Henri Dutilleux‘ Sonatine für Flöte und Klavier

 

von Anja Weinberger

Für mich hat dieses Werk eine besondere Bedeutung, weil es das erste »moderne« Werk war, das ich als Schülerin komplett und aufführungsreif vorbereitet habe.

Ungefähr ab meinem 15. Geburtstag hatte ich einen sehr engagierten und empathischen Lehrer, der mich jedes Jahr wieder dazu animierte, am Wettbewerb »Jugend musiziert« teilzunehmen. Zur damaligen Zeit waren die üblichen Werke in der Sparte »Moderne Musik« ein Satz aus Hindemiths oder Bresgens Sonate oder möglicherweise Honeggers recht kurzer Danse de la chêvre. Neuere französische Flötenmusik war selten zu hören, vielleicht auch deshalb, weil der Schwerpunkt recht deutlich auf den anderen beiden Sparten »Barock« und »Klassik« lag, die auch abgedeckt werden mussten. Das hat sich natürlich in den vergangenen Jahren völlig geändert.

In diesem oben beschriebenen Jahr jedoch wählten wir – mein Lehrer und ich – zusammen Bachs E-Dur-Sonate, Mozarts G-Dur-Konzert und eben Dutilleux‘ Sonatine pour flûte aus. Um sie spielen zu können und trotzdem nicht über dem Zeitlimit zu liegen, mussten wir darauf achten, dass die beiden Sätze aus Werken Bachs und Mozarts nicht zu lange gerieten. Wir überließen also der »Moderne« einen recht großen Anteil, was damals eher ungewöhnlich, aufregend und nicht ganz ungefährlich war, weil die Jury vielleicht gerne mehr Barock oder Klassik gehört hätte?

Von all dem hatte ich jedoch keine Ahnung und war einfach begeistert. Sowieso war mir mein damaliger Lehrer ein großes Vorbild. Sein Flötenklang, seine Art zu unterrichten, aber auch sein Lebensweg beeindruckten mich außerordentlich und ich vertraute ihm ohne Zögern.

Langer Rede, kurzer Sinn: Nicht nur im zeitlichen Ablauf nahm Dutilleux viel Zeit in Anspruch, sondern auch bei der nötigen Probenarbeit und den Stunden, die ich als Gymnasiastin zum Üben aufbringen konnte. Für mich war das damals eine völlig neue Welt, in die ich mich sofort verliebte. Vermutlich war das auch der pädagogische Ansatz meines raffinierten Lehrers, denn um die Dutilleux-Sonatine rein technisch zu bewältigen, musste ich üben, üben, üben. So errang ich im Regionalwettbewerb eine traumhaft hohe Punktzahl und die völlig unerwartete Weiterleitung in die nächste Wettbewerbsebene lag vor mir.

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Henri Dutilleux wurde 1916 im schönen Ort Angers geboren. Angers liegt zwischen den Flüssen Loire und Maine und hat neben der malerischen Flusslandschaft auch noch eine herrliche Kathedrale zu bieten. Aber leider gehört das gerade nicht hierher.

Henri stammte aus einer Künstlerfamilie und begann schon als Schuljunge Klavier, Harmonielehre und Kontrapunkt zu erlernen. 1933 wurde er zum Studium am Conservatoire de Paris zugelassen, gewann den Prix de Rome und viele weitere Preise. 1942 wurde Dutilleux Chorleiter an der Opéra und war von 1945 bis 1963 Leiter der Musikproduktion beim französischen Rundfunk.

Internationalen musikalischen Durchbruch erlangte er mit der 1. Sinfonie im Jahre 1951.

Die Sonatine ist eines von Dutilleux‘ sehr frühen Werken. Sie entstand als Auftragswerk für den Concours 1943 und ist dem Flötisten Gaston Crunelle gewidmet, der damals Professor am Conservatoire war. Leider ist sie Dutilleuxs einziges Werk für Flöte geblieben.

Dazu gibt es etwas Erstaunliches zu berichten, wofür ein wenig ausgeholt werden muss:

Der Mensch Dutilleux war außerordentlich bescheiden, wurde nicht gerne auf seine zahlreichen Preise angesprochen und mochte es auch nicht, wenn eines seiner Werke größeren Erfolg hatte als andere.

Hier geht es zum Flötenblog auf der Kulturplattform „Der Leiermann“

Zu finden sind Komponisten-Biografien, Werkbeschreibungen und andere interessante Dinge, die das Flötistinnen- und Flötistenherz höher schlagen lassen.

Die neue Flöten-Sonatine von 1943 wurde sofort ins Repertoire übernommen, ist bis heute sehr beliebt und wird wesentlich häufiger gespielt als jedes andere seiner Werke. Dutilleux lässt seinen Werke-Kanon jedoch erst mit der Sonate für Klavier von 1947 beginnen.

Da die Sonatine ein frühes Werk ist, bemerkt man Einflüsse von Honegger und Roussel. Vielleicht hat ihn das gestört, denn als Komponist versuchte Dutilleux Zeit seines Lebens, Modeströmungen fernzubleiben.

