Grashalme
von Thomas Stiegler
„Ein Kind sagte: Was ist das Gras? und pflückte es mir mit vollen Händen.
Wie konnt ich dem Kinde antworten? Ich weiß nicht besser, als das Kind, was es ist.
Ich glaube, es muss die Flagge meines Wesens sein, gewoben aus hoffnungsgrünem Stoff.“
Whitmans Grashalme sind ein einziger, großer Gesang auf das Ich. Auf ein Ich, das von Freiheit singt. Von der Freiheit, alles aufzunehmen und abzubilden, das ihm begegnet, diesen ganzen wirren Kosmos, der sich Leben nennt.
Sein Lied schwingt in einem Rhythmus, der direkt aus der Erde steigt. Ein Rhythmus, der durch keine Reime eingeschränkt oder gebremst wird, sondern sich in frei fließenden Wellen immer weiter aufschwingt zu einer Hymne an Amerika und seinen Menschen.
Heute wird Whitman kaum noch gelesen. Doch das hat wenig mit seiner Sprache zu tun und auch nichts mit der verbreiteten Unlust an der Poesie.
Sondern damit, dass er von einem Ich singt, dass anders ist als alles, was wir heute kennen.
„Ich singe das Selbst, den Einzelmenschen,
Doch spreche das Wort ´demokratisch´ aus, das Wort ´En masse´.“
Dieses Ich ist nicht das unsrige. Es ist kein unzufriedenes Kleinkind das immer mehr will, mehr Spielzeug, mehr Geld, mehr Freizeit oder Macht. Und das doch niemals etwas wirklich besitzen wird.
Sondern es ist ein Ich das singt in seiner Freude am Dasein, seiner Lust am Leben und das weiß um die Verwandtschaft aller Lebewesen und der Unsterblichkeit des Seins.
Denn sein Ich war ein Ich der Liebe, in enger Verbundenheit zur Welt um ihn herum.
„Weit umfangende Erde – üppige Apfelblüten-Erde!
Lächle, denn dein Liebender kommt.“
Und ein Liebender war er wirklich. Ein Liebender der Staaten, denen er die Rolle für ihre Zukunft schrieb.
Und ein Liebender seiner Menschen, der Maurer, Schuster oder Zimmermänner, vereint mit ihnen im Glauben an die Demokratie, an die Freiheit des Individuums und der Gleichheit vor Gott.
„Ich höre Amerika singen, die vielerlei Lieder höre ich,
Die der Werkleute, jeder das seine singend, froh und laut,
Der Zimmermann das seine, während er Brett und Balken misst,
Der Maurer das seine, wenn er zur Arbeit geht oder von der Arbeit kommt,
Der Bootsmann singend von dem, was zu ihm gehört, in seinem Boot, der Matrose singend auf seinem Dampfer,
Der Schuster auf seinem Schemel, der Hutmacher an seinem Stand,
Des Holzhauers Lied, des Ackermanns unterwegs am Morgen oder in der Mittagspause oder bei Sonnenuntergang,
Das liebliche Singen der Mutter, oder der jungen Frau bei der Arbeit, oder des Mädchens beim Nähn oder Waschen,
Ein jedes singend von dem was zu ihm oder ihr und keinem sonst gehört,
Tag was zum Tag gehört – nachts die Gesellschaft junger Burschen, gutmütig, derb,
Singend aus voller Kehle ihren melodischen kraftvollen Rundgesang.“
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Denn es war die Absicht des Dichters, „ein Lied unserer Staaten zu singen.“
Aber er sprach von einem anderen Amerika, als wir es heute kennen. Er sprach von einem Land der weiten Savannen, voll von unberührter Natur und jungen Städten, in der die Seele weit ihre Flügel spannen konnte.
Wir dürfen uns nicht wundern, denn es war die Kinderzeit Amerikas, die Geburt eines neuen Menschen, einer wirklich neuen Art des Zusammenlebens, freier und unabhängiger als man es je gesehen hatte.
