Was? Eine KomponistIN?

 

 

 

 

 

von Erich Hermann und Christine Piswanger-Richter

Johanna Müller-Hermann, Komponistin und Kompositionslehrerin

 

 

Kennen Sie die Komponistin Johanna Müller-Hermann? Nein? Aktuell verwundert das nicht sehr, zu ihren Lebzeiten war das anders und mit Hilfe dieses Beitrages soll auf ihre Musik neugierig gemacht werden.

Am 19. März 1930 kündigte die Tageszeitung »Wiener Journal« an, dass am selben Abend im vierten ordentlichen Gesellschaftskonzert der Gesellschaft der Musikfreunde ein Werk von »Johann Fr. Müller-Hermann« uraufgeführt wird. Ein erstes Indiz, dass Komponistinnen ein bisschen suspekt waren.

Konzertankündigung im »Wiener Journal« vom 19. März 1930, © Erich Hermann

Die ersten beiden Seiten des sehr ausführlichen Programmhefts dieses Konzertabends sehen so aus:

Man kann sich die Überraschung der unbefangenen Konzertbesucher vorstellen, als am Schluss der sehr erfolgreichen Uraufführung eine Frau als Komponistin das Podium betrat, um für den stürmischen Beifall zu danken.

Programmheft zum Konzert am 19. März 1930, © Erich Hermann: Pfeil deutet auf DER KOMPONIST

 

Möglicherweise war es das erste Mal, dass das Werk einer Frau, noch dazu eine abendfüllende Kantate für Soli, Chor und großes Orchester, in einem »ordentlichen Gesellschaftskonzert« der Gesellschaft der Musikfreunde – ein wahrlich elitärer Rahmen – aufgeführt wurde.

Die Veranstalter waren über ihren Schatten gesprungen. Auf den letzten Metern wäre ihnen jedoch beinahe die Luft ausgegangen. Vielleicht war die Besorgnis zu groß, das Publikum könnte ausbleiben oder es könnte Störaktionen geben, wenn sie eine Frauenkomposition vorankündigen würden. Die volle Wahrheit sollte den Zuhörern erst nachträglich zugemutet werden.

Die Aufführung – welcher Anstrengungen es bedurfte, um dieses Ziel zu erreichen, folgt später  –  war nicht nur ein Triumph für Johanna Müller-Hermann, sondern auch ein weiterer kleiner Schritt zur Anerkennung von Frauen als Komponistinnen. Im »Neuen Wiener Tagblatt« vom 25. März 1930 liest sich das in einer Kritik von Heinrich Kralik über das Konzert so:

»Es ist eine alte Erfahrung, dass bei der Verteilung der musikalisch-schöpferischen Talente auf die Geschlechter die Frauen sehr wenig günstig abgeschnitten haben. Frau Musica, ein echtes Weib, ein Weib mit Weibersinn, hält‘s entschieden mit den Männern, und es darf als seltene Ausnahme gelten, wenn sie sich einmal mit einer ihrer Geschlechtsgenossinnen ernstlich einlässt. Komponistinnen haben‘s doppelt schwer; und so muss auch doppelt viel dran sein, wenn es dann doch einer schaffenden Tonkünstlerin gelingt, ihre Zuhörerschaft zu überzeugen. Das gilt für Johanna Müller – Hermann und ihr imponierendes „Lied der Erinnerung“ im vollsten Maße. Da ist wirklich in jeder Beziehung was dran.«

So viel also zur Wertschätzung komponierender Frauen vor nicht ganz hundert Jahren.

 

 

Johannas Lebensgeschichte

Johanna Hermann wurde am 15. Januar 1868 geboren, da hatte die Musik schon längst Einzug in die Familie gehalten. Getauft wurde sie in der Wiener Innenstadt in der Kirche Am Hof »Zu den neun Chören der Engel« (ein gutes Omen?) auf die Namen Johanna Josefine Friederike.

Als ihr Vater Alois Hermann 1823 in einem Dorf im damaligen Herzogtum Österreichisch-Schlesien (heute Polen) zur Welt kam, war für ihn die Musik noch kein Thema. Er wurde im Alter von drei Jahren Halbwaise, als sein Vater bei einem Arbeitsunfall starb. Die Witwe hatte wenig Geld, aber den Ehrgeiz, ihre sechs Kinder nicht nur zu versorgen, sondern ihnen eine höhere Bildung zu ermöglichen. Dazu verlegte sie ihren Wohnsitz in die nächstgrößere Stadt Teschen (heute Cieszyn), in der es eine deutsche Hauptschule gab. Alois war mit einer Mischung von Polnisch und Deutsch als Umgangssprache aufgewachsen, dem sogenannten »Wasserpolakischen«. Beim Eintritt in die deutsche Hauptschule wurde er daher wegen mangelhafter Deutschkenntnisse um ein Schuljahr zurückversetzt, holte aber den Rückstand schnell auf und schaffte nach zwei Jahren den Übertritt ins Gymnasium.

Es war unerlässlich, dass er zum Familienunterhalt beitrug, daher gab er ab seinem 14. Lebensjahr Nachhilfeunterricht. Nach der Matura ging er nach Wien, studierte zunächst Philosophie, wechselte aber bald zur Juristerei. Auch hier war er nebenbei als Privatlehrer tätig, erwarb sogar die Befähigung zum Privatunterricht an den »Grammaticalklassen« des Gymnasiums und konnte sich so als Werkstudent sein Studium finanzieren.

»Wann kommt denn nun endlich die Musik in sein Leben?« werden Sie fragen. Geduld, da ist sie schon, und zwar in Person von Johann Vesque von Püttlingen. Der Staatsrat und spätere Sektionschef im Außenministerium hatte es durch Heirat zu einigem Vermögen gebracht und lebte nun als »Künstler und Diplomat, Poet und Weltmann«. Er komponierte auch und veröffentlichte unter dem Pseudonym J. Hoven mehrere Opern und viele Lieder. Er veranstaltete in seinem Wiener Salon Hauskonzerte und machte sein Haus zu einem kulturellen Mittelpunkt Wiens, was ihm Kontakte zu namhaften Musikerpersönlichkeiten wie Robert und Clara Schumann, Hector Berlioz, Franz Liszt, Carl Loewe, Giacomo Meyerbeer, Felix Mendelssohn Bartholdy und Otto Nicolai einbrachte, um nur die bekanntesten zu nennen. Vesque von Püttlingen war aber auch Vater von nicht weniger als zehn Kindern und engagierte Alois Hermann als „Hofmeister“, der vor allem die Kinderschar zu unterrichten hatte. Die Teilnahme am Leben in diesem musikalischen Haus hat Alois wohl nachhaltig geprägt.

