Ferdinando Carulli

von Thomas Stiegler

Ferdinando Maria Meinrado Francesco Pascale Rosario Carulli, besser bekannt als Ferdinando Carulli, war ein italienischer Komponist des frühen 19. Jahrhunderts und einer der bedeutendsten Gitarristen seiner Zeit.

Er wurde in Neapel geboren, das damals die Hauptstadt des »Königreichs beider Sizilien« war und dadurch einen Mittelpunkt des kulturellen Lebens im Süden der Apenninenhalbinsel bildete. Als Sohn einer stadtbekannten Persönlichkeit [1] wurde er in eine wohlhabende Familie geboren und so war es ihm möglich, neben einer allgemein humanistischen Ausbildung auch die ersten Schritte in die Welt der Musik zu machen. Denn sein Vater stellte einen Priester ein, der dem Knaben Unterricht in Musiktheorie und Cellospiel gab und der so einen stabilen Grundstock für seinen späteren Lebensweg legte.

Schon früh kam Carulli auch in Kontakt mit der Gitarre. Natürlich war sie zu jener Zeit noch nicht das klassische Soloinstrument, als die wir sie in diesem Buch behandeln, sondern sie wurde vor allem zur Liedbegleitung verwendet und galt als Instrument der einfachen Bevölkerung. So war sie zwar äußerst beliebt und ertönte in allen Gassen Neapels (vor allem des Nachts zur Begleitung der Serenaden, die Liebende für ihre Angebeteten spielten), aber als klassisches Instrument war sie noch nie in Erscheinung getreten.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Ferdinando Carulli schien aber trotzdem von ihr fasziniert gewesen zu sein, denn im Alter von nur sechzehn Jahren beschloss er, sich ihr ernsthaft zu widmen. Da er allerdings keinen Lehrer fand, der die Gitarre als vollwertiges Konzertinstrument behandelte (ein Umstand, den er mit vielen bedeutenden Gitarristen teilte), sah er sich gezwungen, sich die gesamte Spieltechnik selbst anzueignen und teilweise neu zu erfinden. Er ging dabei so zielstrebig vor, dass ihm bereits mit Mitte Zwanzig der Ruf vorauseilte, Neapels herausragendster Gitarrist zu sein. Bald aber spürte er die engen geistigen Grenzen, die seine Heimatstadt einer solch außerordentlichen Begabung setzte und so beschloss er, sie zu verlassen und sein Glück in der Ferne zu suchen.

Zuerst zog es ihn in die Toskana, wo er sich 1796 in Livorno niederließ. Hier sollte er auch seine zukünftige Gattin Marie-Joséphine Boyer kennenlernen, die er 1801 heiratete. Noch im selben Jahr wurde auch ihr einziges Kind geboren – Gustave Carulli, der später selbst Komponist wurde und seinem Vater als Professor am Pariser Nationalkonservatorium nachfolgte [2]. In Livorno war Carulli bald als bedeutender Virtuose und Lehrer bekannt und er fand den Mut, seinen Wirkungskreis abermals zu erweitern. Bald unternahm er erfolgreiche Konzertreisen, die ihn quer durch Europa führten, aber leider gibt es sehr wenige Aufzeichnungen aus dieser Zeit. Es scheint aber, dass er einige Zeit in Augsburg und Mailand verbrachte, denn in Augsburg finden sich erste Werke, die von Gombart [3] veröffentlicht wurden; und auch in Mailand erschienen im Jahr 1807 ein paar seiner Kompositionen. Nach kurzen Aufenthalten in Venedig und in Wien zog es ihn schließlich nach Paris, der damaligen »Musikhauptstadt der Welt«, die er nie mehr verlassen sollte.

Das Buch zur klassischen Gitarre – für alle, die mehr wissen wollen (inkl. QR-Codes für den ultimativen Musikgenuss)!

Geschichten zur klassischen Gitarre, von den wichtigsten Komponisten über die schönsten Werke bis hin zu den interessantesten Interpreten.

Erleben Sie die Gitarre anhand von Erzählungen aus ihrer Geschichte.

»Der Künstler kam im April 1808 in Paris an, gab einige Konzerte und hatte überwältigenden Erfolg. Schon bald wurde er zum homme à la mode, sowohl als Virtuose wie auch als Lehrer.« [4] Innerhalb kürzester Zeit gelang es ihm, die Oberschicht der französischen Hauptstadt für die Gitarre zu begeistern und einer ansonst schwer zu beeindruckenden Zuhörerschaft zu zeigen, welche Ausdruckskraft sie in den Händen eines vollendeten Spielers besitzt. Dabei war Carulli gar nicht der mitreißende Musiker, als den wir uns einen Virtuosen gerne vorstellen, aber sein Spiel zeichnete sich durch eine bezaubernde Musikalität und absolute Reinheit aus und die Zeitungen berichteten begeistert von seiner außerordentlichen Beherrschung des Instruments.

