Humanismus in der Musik

von  Bernhard Reichel

„Hier ist jener Raffael, von dem die große Mutter der Dinge fürchtete übertroffen zu werden, solange er lebte, und zu sterben, als er starb.“ 

(Pietro Bembo)

Am 6. April 1520 starb Raffael Sanzio, einer der bedeutendsten Maler der italienischen Renaissance, in einer Zeit, als der Humanismus in Rom blühte und der Vatikan so offen wie nie zuvor für das weltliche Gedankengut seiner Epoche war.

Als Giovanni di Medici 1514 zu Papst Leo X. ernannt wurde, versammelte er die bedeutendsten Künstler, Humanisten und Musiker Italiens um sich. Raffael und Michelangelo entwarfen und gestalteten den Petersdom, Pietro Bembo und Baldassare Castiglione berieten den Papst in philosophisch–theologischen Fragen und die musica segreta, die private Kapelle des Papstes, beschäftigte berühmte Musiker wie u.a. den Lautenisten Francesco da Milano.

Neue Ideen und künstlerische Prinzipien entstanden durch den regen Austausch dieser geistig/ künstlerischen Elite. Die theoretischen und poetischen Arbeiten der Gelehrten spiegelten sich umgehend in den Werken der Künstler.   Raffael wurde zum Antikenbeauftragten und dekorierte die päpstlichen Privatgemächer mit Szenen der griechischen Mythologie und Portraits griechischer Philosophen, während Kardinal Bembo Cicero kommentierte.

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Weniger offensichtlich und dennoch deutlich greift der Humanismus in die Musik ein:

Literarisch wurde der Bembismus vorherrschend, benannt nach Kardinal Pietro Bembo, dem Freund und Förderer Raffaels, der dessen Epitaph verfasste und wohl einer der bedeutendsten Intellektuellen seiner Zeit war.

Er war berühmt für die vollendete Beherrschung der lateinischen Sprache, spielte selbst die Laute und verhalf Petrarca mit einer Neuauflage der Canzoniere um 1501 zu erneutem Einfluss und Popularität.

In seiner 1525 erschienenen sprachtheoretischen Untersuchung Prose della volgar lingua definierte Pietro Bembo die italienische Sprache als Kunstsprache und etablierte neben dem Vers nun auch den lautmalerische Gehalt des Wortes zu einem wichtigen stilistischen Mittel der Lyrik. Francesco Petrarca erklärte er zum sprachlichen Vorbild sämtlicher Lyrik dieser Zeit und seine Sonette wurden zum gebräuchlichsten Material für Vertonungen.

In dieser sprachtheoretisch wichtigsten Schrift des 16. Jahrhunderts übertrug Bembo lateinische Stilmittel auf die italienische Sprache, für die damit der Weg frei wurde, zur gleichberechtigten Literatursprache neben dem Lateinischen aufzusteigen.

Dazu gehörte das decorum, der Einsatz dreier verschiedener Stilhöhen hohen, mittleren und niedrigen Niveaus abhängig vom Gegenstand der Beschreibung.

Doch Bembo ergänzte die zeitgenössische Lyrik durch zwei zusätzliche Stileigenschaften: gravità und piacevolezza.

Das besondere an diesen Eigenschaften war, dass sie nicht nur die Bedeutungsebene eines Wortes, sondern auch auf seinen Klang abzielten. Klang (suono) und Rhythmus (numero) des Wortes rückten auf diese Weise mehr denn je in das Blickfeld der Dichter, und mit ihnen kam das Bewusstsein für die der poetischen Sprache Petrarcas eigene Musikalität.

Die Bedeutungsebene von einzelnen Wörtern und Sätzen trat hinter ihrem klanglichen Ausdruck zurück, während Klang und Rhythmus zum neuartigen Transportmittel für sprachliche Bedeutung wurden.

Ein dritter Punkt in Bembos Dichtungstheorie war das Prinzip der varietas:  Die beiden Eigenschaften gravità und piacevolezza sollten sich immer wieder abwechseln, um der Gefahr der Eintönigkeit entgegenzuwirken.

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Die Reaktion der Musik war der „Madrigalismus“ – die Nachzeichnung des dichterischen Wortes durch die Komposition und die Entwicklung der vorherrschenden Form weltlicher Musik der Renaissance: des Madrigals.