Nach dem Abschluss seines Studiums 1847 begann er eine Beamtenlaufbahn in seiner schlesischen Heimat und landete schließlich im Ministerium für Cultus und Unterricht im »Department für das Volksschulwesen«. In diesem Ressort nahm seine glänzende Karriere ihren Anfang.

Auch Johannas Mutter, Antonia von der Decken-Himmelreich, wuchs ab dem sechsten Lebensjahr nach dem frühen Tod ihres Vaters als Halbwaise auf – eine bemerkenswerte Parallele im Lebenslauf von Johannas Eltern. Antonias Mutter war zwar nicht begütert, konnte aber ihren vier Kindern in Prag eine gediegene Ausbildung und eine gute Musikerziehung zukommen lassen. Sie starb, als Antonia 18 Jahre alt war. Der Vormund Johann Maresch, ein Geistlicher, war Schulrat. Das entspricht etwa dem Rang und der Tätigkeit eines Landesschulinspektors. Er hatte gute Kontakte zum Cultusministerium in Wien, kannte auch den Sektionsrat Alois Hermann und versuchte ihn für sein ältestes Mündel, die damals schon 26jährige Albertine zu interessieren. Ein Besuch Alois‘ in Prag wurde vorbereitet. Das Vorhaben entwickelte sich anders als von Maresch gedacht: Alois hatte nur Augen für die jüngere Schwester Antonia. Rund ein Jahr lang schrieben die beiden einander nahezu täglich Briefe und im Mai 1863 wurde in Prag geheiratet.

Das Paar bezog eine bescheidene Wohnung in Wien. Im August 1864 wurde ihr erstes Kind, der Sohn Albert geboren, der in den folgenden Jahrzehnten einen großen Einfluss auf die musikalische Betätigung der Familie nehmen sollte. Rund dreieinhalb Jahre nach Albert erblickte Johanna Hermann das Licht der Welt und fast drei Jahre später folgte die Geburt der jüngsten Tochter, die den Namen der Mutter, Antonia, erhielt, aber ihr ganzes Leben lang Tona genannt wurde.

Mutter Antonia nahm Gesangsunterricht, bei dem die Kinder lauschen durften. Das war ein wichtiger musikalischer Berührungspunkt für die Kinder. Früh erkannten die Eltern, dass alle drei Kinder außergewöhnlich musikalisch waren. Albert erhielt mit sieben Jahren den ersten Klavierunterricht. Für die gründliche Musikausbildung aller drei wurden keine Kosten gescheut; entsprach ein Lehrer nicht den hohen Erwartungen, wurde ein besserer gesucht.

Johanna schrieb in ihren »Erinnerungen« an den großen Bruder: »Wir waren unser drei, ein fröhliches Kleeblatt. Er war der Älteste, in Spiel und Ernst unser Anführer, das Vorbild, dem wir nachstrebten. Selten haben wir ihm freudigsten Gehorsam versagt.«[1]

Als Albert 13 Jahre alt war, kam eher zufällig der Komponist Wilhelm Westmeyer zu Besuch zur Familie Hermann. Die Kinder hörten ihm begeistert zu, als er am Klavier fantasierte; das weckte in Albert den dringenden Wusch, selbst Komponist zu werden. Inzwischen wohnte die Familie in einer großen Wohnung im Schottenhof und besaß zwei Klaviere. Dort war es möglich, im größeren Kreis zu musizieren: Albert gründete den »Musikverein Hermann«. Selbstredend waren seine Schwestern die ersten Mitglieder – Tona war damals erst fünf Jahre alt, Johanna acht Jahre – und weitere Cousinen und Cousins, sowie Freunde verstärkten das Ensemble. Mutter Antonia wurde zur »Protectorin« gekürt, so sicherte sich der findige Albert Unterstützung bei der praktischen Umsetzung seiner musikalischen Pläne. Immerhin: fast zwei Jahre lang existierte der Verein und veranstaltete einige Hauskonzerte. Diese Konzerte darf man sich nicht als netten, innerfamiliären Zeitvertreib vorstellen, da wurde ernsthaft ein Programm erarbeitet, Albert trat als Chorleiter, Pianist und Komponist auf, Johanna spielte Klavier und Tona sang. Sogar gedruckte Programmzettel gab es – 1877 noch nicht so einfach zu erstellen wie heute.

 

 

Konzertprogramm Salon Hermann vom 22. April 1877, © Erich Hermann

 

Die Geschwister Hermann: Albert, Tona und Johanna, © Erich Hermann

 

Als für die Kinder der Zeitaufwand für die Schule größer wurde, konnten sie den Verein nicht mehr weiterführen, aber er sollte nicht sang- und klanglos verschwinden. Am 30. März 1878 fand ein Abschiedskonzert statt, das Johanna als »das glanzvollste Fest unserer Kindheit« in Erinnerung behielt.

Ein Konzertsaal, ein Künstlerzimmer, eine Garderobe, ein spezieller Platz für das »Preisgericht« wurden eingerichtet, ja sogar eine »Künstlerloge« musste her. Die Wohnung wurde auf den Kopf gestellt. Die zehn Jahre alte Johanna beteiligte sich am Gesangswettbewerb und zwar bereits mit einem selbst komponierten Melodram.

Für Johanna war es also von Kindheitstagen an etwas Selbstverständliches, Musik nicht nur zu reproduzieren, sondern auch zu produzieren, teilweise auch zu eigener Lyrik.

Alle drei Kinder hätten gerne eine künstlerische Laufbahn eingeschlagen, doch der Vater bestand darauf, dass zunächst ein bürgerlicher Beruf erlernt werden sollte. Er hatte zwar eine glänzende Karriere gemacht, besaß aber kein nennenswertes Vermögen, das es seinen Kindern ermöglicht hätte, nach seinem Pensionsantritt ohne eigenen Beruf ein sorgenfreies Leben zu führen. Im Ministerium hatte er ein warnendes Bild vor Augen: täglich kam er mit hoch qualifizierten Musikern und Komponisten in Berührung, die froh waren, neben ihrer Kunst einen Beamtenposten im Staatsdienst zu bekleiden. Albert musste also mit wenig Begeisterung an der juristischen Fakultät studieren und die beiden Mädchen absolvierten die Staatslehrerinnenbildungsanstalt.

