Die Raben

Es ist eine meiner schönsten Erinnerungen.

Ich war wieder in den Bergen, auf den staubigen Pfaden, die ich so liebte. Bald schlug ich mich seitlich durchs Gestrüpp, kletterte entlang eines trockenen Bachbettes bergan und kam schließlich an eine unberührte Schneefläche, die hier oben den Sommer überdauerte.

Gerade, als ich sie betreten wollte, rauschte es über mir. Es waren zwei Raben, die mich, eng umschlungen, fast streiften, ihre Richtung änderten, aufstiegen und sich wieder fallen ließen, ineinander verhakt und um sich kreiselnd.

Einmal, zwei Mal, immer wieder.

Ich weiß bis heute nicht, ob ich Zeuge eines Kampfes auf Leben und Tod oder eines urtümlichen Liebesspieles war.

Aber mein Herz sang vor Freude, jubelte und jauchzte.

Und seit diesem Tag liebe ich die Raben.

 

Heute bin ich nur noch selten in den Bergen. Die staubigen Straßen rufen mich zwar noch, doch fällt es immer leichter, ihre Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Nur manchmal noch gehe ich in Parks und betrachte dort die schwarzen Vögel, sehe in ihre dunklen Augen und warte, dass mein Herz sich regt.

Doch da ist nichts mehr.

Ich sehe nur noch müde Tiere, eingezwängt in ihren Käfig, und mein Spiegelbild in ihrem Blick.

Angestarrt. Ausgeliefert. Wir alle.

Auf beiden Seiten des Käfigs.

Vielleicht denke ich deshalb, ich sei ihr Bruder?

 

Immer, wenn ich die Raben sehe, denke ich an Rimbaud.

 

„ …

Dann lass aus allen Wolken
Die Raben platzen, diese köstlichen Biester!
Entrückte Division messerscharfer Schreie,
frostige Winde attackieren eure Nester!

… “

 

Ich weiß fast nichts von diesem Dichter.

Genauso wenig, wie ich von den Raben weiß.

Doch beide, mit ihren schwarzen Augen voller Leid, scheinen mir tiefer in das Menschsein zu blicken als wir Namenlosen.

 

Und beide gaben mir dasselbe Geschenk.

An manchen Tagen sehne ich mich nach Weisheit. Will das Lebens aufsaugen, alles Wissen und alle Liebe der Welt an mich reißen und nie mehr vergessen.

Doch meistens will ich einfach nur meinen Träumen nachhängen. Will mich nicht mit Büchern beschweren, nichts von der Welt und all ihrem Leid erfahren, sondern einfach durch Andere aus mich heraus noch tiefer in mich hineingeworfen werden.

 

Und das schenken mir beide, dieses Heraustreten aus mir und dieses staunende Fallen in mein ureigenstes Selbst.

 

Rimbaud spricht vom Herbst, den ich so liebe, vom Sterben, von der Vergänglichkeit des Lebens und von den Raben, die um all das wissen.

„ …

Ihr, die gelbenden Flüsse entlang,
über Wege verblichener Golgathas
über Gräben, über Gruben
schwärmt aus, rauft euch zusammen!
Zu Tausenden, über Frankreichs Feldern,
wo die Toten von vorgestern schlafen,

… “

In mir steigen lang vergessene Bilder auf. Erinnerungen, Wahnvorstellungen, Gesichter und Schrecken.

Rimbaud ist weit mehr als nur ein Dichter. Er ist ein urtümlicher Schöpfer, der eine Welt vor uns entstehen lässt.

Er erinnert an die Schlachtfelder Frankreichs, an all die jungen Männer, die für die kalten Träume der Alten sterben mussten.

Er erinnert an all die Schlachten, die wir Menschen führen. An die Schlachtfelder in uns, in mir, an meine zerrissene Seele mit all ihren Kriegen.

 

Er erinnert mich an eine junge Frau, mit der ich nicht leben konnte, und an all das Leid, die Wut und die Verzweiflung dieser Zeit.

An einen Freund, der mich nicht hielt, und an seine Tränen.

An all die Qual, die Angst und die Leere.

Und an meine Einsamkeit.

 

Er erinnert mich an die klirrende Kälte meines Winters, der einsam ist wie der Kuss einer ungeliebten Frau, und an die Wege, die wir alleine stolpern, unserm Ziel entgegen.