Jakob Arcadelts Vertonung von Bembos Gedicht „Quand’io penso als martire“ ist ein überzeugendes Beispiel, wie Bembos Sprachtheorie und die musikalischen Entwicklungen der Zeit Hand in Hand gehen. Den Höhepunkt erreicht diese Art des Verhältnisses von Text zu Ton in den Madrigalen Carlo Gesualdos und in Monteverdis Vertonungen der Lyrik Torquato Tassos.  Erstmalig wird in der Musikgeschichte ein Punkt erreicht indem Oratio (Text) und Harmonia (Musik) gleichwertig nebeneinander ein Kunstwerk bereichern und im Ausdruck auf den Zuhörer steigern. Zuvor galt Harmonia Orationis Domina (die Musik ist dem Text übergeordnet), danach, als der theatralische Gesang aufkam, Oratio Harmoniae domina absolutissima (der Text dominiert die Musik).

Selbst Michelangelo Buonarroti übte sich in der Dichtung in diesem dolce stile nuovo. In einen Brief von 1539 beauftragte er seinen Privatsekretär die Sonette an den Komponisten Jakob Arcadelt zu senden. Als Antwort vertonte dieser Buonarrotis Gedichte „Deh, dimmi amor“ und „Io dice che fra“ woraufhin der Bildhauer den Tonkünstler beschenken ließ und sich in einem Brief sichtlich erfreut äusserte: „… il canto D’Arcadente è tenuto cosa bella…“

„…wir seien gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können – freilich nicht Dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns emporhebt.“

(Johannes von Salisbury)

100 Jahre nach dem Tod Raffaels erreichte die Idee des Humanismus, der Antikenrezeption, nun auch endgültig die Welt der Musik.

Die „Fiorentiner Camerata“, bestehend aus Musikern und Humanisten, versuchte nun die musikalischen Überlieferungen der Antike praktisch in ihren Kompositionen umzusetzen. Das neue Lauteninstrument, der Chitarrone, wurde nach der griechischen Khitara konzipiert, die Oper entstand und ihre Libretti wurden Stoffen der griechischen Mythologie entlehnt. Die „Monodie“ revolutionierte die Musikwelt – die „Seconda prattica“ wurde geboren. Statt madrigalistischer Wortausdeutung konzentrieren sich Komponisten auf die Darstellung der seelischen Befindlichkeiten, sie wollen Empathie mit Mitteln der Musik erzeugen, die Textdarstellung wird zur Darstellung menschlicher Emotionen, der Musiker wird vom Erzähler zum Darsteller. Oratio Harmoniae domina absolutissima.

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Der Humanismus gab der Musik ihre ethische Funktion zurück.

 

„Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie in alten Zeiten und in der Gegenwart immer der Musik als der besten Seelenspeise zugetan gewesen sind. (…) Plato und Aristoteles (verlangen) an einem gut erzogenen Menschen musikalische Bildung (…) weil sie unser Inneres zu ändern im Stande ist und zur Tugend drängende Triebe weckt (…).“

(Baldassare Castiglione, Il libro del Cortegiano, 1528)

 

Im Spätmittelalter wurde die Musik hauptsächlich der Lobpreisung Gottes zugewiesen, nun soll sie auch direkt auf den Menschen einwirken und ihn bewegen.

Nach Johannes Tinctoris 1473 würde Musik helfen frommer zu werden, den Teufel auszutreiben, in religiöse Begeisterung zu versetzen, aber auch fröhlich machen, Mühsal lindern und zur Liebe reizen – ob nun mit der Musik „für sich“ durch Tonarten, Rhythmus und Harmonien, oder, nach der „Fiorentiner Camerata“, durch Mimesis, die, nach Aristoteles, „Nachahmung von Handelnden, nicht Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt“.

Anlässlich des 500. Todestag Raffaels möchte ich reflektieren, welchen Wert diese humanistischen Grundideen in der Musik heute noch besitzen.

Auch den Mensch stieß der Humanismus aus seiner vita contemplativa und verwandelte ihn in den homo faber – statt einem ausschließlich Gott gewidmetem Leben wird nun das von Menschenhand gefertigte bestaunt.

Als das heutige animal laborans leben wir in der extrem schnelllebigen, konsumorientierten, digitalisierten und von Medienüberfluss geprägten Welt, in der Aufmerksamkeit als Ware gehandelt wird.

Kann Musik noch ihre damalige Wirkung als regulierendes, reflektierendes, von schlechten Emotionen befreiendes Medium haben?

 

„Die Kulturindustrie hat sich entwickelt mit der Vorherrschaft des Effekts, der handgreiflichen Leistung, der technischen Details übers Werk, das einmal die Idee trug und mit dieser liquidiert wurde.“

(Theodor W. Adorno 1969)

 

Hier geht’s zum Kulturblog beim Leiermann – Kunst, Musik, Literatur und so manches mehr …

 

Nach der Überwindung des europäischen Feudalsystems entwickelte sich die Kulturindustrie – Kunstschaffende mussten sich nach und nach den marktwirtschaftlichen Anforderungen beugen, sich nach Angebot und Nachfrage orientieren.