Alois Hermann – das Volksschuldepartement stand damals schon unter seiner Leitung – war ein Intimkenner des Volksschulwesens, der Lehrerausbildung und besonders der Mädchenbildung und wusste, dass diese Schule, an deren Gründung er selbst tatkräftig mitgewirkt hatte, das Optimum der damals möglichen Bildung für Mädchen vermittelte. Hier gab es ausgezeichnete Lehrkräfte. So lag etwa der Musikunterricht in den Händen von Rudolf Weinwurm, dem engen Freund Anton Bruckners, der mehrere Wiener Chöre leitete und ein hervorragender Pädagoge war. So wurden Johanna und Tona zunächst Volksschullehrerinnen und erlangten damit nebenbei das pädagogische Rüstzeug für ihre spätere Tätigkeit als Kompositions- bzw. Gesangslehrerin.

Auch in der Zeit ihres Volksschuldienstes war die Musik nach wie vor ein wichtiger Teil im Leben von Johanna und Tona. Von Albert kamen wichtige Anregungen. Einer seiner engsten Freunde und häufiger Gast in der Familie war der Musikwissenschaftler Guido Adler, der Albert in viele seiner Projekte einband. Seit 1886 leitete Albert überdies das Musikreferat der Tageszeitung Vaterland. Johanna berichtet, dass er sie oft in Konzerte oder Opernvorstellungen mitnahm. So wuchsen sie und Tona in den gesellschaftlichen Kreis hinein, der in Wien das Musikleben bestimmte.

Johanna übte den Lehrberuf – wie damals üblich – bis zu ihrer Verheiratung aus. Für Lehrerinnen galt ein Eheverbot, sie durften nach ihrer Verehelichung gar nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten.

Ihr Auserwählter, der gleichaltrige Otto Müller-Martini, war gebürtiger Innsbrucker, finalisierte sein Studium der Juristerei in Wien und wohnte wie die Familie Hermann im Wiener Schottenhof. Somit fand auch die Trauung am 19. Oktober 1893 in der Schottenkirche statt.

Otto Müller-Martini entstammte einer anerkannten Juristenfamilie und machte eine Beamtenkarriere in der Generaldirektion der Österreichischen Staatsbahnen.

 

 

Johanna hätte nach ihrer Heirat und Beendigung des Schuldienstes ausreichend Zeit gehabt, um sich ihrer wahren Berufung, dem Komponieren, zu widmen. Dazu kam es vorerst nicht. 1895 starb plötzlich ihr Bruder Albert, ein Schicksalsschlag, der die ganze Familie erschütterte. Alle Lebenspläne wurden durcheinandergeworfen.

Wahrscheinlich erst 1898 begann Johanna ein Kompositionsstudium bei Karl Nawratil, zeitgleich besuchte sie musikwissenschaftliche Vorlesungen bei Guido Adler, der in diesem Jahr an der Wiener Universität als Nachfolger von Eduard Hanslick ordentlicher Professor geworden war. Als weitere Kompositionslehrer nennt sie Josef Labor und Alexander von Zemlinsky. Mit dem Unterricht bei Labor dürfte sie nicht vor 1904 begonnen haben.

Zemlinsky trat dann 1907 auf den Plan: Als Johanna bei der Komposition ihres Streichquartetts Schwierigkeiten sah, empfahl ihr Alma Mahler, mit der sie befreundet war, von Labor zu Zemlinsky zu wechseln. In dieser Zeit hatte Johanna auch Kontakt zu Arnold Schönberg und Alban Berg. Sie studierte sehr eingehend ihre Werke und machte sich mit ihren musikalischen Ansichten vertraut. In ihrer eigenhändigen Kurzbiografie von 1940 lesen wir:

»Der tiefe Einblick in die Ziele der letzten Moderne, das nähere Bekanntwerden mit Arnold Schönbergs Ideen und denen seiner Schüler trug viel zur inneren Festigung der ganz anderen Zielen zustrebenden Komponistin bei. Beglückende Entfaltung und ersehnte Bestätigung ihrer Eigenart wurde ihr aber erst später zuteil, da sie bei Jos. B. Förster Instrumentation studierte.«[2]

Johanna verspürte immer mehr den Wunsch, nicht nur Kammermusik und Lieder, sondern auch großformatige sinfonische Orchesterwerke zu schreiben. Sie suchte einen Lehrer, der sie dabei unterstützen sollte.

1909 nahm in Wien das Neue Wiener Konservatorium seine Tätigkeit auf. Das Fach »Musiktheorie«, zu dem auch Komposition gehörte, wurde Josef Bohuslav Förster übertragen. Er war Tscheche, an die zehn Jahre älter als Johanna und ein ungemein produktiver Komponist und Musikschriftsteller. Verheiratet war er mit der prominenten Sopranistin Berta Lauterer, die in Hamburg unter der Direktion von Gustav Mahler an der Oper engagiert war. Als Mahler 1903 an die Wiener Hofoper wechselte, ging Berta Lauterer mit ihm, Josef B. Förster in ihrem Gefolge. So kam er nach Wien.

Als er seine Lehrtätigkeit am Neuen Wiener Konservatorium aufnahm, hatte er schon mehr als 80 Kompositionen veröffentlicht. Trotz einer teilweisen Annäherung an modernere Musikrichtungen verleugnete er nie sein vor allem von Dvorák beeinflusstes romantisches Musikideal. Für Johanna war der Unterricht bei Förster die perfekte Wahl. Ihr Ziel war, klangprächtige moderne Musik zu schreiben, ohne den Rahmen der Tonalität zu überschreiten. Das konnte sie unter seiner Führung verwirklichen.

Die Jahre von etwa 1910 bis 1918, in denen sie mit Förster arbeiten konnte, waren trotz der Schwierigkeiten, die der Erste Weltkrieg brachte, ihre bei weitem fruchtbarste Schaffensperiode. Günstigen Einfluss darauf hatte die intensive Zusammenarbeit mit Franz Schreker und dem von ihm gegründeten Philharmonischen Chor sowie nicht zuletzt mit dem auf neuen Wegen gehenden Verlag Universal – Edition, wo Förster und Johanna fortan ihre Kompositionen verlegten. Diese besondere Konstellation – eine erfolgshungrige Komponistin, ein an neuer Musik interessierter Verlag und ein für Aufführungen bereitstehendes Ensemble – erhöhte den Anreiz, neue Werke zu schaffen, da die berechtige Aussicht bestand, dass die Kompositionen nicht in der Schublade verschwinden würden, sondern auch aufgeführt werden konnten. Wir finden Johanna in diesen Jahren auch im Vereinsausschuss des Philharmonischen Chors.