Bezeichnend für seinen Stil ist die damals noch nicht bekannte Verwendung virtuoser Techniken auf der Gitarre, wie wir sie aus der Violin- und Klavierliteratur kennen, etwa Tonleitern über das gesamte Griffbrett (auch in Terzen und Oktaven), verschiedenste Arpeggien als Begleitfigur und vieles mehr. Das alles schien er scheinbar mühelos auszuführen und auch bei Skalen über mehrere Oktaven oder ganzen Akkordkaskaden blieb er immer der kühle Beherrscher seines Instruments. Außerdem war er einer der ersten Gitarristen, der die Nägel der rechten Hand wachsen ließ, um die Saiten nicht mehr allein mit der Fingerkuppe anzuschlagen, was seinem Spiel eine größere Klarheit und Durchsichtigkeit verlieh.

So blieb Ferdinando Carulli für viele Jahre der König der Pariser Gitarrenszene, auch wenn es neben ihm noch andere beliebte Gitarristen gab wie etwa Matteo Carcassi oder Francesco Molino. Als allerdings im Jahre 1823 Fernando Sor auf den Bühnen von Paris erschien, begann sein Stern zu sinken. Eine junge Generation fühlte sich nicht nur von der eleganten Erscheinung des jungen Spaniers angezogen, sondern mehr noch von der musikalischen Tiefe seiner Werke und seines modernen Spiels [5], so dass sich Carulli mehr und mehr auf das Unterrichten [6] und die Verbreitung seiner Werke konzentrierte.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Denn neben all seinen Aufgaben fand Carulli noch die Zeit, ein umfassendes Gesamtwerk für die Gitarre zu erschaffen. Heute sind uns mehr als 400 Werke bekannt, doch leider dürften die schönsten und wichtigsten seiner Kompositionen verloren sein. Denn der Großteil seiner Kompositionen wurde als zu schwierig für den durchschnittlichen Gitarristen angesehen und die Verleger scheuten daher das Risiko, sie zu veröffentlichen. So kommt es zu der kuriosen Situation, dass einer der wichtigsten Komponisten für die Gitarre vor allem als ein Schöpfer von Anfängerliteratur bekannt ist. Carulli wagte zwar in seinen späten Jahren den Schritt, auch selbst zum Verleger zu werden, doch die meisten seiner »großen« Werke werden wohl für immer verloren sein. In diesem Zusammenhang ist auch die Aussage Carullis zu verstehen, dass er seinen guten Ruf als Komponist gar nicht verdiene.

Aber es gibt doch einige Werke, die die Qualität seiner Musik belegen, etwa die »Six Andantes« op. 320 (Matteo Carcassi gewidmet), oder die „Improvisations Musicales“ op. 265, die aus 45 sehr brillanten Präludien in unterschiedlichen Tonarten bestehen. Doch die bedeutendsten Stücke aus seiner Feder sind sicher seine Kammermusikwerke, in denen die Gitarre in den verschiedensten Besetzungen verwendet wird, etwa im Duo mit Gesang oder Klavier oder auch im Trio und mit Orchester. Seine bekanntesten Werke sind sicher die beiden Trios op. 9 und op. 12 für Gitarre, Violine und Flöte, die drei Serenaden op. 96 und die sechs Nocturnes op. 128.

Der Leiermann auch als Podcast oder Video!

Jetzt neu – der Leiermann Buchclub!

Doch die Hauptaufgabe seines Lebens sah er darin, sich auf der Gitarre zu vervollkommnen und ihre technische Entwicklung voranzutreiben. Die Frucht dieser Arbeit war seine »Méthode Op. 27«, die zu seinen Lebzeiten vier Auflagen erfuhr und später zu seinem Op. 241 umgearbeitet wurde. Sie war die erste umfassende Lehrmethode [7] für die Gitarre und nicht zuletzt durch dieses Werk wuchs sein Ruf als bedeutendster Lehrer seiner Zeit bis in die letzten Winkel Europas.

