Johann Sebastian Bachs Sonaten für Flöte
von Anja Weinberger
Von Johann Sebastian Bach gibt es viele Sonaten für uns Flötisten und man kann sie – so man das möchte – auf unterschiedliche Art und Weise sortieren.
Folgendes ist auf jeden Fall eine sehr praktische und im täglichen Leben als Musiker häufig angewandte Einteilung:
3 Sonaten für Flöte und B.c. [1]
4 Sonaten für Flöte und obligates [2] Cembalo
4 Triosonaten für Flöte, Violine und B.c. oder 2 Flöten und B.c.
eine Partita für Flöte allein.
Oder aber man unterscheidet zwischen »ganz sicher« von Bach und »vielleicht oder vielleicht auch nicht« von ihm – da wird es dann schon komplizierter.
Oder – die dritte Variante – man wägt ab zwischen »gefällt mir« und »gefällt mir nicht«. Das ist in meinem Fall ganz einfach, denn dann steht es 12:0.
Bachs Sonaten für Flöte sind sehr unterschiedlich; spieltechnisch liegen sie zwischen »geht auch für Schüler« und »jedes Mal wieder eine Herausforderung«. Manche von ihnen spiele ich dementsprechend seit meiner frühen Zeit als Flötenschülerin und manch andere befindet sich erst seit einigen Jahren in meinem Repertoire (dazu gehört vor allem die hochkomplexe Triosonate aus dem »Musikalischen Opfer«).
Auch im Hinblick auf benutzte Tonarten ist das Feld weit: Es gibt Werke in C-Dur, a-moll, G-Dur, e-moll, h-moll, D-Dur, A-Dur, E-Dur, g-moll, c-moll und Es-Dur. Das ist durchaus ein weites Feld und nicht unbedingt üblich im barocken Repertoire. Diese wunderbare Vielfalt soll nun genauer betrachtet werden.
Die erste Bach-Sonate, die ich als Mädchen gespielt habe, war die Sonate in C-Dur für Flöte und B.c. BWV 1033.
Sie besteht aus vier sehr unterschiedlichen Sätzen und gehört zu den Sonaten, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht von Johann Sebastian Bach selbst stammen. Die Zuweisung geht auf den Sohn Carl Philipp Emanuel Bach zurück und das Werk ist in einer Abschrift von ihm in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin zu finden. Inhaltlich erscheint die kleine Sonate kaum dem »großen« Bach adäquat zu sein, ist aber für uns Flötisten sehr dankbar. Die Vermutungen, wie das Werk entstanden sein könnte, gehen weit auseinander.
Manch einer meint, es handelt sich eigentlich um ein Solowerk ohne Begleitung (vielleicht von Carl Philipp oder aber auch irgendeinem Komponisten aus der Umgebung) und Bach hat einen seiner Schüler zu Übungszwecken mit einer B.c.-Begleitung beauftragt. Andere vermuten, dass Bach oder einer seiner Schüler oder er gemeinsam mit einem Schüler den Stil Albinonis zu imitieren versuchte. Mit dessen Kompositionsweise hatte Bach sich beschäftigt. Das würde auch die ungewöhnlich vielen durchlaufenden Sechzehntel erklären.
Der erste Satz Andante – Presto ist ein harmonisch nicht sehr abwechslungsreiches, aber flötistisch und melodisch interessantes und virtuoses Sätzchen.
Im zweiten Satz Allegro kann der Flötist zeigen, was Geläufigkeit bedeutet: 48 Takte (plus Wiederholung) voller Sechzehntel. Auch der dritte Satz Adagio erinnert mit den schönen ausgeschriebenen Verzierungen an ein italienisches Adagio.
Der vierte Satz, ein Menuett, hat im Gegensatz zu den ersten drei Sätzen eine ausgeschriebene Cembalostimme, also keinen Basso-continuo-Satz, was wirklich eigenartig ist. In meinen Augen weist auch das auf einen pädagogischen Ansatz bei der Komposition hin. Letztendlich aber handelt es sich einfach um ein wunderschönes Werk, das ich gerne spiele – manchmal als Solosonate, meist aber mit Begleitung.
Die nächste Sonate, die ich kennengelernt habe, ist die Sonate in E-Dur BWV 1035.
Ihren ersten und zweiten Satz habe ich als junges Mädchen bei »Jugend musiziert« gespielt und seitdem ist E-Dur meine Lieblingstonart. [3] Dieses Werk hat Bach für den »Geheimen Kämmerier Fredersdorff« geschrieben, der am Hofe Friedrichs des Großen angestellt war. Die E-Dur-Sonate ist zwischen 1741 und 1747 entstanden, als Johann Sebastian den Potsdamer Königshof häufiger besuchte, um seinen Sohn Carl Philipp Emanuel zu sehen, der dort als Cembalist sein Geld verdiente. Es handelt sich also um ein recht spätes Werk des barocken Genies und drückt für mich ein breites Spektrum von Melancholie über Pathos bis zu echter Traurigkeit aus. Der erste Satz Adagio ma non tanto ist so hinreißend schön, wie der zweite Satz Allegro eigenwillig ist.