Die Universal – Edition stieg ab 1907 zu einem der wichtigsten Verlage für zeitgenössische europäische Musik auf. Der Geschäftsführer, der die neue Richtung vorgab, war Emil Hertzka; seine Frau Yella Hertzka hatte an der Entwicklung wesentlichen Anteil. Sie setzte sich für die Förderung der Frauen in der Musik ein, war Mitbegründerin des Neuen Wiener Frauenclubs und 1921–38 Präsidentin der Internationalen Frauenliga für Friede und Freiheit. Es war wohl ihre Initiative, dass Johanna den Auftrag erhielt, für die Eröffnungsveranstaltung des Jahreskongresses dieser Liga, der 1921 in Wien stattfand, eine festliche Komposition zu schaffen, die am 11. Juli 1921 uraufgeführte Ode.

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wurde Josef B. Förster eine Professur am Konservatorium in Prag angeboten und er verließ Wien. Wie sehr er Johanna schätzte, zeigt sich darin, dass er sie als seine Nachfolgerin am Neuen Wiener Konservatorium vorschlug. Sie nahm diesen Posten an und wurde damit die erste Professorin für Komposition im deutschen Sprachraum. Mit dieser Berufung, die Johanna zeitlich sehr in Anspruch nahm, ging eine Einschränkung ihrer kompositorischen Tätigkeit einher. Nach der Ode 1921 fand beinahe zehn Jahre lang keine einzige Uraufführung statt. Aber die Lust zum Komponieren schwand nicht: Johanna arbeitete jahrelang sehr intensiv an ihrem Hauptwerk, der Lyrischen Kantate Lied der Erinnerung.

Nach der glanzvollen Uraufführung der Kantate am 19. März 1930 finden wir im Schaffen Johannas neue Werke, die auf den Einfluss von Franz Schmidt hinweisen, den sie selbst zu ihren Lehrern zählt. Wieder war es für Johanna wohl mehr ein Suchen nach männlicher Unterstützung und Bestätigung, denn was sollte eine Komponistin, die ein Riesenwerk wie die Kantate Lied der Erinnerung hervorbrachte, noch »lernen«?

In den Dreißigerjahren widmete sich Johanna wieder vermehrt kleineren Formen; praktische Gründe spielten dabei sicher eine Rolle. Den Philharmonischen Chor gab es nicht mehr, große Werke aufzuführen wurde zu teuer; das galt vor allem für Kompositionen, die den Programmgestaltern nicht mehr zeitgemäß erschienen; sie wollten kein Risiko eingehen. Wahrscheinlich über Anregung von Franz Schmidt entstand ein Klavierquintett »für die linke Hand«, das sie vergeblich dem einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein zur Aufführung anbot. Orgelmusik zu komponieren war für sie Neuland, auch dazu könnte Franz Schmidt sie angeregt haben.

Einmal ging sie noch daran, ein großes Werk zu schreiben: Von Minnelob und Glaubenstreu, Symphonische Variationen für vier Solostimmen, Chor, Orchester und Orgel. Es kam bis heute nicht zur Aufführung.

Nach dem »Anschluss« Österreichs wurden mit 11.6.1938 per Verordnung des Reichspropagandaministeriums »alle Musikschaffenden im Land Österreich« zur Mitgliedschaft in der Reichsmusikkammer verpflichtet. So wurde auch Johanna automatisch Mitglied. Wer bis 30.9.1938 den Ariernachweis nicht erbringen konnte, verlor seine Mitgliedschaft, was in der Praxis ein Aufführungsverbot bedeutete. Johanna hatte dieses Problem nicht; sie wollte weiterhin aufgeführt werden und blieb daher Mitglied. Wie die »Nachwelt« mit diesem Faktum umging, folgt noch.

Johanna Müller-Hermann starb völlig unerwartet am 14. April 1941 im Alter von 73 Jahren. Ihr Witwer Otto Müller-Martini heiratete kurz darauf wieder, überlebte aber Johanna nur um ein gutes Jahr. Seine Witwe überwarf sich mit der Familie. Bei ihr verblieb der personenbezogene Nachlass, der künstlerische Nachlass ging an die Österreichische Nationalbibliothek. Das ist mit ein Grund, warum relativ wenig persönliche Aufzeichnungen von Johanna – abseits ihres kompositorischen Schaffens – erhalten geblieben sind.

 

Johanna, die Komponistin

Johanna komponierte für unterschiedlichste Musikgattungen und nahezu alles wurde zu ihren Lebzeiten aufgeführt. Die diversen Verzeichnisse divergieren geringfügig in der Opuszahl (zwischen 37 und 39). Im Großen und Ganzen entsprechen die Opuszahlen der Zeit der Entstehung.

Ihr Leben lang hat Johanna Lieder komponiert, teils mit Klavierbegleitung, teils mit kleiner Instrumentalbesetzung oder auch mit großem Orchester. Insgesamt an die fünfzig wurden gedruckt und verlegt. Das Schreiben von Liedern war Familientradition. Albert, so berichtet Johanna in den »Erinnerungen«, besuchte seine Henriette in der Brautzeit nie, ohne ein neues Lied mitzubringen. Von Tona gibt es – auch bei der Universal – Edition verlegt – eine Reihe von Liedern.

Johannas op 1, 1903 beim Hofmusikverlag Gutmann verlegt, ist eine Sammlung von sieben Liedern. Ob diese zum Teil schon vor Beginn des Kompositionsunterrichts bei Nawratil entstanden, ist Spekulation. Möglich wäre es. Erwähnenswert ist, dass vier davon auf eigene Gedichte Johannas geschrieben wurden. Bald darauf erschienen als op.2 weitere fünf Lieder, zwei davon wieder auf eigene Gedichte, die drei anderen auf Texte von Ricarda Huch. Mit ihr dürfte Johanna persönlich bekannt gewesen sein, sie hielt sich 1897/98 einige Monate in Wien auf. Wir begegnen ihren Gedichten öfter, so etwa in den drei Liedern op. 19 und vor allem in der »Symphonie«.

Dass Johanna zunächst Lieder komponierte, ist durchaus normal. Komponieren war, wie wir schon wissen, Männersache. Man traute Frauen damals keine große schöpferische Kraft im musikalischen Bereich zu. Daher war es sehr üblich, dass sich begabte Frauen zunächst an Liedern erprobten, das gestand man ihnen gerade noch zu.

Ein sehr praktischer Grund für Johanna, sich immer wieder der Liederproduktion zuzuwenden war überdies, dass Tona sie in den zahlreichen Liederabenden ihrer Schüler und Schülerinnen einsetzen konnte.

