Herr und Hund

von Thomas Stiegler

In unserer Welt ist es schwer geworden, sich ein erfülltes Leben überhaupt noch vorzustellen. Wir sind so sehr von unseren Wurzeln abgeschnitten, von unserer Menschlichkeit und dem, was uns ausmacht, dass die meisten Menschen schreiend zusammenbrächen, müssten sie sich einmal ungeschminkt im Spiegel sehen.

Ich will damit nicht in den geistlosen Ruf: »Zurück zur Natur!« einstimmen. Ich glaube nicht, dass wir unsere Kultur verwerfen sollten, um wieder frei zu werden, denn dafür liebe ich sie zu sehr.

Ich liebe ihre Musik, ich liebe ihre Gedanken und unsere gemeinsame Geschichte. Vor allem aber liebe ich die Literatur und die Art der Menschlichkeit, die sich nur durch die Beschäftigung mit ihr entwickeln konnte.

Aber trotzdem, manchmal glaube ich, dass wir einen zu hohen Preis für unseren Fortschritt gezahlt haben.

Soweit ich mich erinnern kann, war es Thomas Wolfe, der einmal sagte, dass eine Frau immer vollkommen ist und in sich ruht, weil sie Kinder gebiert und ihr Leben lang aufs Engste mit ihnen verbunden bleibt.

Und dass aus diesem Grund einem Mann immer etwas fehlen wird. Dass in seinem Herz ein Mangel herrscht und eine Sehnsucht, die ihn immer wieder hinaustreibt in die Welt, um sie kennenzulernen, sie zu erforschen und sich schließlich in ihr zu verlieren.

Denn egal, was er auch tut, immer bleibt eine leise Stimme zurück, die an ihm zerrt und die ihn zugleich forttreibt und nach Hause ruft.

Klingt das nach einer kruden Theorie? Altmodisch, längst überholt und fahrlässig dumm? Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, tief im Herzen kennen alle Männer diese Stimme. Diese leise Stimme, die nie verstummt und ein Leben lang nach uns ruft und an uns zerrt.

Auch heute noch, in dieser satten, zufriedenen Zeit.

Ich glaube, dass auch Thomas Mann diese Stimme kannte.

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Heute gilt er ja nur noch als Repräsentant einer längst vergangenen Zeit. Als intellektueller Artist, der mit Sprache und Formen spielte und unfähig war, wirklich tief zu empfinden.

Aber wenn das stimmt, wie hätte er dann den »Tod in Venedig« schreiben können? Wie hätte er die »Buddenbrooks« oder den »Tonio Kröger« erschaffen können, wenn nicht siedend heißes Blut durch seine Adern geflossen wäre?

Wir reduzieren ihn nur deshalb auf ein solch blasses Abbild seiner selbst, weil wir nicht mehr gewohnt sind, wirklich tief zu blicken. Und weil wir, wenn wir von Künstlern sprechen, ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit haben, dessen deutlichster Ausdruck der Boheme ist.

Der Bohemien! Dieses Bild des Künstlers als leidendes, an der Welt verzweifelndes Wesen, das abseits der Gesellschaft steht und über den man im besten Falle lächelt (aber niemals ernst nehmen kann), ist eine der dümmsten Reduktionen unserer jüngeren Kulturgeschichte.

Denn damit legen wir den Künstler fest auf ein infantiles Wesen, das nicht mehr fähig ist, seiner so wichtigen Aufgabe in unserer Gesellschaft nachzukommen.

Es mag schon stimmen, jeder Künstler braucht heißes Blut in seinen Adern, Leidenschaft und ausschließliche Hingabe an sein Werk, und das mag uns manchmal verrückt erscheinen, jedenfalls »ver- rücktheit« in Bezug zu unserer normalen Welt (ansonsten wäre er nur ein Techniker, ein Mathematiker der Form).

Aber gleichzeitig muss er eben auch hellwach sein, mit klarem Geist und einem Intellekt, der ihn zwingt, sein Werk in eine Form zu pressen und sich nicht dilettantisch in Gefühlen zu suhlen.

Jeder Künstler hat beide Seiten in sich (auch, wenn man das heute gerne vergisst), und es zeugt von seinem Mut und seinem Talent, inwieweit es ihm gelingt, diesen Zwiespalt harmonisch in seinem Werk ausschwingen zu lassen.

Mehr dazu gibt es in meinem Buch „Literaturgeschichten“.

Ein Buch, das einen alternativen Weg zur Literatur aufzeigt, einen Weg der direkten Berührung durch Texte und der sehr persönlichen Reaktion darauf.

Ein Buch voll mit Geschichten, die sie forttragen werden in eine andere Welt, die sie berühren werden, zum Nachdenken bringen, ihnen ein Leben abseits des Gewöhnlichen zeigen und dadurch ihr Leben bereichern.

Thomas Mann war ein edler Geist, ein wacher Intellekt, der sehr stark die eine Seite seines Wesens betonte.

Was aber geschah mit all den Dingen, die er bewusst zurückhielt und unterdrückte?

In seiner späten Erzählung »Der Tod in Venedig« beschreibt er es selbst. Wie sich das allzu lang zurückgestaute Leben Bahn bricht, wie es sich einen kleinen Spalt sucht, die letzten Dämme einreißt und sich in einer Sturzflut ergießt, gegen die es keinen Halt mehr gibt.

Im wahren Leben ist ihm das wahrscheinlich nie passiert (jedenfalls ist mir nichts davon bekannt).

Und so suchte sich seine Seele auf der Suche nach Freundschaft und Hingabe andere Wege suchen.

Und er fand sie. Nicht im intellektuellen Gespräch mit Freunden, im Erfolg oder in der Liebe zu einer Frau, sondern an der Seite seines Hundes.

Ich glaube sowieso, dass es zwischen einem Mann und seinem Hund ein tiefes, unverstandenes Band gibt. Tiefer, als wir es uns eingestehen wollen. Denn Hunde leben all das, was heute zu fehlen scheint. Lebendigkeit, Stärke, Mut, Klugheit und ein freies, schweifendes Leben.

Ich glaube, dass auch Thomas Manns durch die Beschäftigung mit seinem Hund Anteil an dieser Freiheit fand. Auch wenn ihm das nicht bewusst war, so spricht es doch aus jeder Zeile seiner Geschichte.

Seine Sehnsucht nach Bewegung, seine Lust auf Jagd und Freude.

»Da ist es die Jagd mit Bauschan, die mich zerstreut und erheitert, die mir die Lebensgeister weckt und mich für den Rest des Tages wieder instand setzt.«

Es berührt, wie dieser harte Geistesmensch an seinem Hunde hängt.

»Erheiterung und Sympathie bewegen mir die Brust, wie fast ohne Unterlass in seiner Gesellschaft und Anschauung.«

Und doch ist die ganze Geschichte durchdrungen von einem zarten Gefühl der Wehmut. Von dem Bewusstsein, dass er nicht der Mann war, der an der Seite dieses Freundes bestehen konnte.

»Sein Traumleben war zu offenkundig nur ein künstlicher Ersatz für wirkliches Rennen und Jagen, den seine Natur sich bereitete, weil das Glück der Bewegung im Freien ihm beim Zusammenleben mit mir nicht in dem Maße zuteil wurde, wie sein Blut und Sinn es verlangte.«

Oder, wie er mit leiser Stimme klagt:»Sein Leben ist Warten …«

die kursiv gesetzten Zeilen stammen aus: Thomas Mann, „Herr und Hund: Ein Idyll“, Fischer Taschenbuch

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