Der dritte Satz Siciliano ist ein zart-melancholischer (unechter) Kanon zwischen Flöte und Bass in cis-moll und als vierter Satz folgt wiederum ein Allegro, noch verblüffender als das vorherige, noch brüchiger, niemals wirklich fröhlich, sondern eher verhalten forsch. Alle vier Sätze sind technisch schwierig, nicht unbedingt fingertechnisch, aber intonatorisch und klanglich. [4] Die Sätze sind nicht sehr lang und zeigen so vielleicht eine Anlehnung an den am Hofe vorherrschenden galanten Stil.
Ganz anders die Sonate e-moll für Flöte und B.c. BWV 1034.
Komponiert wurde sie vermutlich nach 1720 in Köthen oder zu Beginn von Bachs Leipziger Zeit. Für wen dieses hochvirtuose Werk entstand, ist nicht sicher. Vorstellbar wäre, dass Bach Pierre-Gabriel Buffardin im Sinne hatte, den damals berühmten Flötisten der Dresdner Hofkapelle. Alle vier Sätze (Adagio man non tanto, Allegro, Andante, Allegro) sind weit ausschweifend, eindringlich, mit großen Bögen und voller tiefem Ernst. Für mich zeigt sich diese Sonate am deutlichsten von allen im deutschen spätbarocken Gewand. Das Adagio ma non tanto erinnert an Crucifixus-Sätze, bietet aber gleichzeitig Trost und Zuversicht. Nicht einfach zu interpretieren für einen jüngeren Menschen, der natürlich auch die technischen Schwierigkeiten wahrnimmt und vielleicht häufig ein zu langsames Tempo wählt.
Die beiden schnellen Sätze sind eng gewoben, Flöte und Basso continuo spielen miteinander und schwingen sich auf zu einmal längeren, einmal kürzeren intensiven Bögen. Keinesfalls handelt es sich um eine Begleitung zur Flötenstimme, die da von Cembalo und Cello beigesteuert wird, sondern um Partner auf Augenhöhe.
Schade, dass in allen Aufnahmen, die im Netz zu finden sind, die Flötenstimme in den Vordergrund drängt. Ein Juwel ist der dritte Satz. Eine einzige beinahe unendliche Melodie wird da gesungen. Sie breitet sich erstaunlicherweise in G-Dur aus, über einem sechstaktigen Basso ostinato, und hat etwas Tröstendes, manchmal Beschwingtes und immer Beschauliches. Sehr anspruchsvoll ist diese Sonate und verlangt dem Spieler einiges ab. Die Sätze sind lang, wenig Pausen nur lassen Zeit zum Luft holen, die vielen tiefen Passagen verbrauchen Kraft, und viele und lange Sechzehntelpassagen bis ganz am Ende im vierten Satz setzen eine durchgängige Konzentration voraus. Es hat viele Jahre des Übens gedauert, ehe ich der Meinung war, die e-moll-Sonate auf’s Programm setzen zu können.
Das Gleiche trifft natürlich auch zu auf die Partita in a-moll für Flöte allein BWV 1013.
Dieses außergewöhnliche Werk der Flötenliteratur ist vermutlich eines von Bachs ersten Werken für Flöte und entstand nach 1718 in Köthen. Nur durch Zufall wurde dieses Werk 1917 vom damaligen Thomaskantor Karl Straube am Ende einer Abschrift der Sonaten und Partiten für Violine solo entdeckt. Eine »Partita« unterscheidet sich von einer Sonate durch ihre Satzfolge. Wie auch in der Suite reihen sich in der Partita Tanzsätze aneinander. Im Falle der a-moll-Partita sind das eine Allemande, gefolgt von einer Corrente, einer Sarabande und einer Bourrée Angloise.
Im ersten Satz zeigt sich die Herausforderung auf den allerersten Blick. Sechzehntel soweit das Auge reicht. Wo soll man atmen, kann man öfter atmen, als man eigentlich phrasieren möchte, atmet man auftaktig oder doch lieber volltaktig?