Aber bereits mit op.3 treffen wir auf ein neues Genre. Sie veröffentlichte fünf Klavierstücke und, noch bevor Zemlinsky in ihrem Leben aktuell wurde, eine wunderschöne Violinsonate. Dann versuchte sie sich 1907 an einem Streichquartett und kam dabei in Schwierigkeiten. Sie tauschte sich darüber mit Alma Mahler aus. Diese empfahl ihr, das Werk Alexander Zemlinsky zu zeigen und machte die beiden auch bekannt. Zemlinsky hatte Alma zehn Jahre vorher Unterricht erteilt (und nicht nur das, wie die Geschichtsschreibung weiß). Er sah sich Johannas Streichquartett an und gab ihr einige Ratschläge, worauf sie ihm das fertige Werk widmete. Sie dürfte großen Gefallen am Komponieren für Streicher gewonnen haben, denn als nächstes schrieb sie ihr Streichquintett in a-moll.

https://www.youtube.com/watch?v=LhV0DIUE0f8&t=20s

Die erste Frucht des Studiums bei Förster waren zwei dreistimmige Frauenchöre mit Orchester op. 10, die Franz Schreker und der Philharmonische Chor im Dezember 1911 uraufführten. Am selben Abend wurde auch Schönbergs schon einige Jahre zuvor fertiggestelltes Chorwerk Friede auf Erden vorgestellt, weshalb das Konzert in der Tagespresse große Beachtung fand. Alban Berg hörte sich das Konzert an. Johannas Kompositionen wurden sehr wohlwollend besprochen. Einer ihrer beiden Chöre hieß Weihe der Nacht auf ein Gedicht von Friedrich Hebbel. Josef B. Försters Werkverzeichnis enthält als op. 87 zwei Frauenchöre aus derselben Zeit, einem davon, Posvěcení noci, liegt dasselbe Gedicht zugrunde. Ein Vergleich der Komposition des Lehrers mit der der Schülerin wäre interessant.

In den folgenden Jahren erschienen die (einzige) Cellosonate op.17 und einige Lieder, zum Teil mit Orchester. Ein Beispiel für ein Lied mit Klavierbegleitung ist Wie eine Vollmondnacht op.20,4, entstanden 1912.

https://www.youtube.com/watch?v=7Gpq7Fv8jao&list=RD7Gpq7Fv8jao&start_radio=1

Der Erste Weltkrieg und die anfängliche Kriegsbegeisterung inspirierten Johannas Komposition für Männerchor und Orchester Deutscher Schwur. Über den folgenreichen Irrtum, den dieses Werk hundert Jahre später auslöste, wird noch berichtet. Die beiden einzigen »reinen« Orchesterwerke, die Heroische Ouverture und die Symphonische Fantasie ‚Brand‘, die auf ein Drama von Ibsen Bezug nimmt, sowie ein Werk für Soli, Chor und Orchester Der sterbende Schwan entstanden gleichfalls in dieser fruchtbaren Periode.

Die Kriegsbegeisterung verflog sehr rasch; der sehnliche Wunsch nach Frieden erfüllt die »Symphonie«, die bei der Uraufführung im April 1919 großen Erfolg hatte. Das viersätzige Werk, dessen erster Satz rein instrumental ist, während zu den drei anderen zwei Gesangssolisten und der Chor hinzutreten, verarbeitet Gedichte von Ricarda Huch.

 

 

Cover der Druckausgabe von J. Müller-Hermanns einziger Symphonie, © Erich Hermann

 

 

Von den großen Veränderungen abgesehen, die der Untergang der Monarchie für alle Welt mit sich brachte, führte für Johanna der Weggang Försters nach Prag und ihre Bestellung zu seiner Nachfolgerin am Neuen Wiener Konservatorium zu einer völlig neuen Situation. Sie musste das Komponieren vorerst zurückstellen und sich auf ihre neue Aufgabe vorbereiten – bei ihrer Gründlichkeit ein beträchtlicher Zeitaufwand. Als Auftragswerk schrieb sie noch die Ode op. 29, die die Eröffnungsveranstaltung des Frauenkongresses am 10.7.1921 mit großem Erfolg einleitete, danach gab es vorerst keine Neuerscheinungen. Von der Ode stellte sie, vermutlich erst 1931, eine zweite Fassung für Männerchor her, die als »Uraufführung« bezeichnet vom Wiener Schubertbund zu Gehör gebracht wurde.

Das Komponieren ließ Johanna aber nicht sein. Im Gegenteil: Sie arbeitete jahrelang an einem großen, abendfüllenden Werk, der lyrischen Kantate Lied der Erinnerung. Neuerlich sollten vier Gesangssolisten, ein großer Chor und ein großes Orchester beschäftigt sein. Als Textgrundlage diente ein Gedicht Zum Gedächtnis des Präsidenten Lincoln des US-Amerikaners Walt Whitman. Die Musik zitiert verschiedene Motive aus dem Liedgut der »Indianer« und den Star-spangled banner, die amerikanische Nationalhymne. Es war Johannas Absicht, amerikanische Interessenten zu finden, um eine Aufführung in den USA zu erreichen; andererseits betonte sie auch den übernationalen Charakter des Werks. »Müller-Hermanns Kantate war also ein „Singen über nationale Grenzen hinaus“ im großen Stil, zugleich österreichisch, amerikanisch und universell« (Jennifer Ronyak).

Bereits 1926 hatte sie von wesentlichen Teilen der Komposition eine mehr als 30 Seiten lange Klavierskizze erstellt, die sie Josef B. Förster in Prag zur Durchsicht übersandte. Auch Furtwängler sah während des Schaffensprozesses die Partitur des ersten Teils und äußerte sich zunächst distanziert, später, als das Gesamtwerk vorlag, empfahl er der Gesellschaft der Musikfreunde die Aufführung. 1928 war die Komposition vollendet. Bis zur Aufführung vergingen noch zwei Jahre.

