Hölderlin –  Gedichte   

„Ringsum ruhet die Stadt; still wird die erleuchtete Gasse,
Und mit Fackeln geschmückt, rauschen die Wagen hinweg.“

Abend, es wird Abend, und ich möchte ruhn.

Manchmal, wenn ich die Augen hebe, wenn ich unruhig durch die Gassen laufe und die grauen Gestalten mit ihren müden Blicken sehe, dann möchte ich schlafen.

Einsam liegen und vergessen.

 

Denn ich sehe Menschenopfer ohne Zahl, die abends nach Hause eilen, in ihre leeren Höhlen, um dort hungrig allein ihre freudlosen Tage zu beschließen.

 

War das schon immer so?

Ist das des Menschen Los?

 

„Satt gehen heim von Freuden des Tages zu ruhen die Menschen,
Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt …“

 

War es nicht gestern erst, dass wir gemeinsam tanzten?

Dass unsere Herzen zusammen sangen und wir fest auf unserer Erde standen?

 

„… fandst du, als Jüngling, doch
In den Tagen der Hoffnung,
Wenn du sangest, das Ende nie?“

Ist das denn so lange her?

 

Wir haben doch alle nur kurz weggesehen, waren nur kurz abgelenkt. Und plötzlich ist alles verschwunden.

Wie kann das sein?

Wie konnte das so schnell geschehen?

Wohin sind auf einmal die Bücher, die Musik, die großen Werke der Bildenden Kunst?

 

Ich habe Angst.

Angst vor dem, was alles sterben kann.

Angst vor dem, was schon alles verloren ist.

Und ich möchte schlafen und vergessen, möchte alles schon hinter mir haben.

 

Denn schlimmer als das Ende sind all die kleinen Tode, die wir täglich sterben. Der Verlust an Schönheit, der Verlust an Hoffnung und der Schmerz in unserer Seele.

 

 

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„Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.“

 

Die Fahnen, die mir einst so wichtig waren, die ich einst voll Stolz und Mut im Herzen trug, hängen nun einsam still im Wind.

Leblos.

Zerrissen.

Sprachlos und kalt.

 

Und nicht nur bei mir.

Irgendwann in den letzten Jahren haben wir alle unsere Spur verloren. Haben wir aufgegeben, die Schönheit verloren und sind von unseren Wegen abgekommen.

 

Auf meinen Fahnen stand die Musik, standen die Namen der Dichter, stand all das, was wir in Jahrhunderten aufgebaut hatten und das mir immer den Weg gewiesen hat.

Doch heute hängen sie leblos im Wind.

 

Merkt ihr es auch?

Die Mauern stehen sprachlos und kalt.

Die alten Tempel und Gräber, die Schlösser, Burgen, Kirchen und Museen.

Die Steine, die einst sprachen und uns zeigten, wer wir sind und wo wir gehen, sind nun leblos und tot.

 

Aber was machen wir, wenn es Winter wird?

Hinter welche Mauern sollen wir uns flüchten?

Und welche Bildern wärmen unser Herz?

 

„Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?“

 

Die Welt wir immer kälter und ärmer. Und mit ihr gemeinsam auch wir.

Seht in die Augen der Menschen, seht ihre Verzweiflung, ihre Einsamkeit, ihre Hoffnungslosigkeit und Angst.

Spürt ihr es auch?

 

Vielleicht stimmt es, was die Dichter sagen. Vielleicht sind wir wirklich ein sterbendes Geschlecht, frierend im fahlen Abendrot des Seins.

 

„… Willst du im Abendrot
Froh dich baden? Hinweg ists, und die Erde ist kalt,
Und der Vogel der Nacht schwirrt
Unbequem vor das Auge dir.“

 

Vielleicht ist heute deshalb so viel Trauer? So viel Leid, Verzweiflung, Müdigkeit und Schmerz?

Wer kann schon froh im Abendrot sich baden?

Die Erde wird kalt.

Und die Mauern, die uns schützen sollten, liegen zerborsten im Schnee.

 

Manchmal, wenn ich zu träumen versuche, meinen geliebten Schubert höre, in den Büchern von Balzac, von Hesse, Maupassant oder Rilke nach meiner Jugend suche, dann kann ich nur noch weinen und wünsche mir, zu vergehen.

Mir schmeckt diese Welt nicht mehr, in der alles Schöne flieht und die Welt in Dunkelheit versinkt.

 

 

 

 

„Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen,
Der Jugend Stunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,
April und Mai und Junius sind ferne,
Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!“

 

Doch manchmal packt mich der Grimm und ich wünsche mir, wir würden uns ermannen.

Spricht nicht ein Dichter vom Mut der Menschen im Angesicht ihres Endes? Von ihrer Verzweiflung und ihrer Kraft, die daraus erwächst?

 

Vielleicht sollten wir unser Leben nicht so verbringen. Vielleicht sollten wir noch etwas schaffen, etwas Schönes, bevor wir gehen. Der Kunst etwas zurückgeben, etwas von dem Geschenk, das sie uns gab.

 

Ich wünsche mir Museen voll mit Menschen, Konzerte, Bühnen, Opernhäuser im strahlenden Glanz.

Ich wünsche mir Künstler, die mit der Glut ihrer Werke unsere Herzen entzünden.

Ich wünsche mir Dichter, aus deren Mündern Weisheit spricht.

 

Damit die Mauern noch etwas länger halten.

Und wir nicht mehr frieren

Denn dann könnte ich in Frieden gehen.

 

Alle Zitate stammen aus: Friedrich Hölderlin, „Sämtliche Gedichte“, DKV Taschenbuch, Herausgeber Jochen Schmidt

Mehr dazu gibt es in meinem Buch: Literaturgeschichten, Kulturgeschichten aus der Welt der Literatur

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