So kam es, dass besonders ab den 1830er Jahren viele Gitarristen nach Paris reisten, um bei ihm zu studieren, wodurch seine Lehrmethode zum Vorbild und Standard für den klassischen Gitarrenunterrricht wurde. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer und Komponist fand er noch die Zeit, weitere theoretische Werke zu veröffentlichen wie etwa eine „Méthode complète pour le Décacorde“ für die zehnsaitige Gitarre.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Abgesehen von der Spieltechnik der Gitarre, beschäftigte er sich auch mit ihren instrumentenspezifischen Aspekten und wurde dadurch zu einem der Wegbereiter des modernen Gitarrenbaus. Denn im frühen 19. Jahrhundert gab es die uns bekannte Gitarre noch nicht und Carullis erste Instrumente ähnelten von der Form her noch einer Laute. Bezeichnend dafür war vor allem, dass sie noch nicht sechs Einzelsaiten, sondern fünf Saitenpaare besaß, die für das Melodiespiel der klassischen Musik nicht geeignet waren. Außerdem war der Körper des Instruments deutlich kleiner und erzeugte einen Ton, der dem einer Ukulele ähnelte.

Nachdem schon zu Carullis Zeit in Neapel die doppelte Besaitung aufgegeben und mit verschiedenen Formen experimentiert wurde, setzte er diese Bemühungen später gemeinsam mit dem französischen Instrumentenbauer René François Lacôte [8] fort. Sie gaben der Gitarre einen flacheren Körper und hoben die Ausbuchtungen an ihrer Seite stärker hervor, wodurch sie eine größere Oberfläche bekam und sich ihr Volumen und ihr Klang verbesserten. Außerdem entwickelte er zusammen mit Lacôte eine zehnsaitige Gitarre [9], also eine Gitarre mit vier zusätzlichen Bass-Saiten, für die er, wie schon erwähnt, auch ein Lehrwerk schrieb.

Carulli blieb bis an sein Lebensende ein hochverehrter Musiker und starb, als ein europaweit bekannter Gitarrist und Lehrer, am 17. Februar 1841. Sein Werk liegt uns in zahlreichen Aufnahmen vor und die für mich schönsten sind das »Duo für Gitarre und Flöte« op. 190 in der Interpretation von Alexander Lagoya und Jean-Pierre Rampal und das »Duo in G« op. 34, gespielt von John Williams und Julian Bream.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Kulturgeschichten und mehr –  die klassische Gitarre im Fokus

Ein Buch von Thomas Stiegler

 

Kulturgeschichten – nicht nur für Flötisten

ein Buch von Anja Weinberger

Biografien, Werke und mehr

Quellenangaben

1 ….. Sein Vater Michele Guiseppe Carulli war Sekretär der neapolitanischen Gerichtsbarkeit.

2 ….. Allerdings nicht als Gitarrist, sondern als Gesangslehrer. Denn Ferdinando Carulli sollte in seinen späteren Jahren auch eine Gesangsklasse leiten.

3 ….. 1794 von Johann Carl Gombart gegründet. Das Verlagsprogramm versuchte, sich dem Geschmack einer möglichst breiten Bevölkerungsschicht anzupassen.

4 ….. François-Joseph Fétis, »Biographie Universelle«

5 ….. Fernando Sor (1778-1839) komponierte auch Ballettmusik und Symphonien. In seinen Kompositionen für Gitarre versuchte er nicht, die Musik der Gitarre anzupassen, sondern die Gitarre musste sich seinen musikalischen Idealen beugen.

6 ….. Carulli war nicht nur ein begnadeter Gitarrenlehrer, dessen Schüler aus ganz Europa kamen, sondern auch ein beliebter Gesangslehrer und in seinen späten Jahren Professor für Gesang am Französischen Nationalkonservatorium in Paris.

7 ….. Sie wurde 1810 veröffentlicht, fünfzehn Jahre vor Dionisio Aguados »Escuela« und ganze zwanzig Jahre vor Fernando Sors »Méthode«.

8 ….. 1785-1868

9 ….. Décachorde, auch Harfengitarre genannt.

Wollen Sie immer über die neuesten Aktivitäten beim Leiermann informiert werden?

Der Leiermann Buchverlag
Gitarre und Laute
Einführung in die Klassische Musik

Kalender-
geschichten

»Toni und die Wunderbibliothek« ist eine Hommage an die Welt der Bücher und eine liebevolle Verneigung vor unserer Geschichte und Kultur.
Bitte unterstützen Sie uns, damit Toni das Licht der Welt erblicken kann!
Zum Buch
close-link

Pin It on Pinterest

Share This