Wesentlichen Anteil daran, dass es dazu kam, hatte der Generalsekretär der Gesellschaft der Musikfreunde, Sektionschef Dr. Friedrich Dlabač, der »beste Freund« von Guido Adler, seit vielen Jahren mit Johanna und Tona befreundet, versierter Geigenpartner bei Lieder- und Hausmusikabenden – und vertraut mit allen Tricks der »Netzwerke« in Wiens Musikleben. Die Aufführung wurde ein rauschender Erfolg. Alle Kritiken anerkannten die außerordentliche Qualität der Komposition, bezeichneten sie als » eine Gipfelleistung ihrer beträchtlichen Lebensarbeit « und versicherten, dass dieses Werk »im Gedächtnis bleiben« werde. (Neue Freie Presse, 31.3.1930)

Von den Kompositionen, die in den Dreißigerjahren entstanden, ist das Klavierquintett hervorzuheben. Franz Schmidt hatte, wie etliche andere Komponisten, einige Werke »für linke Hand« für den einarmigen Paul Wittgenstein komponiert. Johanna schrieb ein Klavierquintett »für die linke Hand« und legte es Wittgenstein vor. Dieser lehnte es ab, die Komposition Johannas aufzuführen, weshalb sie das Werk »für zwei Hände« umschrieb und mit dieser Fassung großen Erfolg hatte. Eine der durchwegs sehr positiven Kritiken zählte es »zu den klarsten, geschlossensten und inhaltsreichsten Stücken der Gattung« (Musikleben, ohne Datum zitiert in „Pressestimmen“, private Sammlung JMH). Das Ensemble Louise Farrenc hat kürzlich dieses Werk und auch das Streichquintett op. 7 im kleinen Konzertsaal der »Pforte« in Feldkirch zum Erklingen gebracht.

https://www.youtube.com/watch?v=_uemgmYKaxo

Zwei reich instrumentierte, besonders klangprächtige Orchesterlieder im Zyklus op.33 waren eine Hommage an Johannas Schwester Tona. Die Texte stammen von ihr.

Ein weiterer Liederzyklus Fünf Zwiegesänge op. 36 – ‚Beatrix und der Sänger‘ fand begeisterte Zustimmung. Die Kritik bescheinigte die »hohe Gestaltungskraft der Komponistin, die nicht nur unter den schöpferischen Frauen Oesterreichs, sondern unter den österreichischen Musikern überhaupt, eine dominierende Stellung einnimmt.« (Neues Wiener Journal, 21.11.1936) Es ist bedauerlich, dass dieser Liederzyklus, der instrumental nur mit Streichquintett und Harfe besetzt ist, bei den »Wiederbelebungsversuchen« der letzten Jahre bisher nicht beachtet wurde.

Apropos Wiederbelebung: Ein sehr interessantes Experiment unternahm im Jahr 2021 das englische High Barnet Chamber Music Festival. Joshua Ballance arrangierte fünf Lieder mit Klavierbegleitung aus op.11 und op.32 von Johanna für ein kleines Instrumentalensemble.

https://www.youtube.com/watch?v=4KBwNzx07EM

Mit der zunehmenden Dominanz der Zweiten Wiener Schule und der Zwölftonmusik rückte die Musik von Johanna Müller-Hermann in den Hintergrund. Nach ihrem Tod setzte sich Tona vehement für die Erhaltung des Werks ihrer Schwester ein, rief eine »Vereinigung der Freunde und Anhänger der Kunst Johanna Müller-Hermann‘s« ins Leben und sammelte Zustimmungserklärungen von prominenten Persönlichkeiten. Der Erfolg der Aktion war mäßig. Es gab noch Liederabende, Kompositionsabende und Hausmusik. Im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach hatten die Menschen meist andere Sorgen.

Irrtümer rund um Johanna Müller-Hermann

 

Immer wieder finden sich auf verschiedenen Websites und in anderen Veröffentlichungen fehlerhafte Daten und Irrtümer. Die hartnäckigsten und folgenreichsten sind:

  • Das Geburtsjahr wird anstatt 1868 mit 1878 angegeben.
  • Die Lieder op.1 sind nicht 1895 sondern erst 1903 veröffentlicht worden.
  • Es gibt nicht zwei Cellosonaten sondern nur eine. Sie hat die Opuszahl 17. Die Opuszahl 16 ist im Werkverzeichnis nicht besetzt und daher überzählig.
  • Ein bestimmtes Bild von Alma Mahler wird fälschlich als Darstellung Johannas bezeichnet. Um zur Klärung beizutragen: Das ist Alma Mahler:

Alma Mahler, geb. Schindler, © Österreichische Nationalbibliothek

Johanna Müller-Hermann, © Erich Hermann

 

 

 

… und das daneben, mit Hut, Johanna Müller-Hermann.

So ähnlich sehen sich die beiden nun auch wieder nicht!

  • Johanna sympathisierte niemals mit den Nazis. Die Verdachtsmomente sind leicht zu entkräften. Das ist in dem nachfolgenden Gespräch mit Erich Hermann thematisiert.
  • Gelegentlich wird behauptet, Johanna hätte am Konservatorium »nur« Musiktheorie unterrichtet, nicht jedoch Komposition. Auch dies ist unrichtig. Sie war die erste Kompositionslehrerin an einem deutschsprachigen Konservatorium.

Hier geht es zum Blog über Frauen in Kunst, Musik und Geschichte – natürlich auf der Kulturplattform „Der Leiermann“

 

Was noch zu sagen wäre. Ein Gespräch mit Erich Hermann

Johanna Müller-Hermann hinterließ ebenso wie ihre Schwester Tona keine Nachkommen. Aber ihr Bruder Albert hinterließ zwei Söhne – Wilhelm und Walter – und Walter Hermann ist der Vater von Dr. Erich Hermann, der sich seit geraumer Zeit mit der Biografie und dem künstlerischen Schaffen seiner Großtante befasst. Er stellte sehr umfangreiches Recherchematerial für diesen Beitrag zur Verfügung. Mit ihm wurde das nachstehende Gespräch geführt:

Kannten Sie Johanna Müller-Hermann persönlich?

Als Johanna 1941 starb, war ich gerade erst zwei Jahre alt. Ich habe natürlich keine Erinnerung an sie. Wahrscheinlich hat sie mich noch gesehen, mit meinem Vater Walter Hermann, also ihrem Neffen, hatte sie regelmäßig Kontakt, er hat bei ihr Komposition studiert und wurde gemeinsam mit Johannas Schwester Tona Erbe der Urheberrechte. An Tona kann ich mich noch gut erinnern, sie überlebte ihre Schwester um mehr als ein Vierteljahrhundert und starb 1969 im Alter von 97 Jahren.

Johanna Müller-Hermann wurde zu Lebzeiten sehr häufig aufgeführt. Wer förderte sie?