Musik wird heute als Dienstleistung warenförmig angeboten, der Konsument erwirbt damit quasi einen „Rechtsanspruch auf Verfügbarkeit“; „Der Erwerb eines Dinges ist prinzipiell gleichbedeutend damit, über es verfügen zu können“ (Rosa, 2019).

Wo nicht- materielle Dinge erworben werden muss die „geistige“ Verfügbarkeit gewährleistet sein. Durch dieses Diktat der Verfügbarkeit wird Musik auf bloße Unterhaltung degradiert, auf Sensation, Effekt und reine Freizeitgestaltung. Als Ornament des Lebens.

Die humanistische Funktion, die erzieherische und irritierende Qualität, verliert ihren Platz. Geld wird gegen Unterhaltung und Zerstreuung getauscht.

Doch in Zeiten in denen der Kapitalismus durch Katastrophen wie die Klimakrise, die Finanzkrise und die Coronakrise in Frage gestellt wird, besinnen sich etliche Philosophen/Soziologen mittlerweile wieder auf die ethische Funktion der Musik, wie sie ursprünglich von den antiken Philosophen und den humanistischen Gelehrten verbreitet wurde.

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Der in Jena lehrende Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa entwarf im Rahmen einer „Soziologie der Weltbeziehung“ die Resonanztheorie als ein Gegenkonzept zur allgegenwärtigen Entfremdung und spricht in ihr von alltäglichen Erfahrungen gelingender, „resonanten“ Weltbeziehungen.

Keine unwesentliche Rolle dabei spielt die Musik als Resonanzachse. Bei näherem Blick auf diese Theorie eröffnen sich, meiner Meinung nach, erstaunliche Parallelen zu den Lehren der Humanisten.

„Was bleibt von der Kunst? – Wir als Veränderte bleiben.“

(Robert Musil)

In „Unverfügbarkeit“ (2019) spricht Rosa von der „Resonanz“ als einen Beziehungsmodus, der durch vier definierte Merkmale bestimmt werden kann.

1. Das Moment der Berührung: Etwas spricht uns direkt an, bewegt uns von außen, irritiert uns.

2. Das Moment der Selbstwirksamkeit: Unsere Antwort auf die Berührung wie z.B. Gänsehaut, Tränen in den Augen, das „Sträuben der Nackenhaare“, der „Schauer, der uns über den Rücken läuft“.

3. Das Moment der Anverwandlung: die Transformation, wir werden beeinflusst, unsere Stimmung ändert sich, Gefühle ändern sich, unsere Ansichten und Affekte, ob nun kurz- oder längerfristig.

4. Das Moment der Unverfügbarkeit: Wir verwandeln uns, doch es ist unmöglich vorherzusagen in welche Richtung, auf welche Weise, mit welcher Tiefe – es entzieht sich der Kontrolle und der Planung der Subjekte. Wir können es weder kaufen, noch es uns unmittelbar verfügbar machen.

Als weitere Voraussetzung für diese Resonanzerfahrung etabliert Rosa den medio- passiven Zustand, entlehnt der altgriechischen und hebräischen Sprache.

In der derzeitigen Kulturindustrie besteht in der Regel ein Verhältnis des Aktiven (der Musiker*innen) zu dem Passiven (dem Publikum). Als „medio- passiv“ beschreibt Rosa einen Zwischenzustand, ein „beteiligt sein“, passiv genug um uns berühren oder verändern zu lassen, aktiv genug um mit eigener Stimme und selbstwirksam antworten zu können.

Doch dieser Zustand bleibt uns fern, solange der*die Künstler*in in der Rolle des marktorientierten Dienstleisters steckt und Musik als konsumier- und verfügbare Ware angesehen wird.

Könnte dieses medio- passive Verhältnis zwischen Musiker*innen und dem Publikum der Schlüssel sein, um die ehemals ethische Funktion der Musik wieder im Konzertleben zu etablieren und dem Publikum Erfahrungen zu schenken, die über Unterhaltung und Zeitvertreib hinausgehen?

Würde uns das gelingen, so wäre es wohl ganz im Sinne Bembos, Platos, Aristoteles, Castigliones, Monteverdis, Arcadelts oder Gesualdos.

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Verwendete Literatur

Dieser Text ist ein überarbeiteter Programmtext des Ensembles „Musica getutscht“. Bei näherem Interesse besuchen Sie bitte www.musicagetutscht.de oder eines unserer Konzerte

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