Leider habe ich seine eigenen Sätze dazu nur in einer englischen Übersetzung gefunden: »I had written[…] some pieces commissioned by Claude Delvincourt, then the director of the Conservatory. He had a double aim: to make young composers explore instrumental technique […] and, at the same time, to force instrumental students to work on new scores, which Delvincourt wanted to be full of traps and technical difficulties. This is how I came to write, one after the other, pieces for bassoon, flute, oboe, and trombone; the flute piece is the Sonatine for flute and piano, which has been recorded many times abroad, although I have never wanted it to be recorded in France because it doesn’t yet sound really like my music. But I haven’t put any embargo on that.«

Und tatsächlich, mit den späteren Werken des Komponisten hat die Sonatine wenig gemeinsam. Ihre harmonischen Strukturen sind relativ einfach und erreichen noch nicht die Reife der Werke des älteren Dutilleux. Jedoch ist sie dermaßen elegant, flexibel in Metrik und Dynamik, und einfach wunderschön, so dass sie sich bis heute im Standardrepertoire der FlötistInnen hält. Selbstverständlich!

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Die Sonatine beginnt im 7/8-Takt, unisono im zweistimmigen Klavier. Nach wenigen Tönen ist das für das ganze Werk nötige Material erklungen.

Vier Takte später verwebt sich die Flötenstimme mit den nun unabhängig voneinander agierenden beiden Händen des Pianisten, und bald lässt auch die Flöte das schwebende 7/8-Thema erklingen. Man bemerkt, dass einer von Dutilleux‘ Lehrern Philippe Gaubert war, der großartigste der Flötisten zwischen den beiden Weltkriegen. Denn die Flötenstimme der Sonatine liegt sehr gut, obwohl sie rein optisch schwer erscheint.

Nun tauchen knappe Vorschläge in beiden Instrumenten auf, die vielleicht eine Erinnerung an orientalische oder impressionistische Bildkompositionen hervorrufen.

Nur kurz dauert dieses kleine Zwischenspiel und führt wieder zurück zum Anfangsgesang, der diesmal in einen flirrenden 16tel- und 32tel-Abschluss mündet, um wieder beruhigt von vorne zu beginnen.

Macht man sich die Mühe einmal nachzuzählen, so sind es meist 9 Takte des 7/8-Themas, die dann einen jeweils anderen Fortgang wählen. Und auch diesmal ist es so. Das Klavier beginnt, die Flöte kommt dazu, beide gemeinsam greifen mehrere rhythmische Varianten des 7er-Taktes auf, um dann auf eine erste Fermate zuzusteuern. Dabei dünnt sich der Klaviersatz aus zu einigen wenigen getupften Unisono-Klängen und die Flöte steigt aus der tiefsten Tiefe über Doppelzunge-Klänge hinauf ins oberste Register. »Avec une grande legéreté« verlangt der Komponist, also »mit großer Leichtigkeit«.

Es folgt eine schöne Flöten-Kadenz, die ein ganz neues, punktiertes Motiv erfindet. »avec fantaisie« wünscht sich Dutilleux und wir geben uns natürlich große Mühe, das zu befolgen. Der Pianist oder in meinem Falle die Pianistin holt den Flötisten oder die Flötistin am Ende der Kadenz ab und leitet über in ein ruhiges, expressives Andante.

Dieser Mittelteil ruht anfangs auf gleichbleibenden synkopierten Klavier-Bässen und wird dann unruhiger über bewegten Achteln, die von Triolen bevölkert sind.

Schnell ist es dann vorbei mit der Ruhe, der punktierte Kadenzrhythmus der Flöte taucht wieder auf und katapultiert die beiden Musiker in den letzten Teil.

»Animé« ist er überschrieben, also »lebhaft« und das ist wahr! Ein 16tel-Teppich, vom Pianisten gewoben, nimmt die höher liegenden 16tel der Flöte auf, die auch 32tel in ihr Spiel einbeziehen.

Alle Flötentöne zwischen c1 und c 4 sind dabei beim fröhlichen Reigen. Hier sind wir nun angekommen an der Stelle, die dem Flötisten eine besonders gute Technik abverlangt. Denn auch in der tiefsten Tiefe, um das d1 herum, soll der Flötist geschmeidige 16tel-Triolen erschaffen; gar nicht so einfach, denn das alles geschieht ja dann nur mit dem rechten kleinen Finger.

Schließlich erbarmt sich der Pianist, übernimmt das Animé-Thema und der Flötist erinnert noch einmal an die ruhigen Klänge im Andante. Nicht lange und die Rollen werden wieder getauscht. Unruhig geht es zu und metrisch verwirrend.

Aus dieser Einbahnstraße rettet uns nun eine weitere kurze, aber sehr virtuose Kadenz, die ihrerseits wiederum in den schon oben beschriebenen 16tel-Triolen endet. Diesmal jedoch ist es keine Einbahnstraße, sondern der aufstrebende, jubelnde und hochvirtuose Schlussanstieg einer spannenden Reise. Flöte und Klavier werfen sich noch einmal den Ball zu und packen ihn schließlich gemeinsam ein.

Immer wieder ein Erlebnis!

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