Immer wieder bin ich überrascht, wie viele von den »Netzwerken«, die generell für das Fortkommen jedes Künstlers und seine Bekanntheit in der Öffentlichkeit so bedeutsam sind, bei Johanna schon in der Jugendzeit vorhanden waren. Das ist zum einen ihrem Bruder Albert zu danken, der eine starke Anziehungskraft auf bedeutende Persönlichkeiten wie den Musikwissenschaftler Guido Adler, den Chordirigenten Rudolf Weinwurm oder den Hofmusikverleger Albert Gutmann ausübte, die zu den ständigen Gästen der Familie zählten. Zum anderen verstand es Guido Adler, der nicht nur Wissenschaftler, sondern auch ein begnadeter Organisator von großen musikalischen Projekten war, – ich erwähne nur das Jahrhundertwerk der »Denkmäler der Tonkunst in Österreich« und die »Internationale Ausstellung für Musik und Theaterwesen« 1892 – zur rechten Zeit die richtigen Leute zusammenzubringen. Ich glaube, dass vor allem Tona ihm Vieles in puncto Öffentlichkeitsarbeit abgeschaut hat. Das kam auch der wahrscheinlich weniger initiativen Johanna zugute. Tona würde man heute wohl als »PR-Genie« bezeichnen. Sie tat sehr viel für ihre komponierende Schwester, nicht zuletzt auch dadurch, dass sie selbst als Sängerin ihre Werke darbrachte und später auch ihre Gesangsschülerinnen und -schüler mit Johannas Kompositionen auftreten ließ.

Oft wird die Eheschließung Johannas so interpretiert, dass sie dadurch endlich die Möglichkeit hatte, sich der Komposition zu widmen. Welchen Einfluss auf die künstlerische Entwicklung Johannas hatte ihre Heirat tatsächlich?

Vordergründig hatte die Verheiratung zur Folge, dass sie ihre Tätigkeit als Volksschullehrerin aufgeben musste, weil für Lehrerinnen in Wiens Volksschulen ein Eheverbot bestand. Es stimmt also wohl, dass sie die durch das Ende der Berufstätigkeit gewonnene Zeit für das Komponieren verwenden hätte können. Allerdings: Ihre erste musikalische Veröffentlichung, die sieben Lieder op.1, erschien 1903 im Druck, also erst nach zehn Jahren Ehe! Im Jahr darauf findet das erste Konzert mit Liedern aus dieser Sammlung statt, bezeichnenderweise war das ein Liederabend von Tona. Erst danach folgten in kürzeren Abständen weitere Werke.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Johanna erst im doch schon reiferen Alter von 35 Jahren als Komponistin in Erscheinung trat?

Die mir zugänglichen Quellen sind da nicht ergiebig. Ich kann nur vermuten, dass der plötzliche Tod ihres Bruders Albert im November 1895 etwas damit zu tun hat. Das war ein wirklicher Schock für die ganze Familie, ganz besonders aber für Johanna. Darüber mussten sie alle erst hinwegkommen. Albert war als älterer Bruder für sie seit frühester Jugend ein Idol. Es war ihm ein Bedürfnis, alles, was er sich an Neuem erarbeitete und was er über Musik dachte, seinen Schwestern weiterzugeben. Seine Kreativität beeinflusste Johanna wahrscheinlich mehr als jeder noch so gediegene Musikunterricht. Mit Johanna als der älteren Schwester hatte er auch ein menschlich sehr enges Verhältnis. Sie beschreibt das in ihren Erinnerungen sehr eindrucksvoll. – Andererseits kann ich mir vorstellen, dass gerade Alberts Ansichten über seine eigenen Kompositionen sie zunächst davon abhielten, das Komponieren selbst ernsthaft zu betreiben: Albert hatte zahlreiche Chorwerke und auch Orchesterwerke verfasst und mit Erfolg zur Aufführung gebracht, dennoch wollte er selbstkritisch, »solange es einen Brahms gibt«, nicht ernstlich an eine Komponistenlaufbahn denken. Diese Grundeinstellung könnte in Johanna Selbstzweifel ausgelöst haben.

Wie kam Johanna letztlich doch über diese Krise hinweg?

Das Büchlein Erinnerungen an Albert von Hermann, das Johanna 1896 im Verlag Hölder drucken ließ, war klassische Trauerarbeit. Sie schrieb sich mit diesem auch literarisch eindrucksvollen, berührenden Werk den Schmerz von der Seele. Ein Glücksfall war, dass Guido Adler, der seit längerer Zeit an der Prager Universität lehrte, 1898 als Nachfolger Eduard Hanslicks als ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an die Universität Wien berufen wurde. Voraussetzung für ein Studium in seinem Institut waren Kenntnisse in Harmonielehre und Kontrapunkt. Das könnte ihren Entschluss zu einem regulären Kompositionsstudium begünstigt haben.

Lässt sich anhand der Werke, die in ihrer ersten Schaffensperiode veröffentlicht wurden, eine Entwicklung feststellen?

Das Komponieren von Liedern war für Johanna bald zu wenig Herausforderung. Sie versuchte es mit Klavier- und Kammermusik. Als sie dabei in Schwierigkeiten kam, suchte sie Rat. Ihre besondere Gründlichkeit ließ keinen »Ritt über den Bodensee« zu, daraus resultierte umgekehrt eine Unsicherheit, weshalb sie noch in ihrer Reifezeit Hilfe bei männlichen Kollegen suchte. Als sie Zemlinsky ihr Streichquartett präsentierte, war sie handwerklich sicher schon nahe der Perfektion. Ich glaube auch nicht, dass sie bei ihm Kompositionsunterricht im engeren Sinn nahm; es war eher ein Meisterkurs, der wahrscheinlich gar nicht sehr lange dauerte. Rückblickend schreibt sie 1940 darüber: »Der Schule entwachsen, fand [ich] in Alexander von Zemlinsky einen geistvollen Führer auf selbst gewählten Wegen.« Etwas salopp würde ich sagen, unter seiner Anleitung ist ihr »der Knopf aufgegangen«. Sie widmete Zemlinsky das Streichquartett und war ihm zeit ihres Lebens in Dankbarkeit verbunden. Erst um 1910 will sie den großen Schritt zu größeren Dimensionen wagen, zur Orchestermusik mit Chor und Solisten, und sucht dafür wieder Unterstützung.

Wenn man sich die Aufführungsdaten der folgenden Jahre ansehe, gewinnt man den Eindruck, dass sie mit der vermehrten Komposition von Orchesterwerken mit Chor und Gesangssolisten ein wichtiges persönliches Ziel erreichte und geradezu einen Schaffensrausch erlebte.