Unsere Allemande ist im 4/4-Takt notiert, was im Gegensatz zum 2/2-Takt auf eine langsamere Ausführung hinweist. Aber das bezieht sich auf die sich vorzustellenden Viertel und dann sind die Sechzehntel eben schnell oder noch schneller. Alles nicht so einfach. Hat man aber einmal Land gesehen, so kommt man von der Allemande nicht los. Vermutlich hat jeder Flötist schon einmal diesen verblüffenden und süchtig machenden Moment erlebt, in dem man meint Harmonien zu erzeugen und nicht nur Einzeltöne. Der zweite Satz ist schlicht und ergreifend schwer, möchte man ihn in einem einer Corrente angemessenen Tempo spielen. Viele große Intervalle, viele gebrochene Akkorde und ein Eingangsmotiv, bei dem man nicht so recht weiß, wo es genau hinführt. Hat man ihn aber einmal im Griff, diesen Satz, so fühlt man sich wie in einem großen, fließenden Strom.
Dann der dritte Satz, der einzig wirklich langsame. Aufpassen muss man hier, dass man den Sarabanden-Charakter nicht verfehlt, denn unsere Sarabande hat weder punktierte Rhythmen zu bieten noch viele Sprünge. Ganz im Gegenteil – sie ist eher linear, mit vielen Tonleiterelementen und lieblichen Wendungen. Schnell gerät sie zu langsam, weil man so gerne diese herrliche Melodie auskosten möchte. Und dann der vierte Satz, ein echter Rausschmeißer. Fröhlich soll er klingen, unkompliziert und heiter. Man ahnt es schon, das eine oder andere steht da erst einmal im Wege, aber trotz allem ist diese Bourrée von allen vier Sätzen am leichtesten zu bewältigen. In vielen anderen Partiten folgt nach der Bourrée noch eine Gigue. Leider gibt es die hier nicht, wie schade!

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Vier Sonaten für Flöte und obligates Cembalo werden Johann Sebastian Bach mehr oder weniger sicher zugeschrieben. Diese Form mit obligatem Cembalo ist eine Neuentwicklung der damaligen Zeit, vermutlich entstanden aus der Triosonate und befördert durch den Wunsch, das Cembalo mit mehr Eigenleben auszustatten. Bach hat dafür in den meisten Fällen eigene Triosonaten umgeschrieben, in dem er eine der Solostimmen in die Cembalostimme integrierte und dem Harmonieinstrument so eine neue, wichtigere Rolle gab.
Zwei der Sonaten, die in g-moll (BWV 1020) und die in Es-Dur (BWV 1031), stammen vermutlich von Carl Philipp Emanuel Bach und nicht von seinem Vater (und Lehrer) Johann Sebastian, denn stilistisch deuten sie in die neue Zeit des galanten und empfindsamen Stiles. Unüblich war es nicht, dass Schüler sich vom Lehrer beraten ließen und das Werk dann aus Ehrerbietung nicht mehr unter dem eigenen Namen veröffentlichen wollten. Beide Sonaten sind dreisätzig mit jeweils einem besonders schönen langsamen Mittelsatz und Ecksätzen, die alle Ohrwurmcharakter haben. Interessant im ersten Satz der g-moll-Sonate ist, dass Cembalo und Flöte eigenes Themenmaterial erklingen lassen, das das jeweilig andere Instrument nicht übernimmt.
Der (authentischen) A-Dur-Sonate für Flöte und obligates Cembalo BWV 1032 liegt vermutlich ein Trio für Flöte, Violine und B.c. in C-Dur zugrunde. Ihrem ersten Satz fehlt leider ein großer Teil und diese Tatsache erschwert die Gesamtdarstellung des Werkes. Denn vermutlich war der erste Satz ähnlich wie der dritte in einer dreiteiligen Form gedacht. Ein heller, klarer Rahmen wird gefüllt von einem dunkleren, komplexeren Mittelteil. Diese Struktur ist im Anfangssatz nicht darstellbar, möchte man nur Originalnoten spielen und so gerät das Satzgleichgewicht ein wenig durcheinander. Aber letztendlich hat man durch diesen sehr verkürzten ersten Satz schneller das Vergnügen, mit einem weiteren langsamen Wunderwerk von Johann Sebastian Bach Bekanntschaft zu machen. Das Largo e dolce ist ein solches und nicht selten wird ausgerechnet dieser langsame Satz als Zugabe gefordert.
Und dann gibt es noch die Sonate h-moll für Flöte und obligates Cembalo BWV 1030. Die autographe Reinschrift der Sonate, eine der schönsten aus Bachs Feder, stammt aus den späten 1730er Jahren. Die Formen der drei Sätze wirken wie ein Kompendium spätbarocker Kompositionskunst.
