollte.
Um die Endrunde zu erreichen musste unter anderem eine Fuge ausgesetzt und ein vorgegebener Text als Chorsatz vertont werden. In der Endrunde selbst reichen alle Kandidaten eine Kantate mit Klavier – und Orchesterbegleitung ein. Lili konnte nicht anders, als die Arbeit immer wieder wegen schlimmer Krankheitsschübe zu unterbrechen, so dass erst 1913 zu dem großen Jahr wurde. 19-jährig gewann Lili Boulanger nun also als erste Frau den Hauptpreis des Prix de Rome in der Sparte Musik. Die intelektuelle Welt stand Kopf. Mit dieser Auszeichnung galt sie in Frankreich offiziell als Komponistin und schloss sogleich einen Vertrag mit dem Verlag Ricordi, wodurch sie finanziell unabhängig wurde. Sie ahnte wohl, dass ihr nicht viel Zeit bleiben würde und komponierte unaufhörlich. Und wirklich – schon 1918 erlag Lili Boulanger ihrer schweren Krankheit. [1]
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Nadia, die zum Zeitpunkt des Todes ihrer Schwester 30 Jahre alt ist, setzte sich nun für die Verbreitung der Werke Lilis ein. Auch die Musik Igor Stravinskys, den sie schon 1913 kennengelernt hatte und mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verband, spielte und dirigierte sie so oft wie möglich. Zwischen den beiden Weltkriegen sorgte vor allem das Mäzenatentum der Princess de Polignac [2] in Paris für regelmäßige Konzerte und Nadia Boulanger war eine der KünstlerInnen, die davon profitierten. Vermutlich war sie die erste Frau, die öffentlich ein Profiorchester dirigierte.
Vor allem begann jetzt aber Nadias Karriere als Pädagogin. Kaum jemand wird in den Folgejahren die Musikwelt so prägen wie sie. Besonders großen Einfluss hatte sie dabei auf die Entwicklungen im amerikanischen Musikleben. Ihre Wohnung in Paris war über 60 Jahre lang Treffpunkt unzähliger Komponistinnen und Komponisten aus aller Welt. Nadias grenzenloses Wissen, ihr Interesse an Alter Musik und ihre intensive Art des Unterrichtens waren beispiellos. In Scharen kamen die Musikinteressierten, um der Frau mit Monokel (später mit dicker Brille), Hochsteckfrisur und den kräftigen, schönen Pianistinnenhänden zu lauschen.
Überhäuft mit zahllosen Ehrungen unterrichtete Nadia bis zu ihrem Tod im Jahre 1979 – jeden Mittwoch in ihrer Wohnung in der Rue Ballu und an unterschiedlichen Schulen wie z.B. der Royal Academy of Music, während des 2. Weltkrieges in den USA und ab 1946 dann als Professorin am Conservatoire de Paris. Auch ihr Sommersitz in Gargenville wurde zu einem Mittelpunkt der musikalischen Szene.
Nadia Boulanger vertrat keine Lehre im eigentlichen Sinn, sondern versuchte in jeder Studentin und in jedem Studenten das Besondere zu finden und herauszulocken. In der »Boulangerie« [3], wie der Kreis um Nadia genannt wurde, konnten so unterschiedliche Musikerpersönlichkeiten wie Aaron Copland, Maurice Ravel, Arthur Honegger, Leonard Bernstein, Priaulx Rainier, Grażyna Bacewicz, Vilayat Inayat, Khan Noor-un-Nisa, Inayat Khan, Thea Musgrave, Daniel Barenboim, Elliott Carter, Pierre Schaeffer, Jean Francaix, Astor Piazolla und Virgil Thomson wachsen und gedeihen.
Nadia Boulanger hat weder ein umfangreiches kompositorisches Werk hinterlassen noch eine Harmonie- oder Kompositionslehre verfasst. Ihre Kunst bestand vielmehr darin, im Gespräch und der gemeinsamen Auseinandersetzung mit Musiktheorie und -praxis das Beste in ihren Schülerinnen und Schülern zu wecken; sie wurde verehrt und außerordentlich geschätzt von mehr als 1000 Schülern.
Viel wurde schon über diese Tatsache nachgedacht und geschrieben. Am prägnantesten tat das wieder einmal Eva Rieger in einem ihrer Texte über Nadia Boulanger:
»Die Situation vor dem 1. Weltkrieg war für Komponistinnen noch bedrückender als heute. So fand Nadia in der Musikpädagogik einen Bereich, dem ihr immenses Wissen und ihre Ausstrahlung zugutekamen. Dennoch ist es bedauerlich, dass ihr Können nur im Werk anderer weiterlebt. Sie verweigerte sich zwar der Mutterrolle, verhielt sich aber doch »weiblich«, indem sie ein Leben lang anderen Menschen diente.«
Die Spuren der Familie Boulanger in der Musikgeschichte sind auf jeden Fall nicht zu überhören.
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