Ja, so muss es wohl gewesen sein. Aber wieder machte sie diesen Schritt nicht allein, sondern vertraute sich nochmals einem Lehrer an. Im Alter von 40+ kehrte sie zurück zur Schulbank und begann am Neuen Wiener Konservatorium, das erst kurz zuvor eröffnet worden war, bei Josef B. Förster eine Ausbildung in Orchesterkunde und Instrumentation. Dies war die Voraussetzung für die großartigen Werke, die in der Zeit von 1910 bis 1921 herauskamen, vor allem aber für ihr Meisterwerk, die Kantate „Lied der Erinnerung“. 

Nach der erfolgreich geschlagenen Schlacht der Uraufführung am 19. März 1930 lud Johanna zu einer kleinen Feier im häuslichen Rahmen, an der auch Sektionschef Dlabač , im Freundeskreis scherzweise „Schrifterl“ genannt, teilnahm. Dabei trug Tona ein Gedicht vor:

„Nun wachet auf!“, so rief der Schrifterl in die Lande,
wo alles schläft und träumt und brummt und stockt.
Er rief es laut und schön, Tenor, den Dolch im „G’wande“,
und von der Stimme Zauber mächtig angelockt
erhoben sie die Köpf, die Heger, Schalken, Wängler,
nicht konnten sie mehr aus – er war ein rechter Drängler,
halb zog er sie, halb sanken sie in seiner Arme Schlingen
und so blieb Wien auf seinem Platz[?], nur so konnt‘ es gelingen!
Auch Herz-ka, ma Herz – sa Herz tat er rühren
Und Fonden gar viel Geld entführen. . .

Da sind sie alle versammelt, von denen das Zustandekommen dieses Projekts abhing: der Dirigent des Abends, Robert Heger, seit 1925 Konzertdirektor der Gesellschaft der Musikfreunde, Franz Schalk, bis 1929 Direktor der Staatsoper, Mitbegründer und Direktionsmitglied der Salzburger Festspiele, Wilhelm Furtwängler, bis 1927 Konzertdirektor der Gesellschaft der Musikfreunde und das Verlegerpaar Emil und Yella Hertzka, die beide in der Universal Edition das Sagen hatten.

Was ist an den Vermutungen dran, Johanna habe mit den Nazis sympathisiert?

Ich habe sehr genau nachgeforscht. Es gibt nur zwei „Verdachtsmomente“, die thematisiert werden: Das eine ist die Tatsache, dass Johanna Mitglied der Reichsmusikkammer war und dies auf ihrem Partezettel besonders erwähnt wird. Ich habe in privaten Unterlagen zwei verschiedene Partezettel von Johanna gefunden. Der eine lautet auf den Namen »Johanna Müller-Martini« und enthält keinen Hinweis. Der zweite trägt den Künstlernamen »Johanna Müller v. Hermann« und den Zusatz »Komponistin. Mitglied der Reichs- Musik-Kammer und der Fachschaft der Komponisten«. Es ist evident, dass dieser zweite Partezettel für die Musikerkollegen im weitesten Sinn bestimmt war, und dokumentieren sollte, dass sie keinem Berufsverbot unterliegt. Am Rand sei vermerkt, dass üblicherweise nicht der Verstorbene selbst den Text seiner Parte verfasst.

Der zweite »Verdacht« ist beinahe infam, weil er ohne die geringste Überprüfung in Umlauf gebracht wurde: Johanna komponierte bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs das Chorwerk Deutscher Schwur. Grundlage ist das gleichnamige Gedicht von R. A. Schröder von 1914. Johannas Werk wurde 1915 von der Universal Edition verlegt und gedruckt. Widmungsträger sind ihre Neffen Wilhelm und Walter Hermann, die damals als Soldaten an der Front standen. Bald zwanzig Jahre später fand dieses Gedicht Einzug in das Liederbuch der Hitlerjugend und war bei SA und SS beliebt, Grund genug für den Verbreiter des Gerüchts, der Komponistin eine nationalsozialistische Gesinnung zu unterstellen.

Was muss geschehen, damit man Werke von Johann Müller-Hermann wieder live in Konzerthäusern hören kann?

Ich glaube, das Vergessen von Johannas Werk hat nur am Rande damit zu tun, dass sie eine Frau war. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Musikrichtung, die sie pflegte, einfach »out«. Das traf auch Komponisten wie Alexander von Zemlinsky, Franz Schreker, Walter Braunfels oder Josef B. Förster, selbst für Mahler waren künstlerische Schwergewichte vom Rang eines Leonard Bernstein und Raphael Kubelik nötig, um ihn wieder ins rechte Licht zu rücken.

Mehr und mehr wächst das Interesse an Werken, die im Fin de siècle und in den folgenden Jahrzehnten »tonal« komponiert wurden. Positiv sehe ich auch, dass Musik heute in hohem Maß von den Medien verbreitet wird, das betrifft nicht nur die Aufführungen sondern auch das Notenmaterial. Für die Interpreten ist die Beschaffung von Notenmaterial im Gegensatz zu früher kaum mehr ein Problem. Sie spüren vergessene Werke auf und produzieren mit verhältnismäßig geringem Aufwand Videos und Tonaufnahmen. Da bekommen vermehrt Komponisten eine Chance, für die sich zunächst einmal kein großer Konzertveranstalter finden würde. Die steigende Zahl von Veröffentlichungen z.B. in Youtube bestätigt das. Für die Verbreitung von Johannas Musik war ein besonderer Glücksfall, dass BBC sie kürzlich zum »Composer Of The Week« machte und dafür eine Reihe von Neuaufnahmen, auch von Orchesterwerken, herstellte. BBC will, so höre ich, auch weitere Initiativen setzen. In Wien hält man es zurzeit noch mit der Tradition, die Tona meinte, wenn sie in ihrem launigen Gedicht vom Land sprach, »…wo alles schläft und träumt und brummt und stockt.«

Quellen und Fußnoten
Erdèlyi, Ann-Kathrin: Johanna Müller-Hermann – Leben und Werk einer Wiener Komponistin, Diplomarbeit, Wien (1995)

Müller, Johanna: Erinnerungen an Albert von Hermann, Wien (1896)

https://de.wikipedia.org/wiki/Guido_Adler_(Musikwissenschaftler)

https://de.wikipedia.org/wiki/Yella_Hertzka

https://www.sjbfoerster.cz/de/j-b-foerster/

Familienarchiv der Familie Hermann

 

1 Johanna Müller, geb. von Hermann, „Erinnerungen an Albert von Hermann“, Wien 1896, Hölder.

2 Ebenda

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