Der erste Satz Andante ist eine Vermischung eines Concertosatzes mit einem Sonatensatz – hochkomplex in der Stimmführung und klang-sowie harmoniegewaltig. Im Mittelsatz Largo e dolce imitiert Bach ein Siciliano, also einen Arientypus der italienischen Oper. Und der dritte Satz Presto setzt noch einmal etwas darauf. Er beginnt als dreistimmige Fuge im 2/2-Takt und endet in einer hochvirtuosen 3/8-Gigue. Nur Bach kann innerhalb von knapp 20 Minuten alle Hauptformen seiner Zeit zusammenfassen und trotzdem nicht den Eindruck eines Lehrwerkes entstehen lassen. Die h-moll-Sonate ist ein Wunderwerk – mit hohem Anspruch an die Kondition der Musiker, denn sie fordert nicht nur prinzipiell Kraft und Kondition, sondern ist auch ungewöhnlich lang.
In diese Reihe passt auch die Triosonate c-moll BWV 1079 aus dem »Musikalischen Opfer«. Bachs Sammlung vielfältigster Ricercare und Kanons gehören zu seinem kontrapunktischen Spätwerk und enthält am Ende eine Triosonate für Flöte, Violine und B.c.. Diese Sonate basiert wie die ganze Sammlung auf einem – vermutlich – von Friedrich II. vorgeschlagenen Thema. In den vier Sätzen der Sonata hat der damals schon alte Bach in raffinierter Weise dem Geschmack des Königs gehuldigt. Er verband auf unnachahmliche Art den galanten Stil der Berliner Kompositionsschule mit seiner eigenen kontrapunktischen Kunst.
Im ersten Satz Largo hört man über einem gleichmäßigen Bass, in dem man das Königliche Thema nur erahnen kann, einen engmaschigen Dialog zwischen Flöte und Violine. Die Melodik ist durchsetzt und überhöht von Trillern, Schleifern und anderen Verzierungen, womit Bach die Vorliebe des Flötenkönigs für derlei Ausschmückungen gründlich mit Schönem versorgt.
Der zweite Satz Allegro ist eine monumentale Ausarbeitung des königlichen Themas im dreifachen Kontrapunkt. Hochkomplex in Stimmführung, Melodik und Harmonik möchte man als Zuhörer am liebsten den Atem anhalten, um nichts zu verpassen. Für den dritten Satz Andante hat schließlich die exaltierte Melodik der Berliner Hofkomponisten um Friedrich II. Pate gestanden, einer deren Hauptvertreter Bachs eigener Sohn Carl Philipp Emanuel war. Ganz ernst scheint Bach senior diese Manier jedoch nicht zu nehmen, denn allzu übertrieben kommen die Seufzerfiguren daher. Aber selbst ein vielleicht karikierender Bach ist ein großartiger Bach.
Das Finale, ein Allegro, zeigt uns das Königliche Thema noch einmal, verpackt in einer Gigue. Rhythmisch voller Tücken und spielerisch hochkomplex ist der Flötist Friedrich II. an diesem Satz vermutlich gescheitert. Ihm wurde nachgesagt, dass er Schwierigkeiten hatte, das Tempo zu halten und rhythmisch nicht ganz so sattelfest zu sein, wie auf dem Schlachtfeld. Uns Flötisten ist das egal, denn durch das Königliche Thema haben wir eine Triosonate geschenkt bekommen, die ihresgleichen sucht – und nicht findet.
Und Johann Sebastian Bach hat noch einiges mehr für Flöte komponiert.
Es gibt weitere drei Triosonaten BWV 1037 – 1039, die alle sehr unterschiedlich sind und bei denen die Besetzung, wie das im Barock häufig vorkam, flexibel ist. Spielbar sind sie mit 2 Flöten, oder mit 2 Violinen oder mit Flöte und Violine. Auch im Bachschen Kantatenwerk kommt die Flöte häufig als obligates Instrument vor. Und natürlich sind da die Brandenburgischen Konzerte und das Tripelkonzert in a-moll mit ihren vielfältigen Besetzungen, die auch die damalige Traversflöte einschließen. Als letztes hier genanntes Werk darf schließlich die Ouverture [5] h-moll BWV 1067 für Flöte, Streicher und B.c. nicht fehlen. Aus ihr stammt die so berühmte Badinerie.
Bachs Literatur für Flöte ist über einen großen Zeitraum hinweg entstanden und das muss man sich immer wieder klarmachen, wenn man die heutigen Ausgaben der Sonaten in Händen hält. Da folgt meist in einem Band die E-Dur-Sonate direkt auf die e-moll-Sonate und man ist wieder und wieder und wieder überrascht, wie unterschiedlich ein und derselbe Komponist schreiben kann. Glücklich können wir uns schätzen, dass Johann Sebastian Bach immer wieder einen Anlass fand, um für Flöte zu komponieren.