 

Und all das erinnert mich an Rimbaud selbst, mein besseres Ich. Der seine Kunst von sich warf, sein Land verließ und krank zurückkehrte, wo er schließlich, jung noch und gebrochen, in der Hütte seiner Mutter starb.

Sinnbild all jener, die in ihrem Leben versagten.

All das erinnert mich an die Raben. An die Raben, die ich einmal gesehen habe.

Die sich erinnern an den Tod. Die sich erinnern an den Kampf, an das Liebesspiel, und die um ihr Ende wissen.

 

Und trotz des Winters, trotz des Eises und der Kälte, in der wir leben, erinnert es auch an die Hoffnung, die überall erblüht, selbst an Orten, an denen wir es nie vermuten würden.

Die Hoffnung in jedem aufmunternden Wort, in jeder freundlichen Geste.

Die Hoffnung, auch für uns, die wir am Boden liegen, zu Tausenden, wie die Toten von vorgestern.

 

Vielleicht gerade für uns.

 

„…

Aber Heilige der Lüfte, in Eichenkronen
– verlorener Mast am magischen Abend –
Lasst die Zaunkönige im Mai denen,
die am Grund des Waldes geknebelt
ins Gras
ohne Aussicht auf Flucht
in bodenloser Niederlage.“

„ …

Ihr, die gelbenden Flüsse entlang,
über Wege verblichener Golgathas
über Gräben, über Gruben
schwärmt aus, rauft euch zusammen!
Zu Tausenden, über Frankreichs Feldern,
wo die Toten von vorgestern schlafen,

… “

 

In mir steigen lang vergessene Bilder auf. Erinnerungen, Wahnvorstellungen, Gesichter und Schrecken.

Rimbaud ist weit mehr als nur ein Dichter. Er ist ein urtümlicher Schöpfer, der eine Welt vor uns entstehen lässt.

Er erinnert an die Schlachtfelder Frankreichs, an all die jungen Männer, die für die kalten Träume der Alten sterben mussten.

Er erinnert an all die Schlachten, die wir Menschen führen. An die Schlachtfelder in uns, in mir, an meine zerrissene Seele mit all ihren Kriegen.

 

Er erinnert mich an eine junge Frau, mit der ich nicht leben konnte, und an all das Leid, die Wut und die Verzweiflung dieser Zeit.

An einen Freund, der mich nicht hielt, und an seine Tränen.

An all die Qual, die Angst und die Leere.

Und an meine Einsamkeit.

 

Er erinnert mich an die klirrende Kälte meines Winters, der einsam ist wie der Kuss einer ungeliebten Frau, und an die Wege, die wir alleine stolpern, unserm Ziel entgegen.

 

Und all das erinnert mich an Rimbaud selbst, mein besseres Ich. Der seine Kunst von sich warf, sein Land verließ und krank zurückkehrte, wo er schließlich, jung noch und gebrochen, in der Hütte seiner Mutter starb.

Sinnbild all jener, die in ihrem Leben versagten.

All das erinnert mich an die Raben. An die Raben, die ich einmal gesehen habe.

Die sich erinnern an den Tod. Die sich erinnern an den Kampf, an das Liebesspiel, und die um ihr Ende wissen.

 

Und trotz des Winters, trotz des Eises und der Kälte, in der wir leben, erinnert es auch an die Hoffnung, die überall erblüht, selbst an Orten, an denen wir es nie vermuten würden.

Die Hoffnung in jedem aufmunternden Wort, in jeder freundlichen Geste.

Die Hoffnung, auch für uns, die wir am Boden liegen, zu Tausenden, wie die Toten von vorgestern.

 

Vielleicht gerade für uns.

 

„…

Aber Heilige der Lüfte, in Eichenkronen
– verlorener Mast am magischen Abend –
Lasst die Zaunkönige im Mai denen,
die am Grund des Waldes geknebelt
ins Gras
ohne Aussicht auf Flucht
in bodenloser Niederlage.“

Zitate und Gedichte aus: Arthur Rimbaud, Das poetische Werk, btb-Verlag, Übersetzung / Bearbeitung: Hans Therre, Rainer G. Schmidt

 Titelbild: ©Free-Photos, Pixaby Lizenz (Freie kommerzielle Nutzung, Kein Bildnachweis nötig), https://pixabay.com/

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