Und sein Traum war der Traum vieler. Auch die Dichter Europas sehnten sich nach diesem jungen Land, unbefleckt von Geschichte und jahrhundertealten Traditionen und glaubten daran, dass Amerika im Kampf um die Freiheit der restlichen Welt Jahrhunderte voraus sei.
Im Laufe seines Lebens wurden Walt Whitman und seine „Grashalme“ eins. Betrachtet man alte Bilder, dann scheint es, als würde er immer mehr „verwurzeln“, immer mehr zum alten, bärtigen Propheten Amerikas.
Alles, was er jemals dachte, alles was er erlebte und sah, wurde in das Buch eingefügt. Und alles was er schrieb wurde zur Wahrheit in seinem Leben.
Aber Whitman war nicht nur der Sänger eines freien Amerikas, der Seher einer möglichen Zukunft, sondern auch der Verkünder der Kameradschaft, der Männlichkeit und Freundschaft. Und der Männerliebe, der Liebe zwischen Männern.
„Auf unbegangenen Pfaden,
An den wuchernden Rändern sumpfiger Teiche,
Dem Leben entschlüpft, das sich zu Markte trägt,
Allen geltenden Regeln, Vergnügungen, aller Gewinnsucht, allem, was sich nach anderen richtet,
Und was sich nur allzulange meiner Seele zur Nahrung bot,
Klar erkennend bislang nicht geltende Regeln, klar erkennend, dass meine Seele,
Dass die Seele des Mannes, für den ich spreche, ihre Lust hat an Kameraden,
Einsam mit mir, fern von dem Lärm der Welt,
Zwiesprache haltend mit aromatischen Zungen,
Nicht länger scheu (denn an diesem entlegenen Ort kann ich antworten, wie ich es anderswo nicht wagen würde),
Durchglüht von dem Leben, welches sich nicht zu Markte trägt und doch all das andre enthält,
Entschlossen, keine andern Lieder heute zu singen als die von männlicher Freundschaft,
Sie auszusenden in dieses leibhaftige Leben,
Vorbild zu schaffen athletischer Liebe,
An dieses köstlichen neunten Monats Nachmittag, in meinem einundvierzigsten Jahr,
Geh ich daran, für alle, die junge Männer sind oder waren,
Auszusprechen das Geheimnis meiner Tage und Nächte,
Zu feiern das Bedürfnis nach Kameraden.“
Whitman sang das Lied des freien Mannes. Für uns heute klingt das vielleicht seltsam, eingezwängt in unser Leben, in dunklen Zimmern und verschwitzten Büros.
Aber er sang ein Lied von Männern mit stolzem, aufrechten Gang.
„ …
Siedler in Mannahatta, meiner Stadt, oder auf den Savannen des Südens,
Oder Soldat im Lager oder meinen Ranzen und Gewehr tragend, oder Goldgräber in Kalifornien,
Oder rauh behaust in Dakotas Wäldern, meine Speise Fleisch, mein Trank aus der Quelle,
Oder zurückgezogen, zu sinnen und nachzudenken in irgendeinem tiefen Versteck,
Fern von dem Lärm der Menge, Ruhepausen, entzückt und glücklich verfliegend,
… „
Whitman der Künder seiner Selbst, einer anderen Zeit und einer anderen Welt.
Wird er heute noch gehört? Ich weiß es nicht.
„Heute – welcher Gedanke! Heut´ und die kommenden Zeiten.
Dachtest Du daran, dass du selber nicht ewig fortlebst? Hast du dich schon einmal vor den Totengräberkäfern gefürchtet?
Hat es dich schon einmal geängstigt, dass die Zukunft ohne dich stattfinden soll?
Ist das heute denn nichts? Ist die unbegrenzte Vergangenheit nichts?
Wenn die Zukunft nicht ist, sind Heute und Gestern auch nichts.“
Gedichte aus: Walt Whitman, Grashalme, Diogenes Verlag 1985, Nachdichtungen von Hans Reisinger
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