Jubilate Deo
von Mirko Rechnitzer
Zu den bekanntesten Gesängen des gregorianischen Chorals gehört das phänomenale Offertorium „Jubilate Deo“. Es enthält große, ausladende und unverwechselbar ausgestaltete melismatische Passagen.
Die Gesänge der Gattung „Offertorium“ wurden zur Opferung in der Messe gesungen, sind also genau genommen Gesänge zum Offertorium: Denn das ist das lateinische Wort für diesen Abschnitt der römischen Liturgie. Diese Gesänge bestehen eigentlich aus einem Kehrvers (einer Antiphon), bei denen eine Schola (oder auch die Gemeinde) mit einstimmen konnte, und solistischen Versen.
Die Verse der Offertorien wurden in Gottesdiensten schon länger kaum noch gesungen, also auch länger als vor 60 Jahren nicht, als man noch regelmäßig gregorianischen Choral in katholischen Messen hören konnte. Sogar ihre bloße Existenz ist vielfach unbekannt, auch unter Choralsängern und Schola-Leitern.
Die Verse zum Offertorium wurden ursprünglich auf eine einfache Weise psalmodiert. Das bedeutet, man benutze melodische Muster, bei denen der größte Teil des Textes auf einen bestimmten Ton, den sogenannten Tenor, verteilt wurde. Bestimmte Formeln dienten zur Ausschmückung und Markierung von Versanfängen, Zäsuren und Schlüssen.
Ausgestaltete Musik zu den Offertoriums-Versen kamen erst als eine der letzten Gattungen des Choralgesanges später hinzu. Und sie zählen zu den schwierigsten Gesängen des gregorianischen Repertoires. An die Sänger stellen sie vielfach hohe technische Ansprüche, und die Musikwissenschaftler bekommen die Grenzen ihres Verständnisses der Modi (Tonarten) zu spüren.
Über ihre verschiedenen Abschnitte hinweg durchmessen diese Gesänge einen großen Ambitus, der die normalen Grenzen des Choralrepertoires durchbricht. Allerdings erscheinen die sehr hohen und sehr tiefen Passagen, wenn sie in einem Gesang vorkommen, in unterschiedlichen Versen. Somit besteht also die Möglichkeit, dass unterschiedliche Sänger mit verschiedenen Stimmlagen die Verse unter sich aufgeteilt hatten.
Vom Offertorium „Jubilate Deo“ ist bereits die Antiphon ungewöhnlich anspruchsvoll, und die Verse sind vergleichsweise moderat. Ein deutlicher Unterschied tritt hier also nicht zutage. Umso mehr ist interessant, wie fein der ganze Gesang ausgestaltet ist, und den Text in Musik transportiert. Im Gegensatz zu anderen Artikeln, in denen ich viel historischen und technischen Ballast im Zusammenhang mit den Gesängen angesprochen habe, möchte ich hier einmal die Musik ins Zentrum setzen, und den Zauber dieses Gesanges veranschaulichen.
Wer das beschriebene an Noten nachvollziehen möchte, kann sich dafür der sehr schönen Edition bedienen, die auf der ergiebigen Seite Gregor & Taube des Gregorianik-Forschers Anton Stingl. jun. verfügbar ist. Dort kann man den Gesang in modifizierter Quadratnotation sehen, darüber die wichtigen Neumen aus St. Gallen, und unter dem lateinischen Text eine Interlinear-Übersetzung lesen.
Kraftvoll und energisch startet die Musik, mit einer Eröffnungsformel, die in vielen gregorianischen Melodien benutzt wird. In den meisten Fällen bildet das mit dieser Formel gesungene Wort einen Imperativ. Kaum wurde der Grundton von unten angesteuert, schwingt sich der Bogen auch schon zur Quinte, und noch einen Ton weiter auf. Ganz emphatisch wirkt so die Aufforderung zum Lobgesang („Jubilate!“).
Jener Schritt zum höchsten Ton der Figur wird von den meisten eng gesungen, weil viele Quellen ein b-Vorzeichen schreiben. Es gibt aber auch Gründe anzunehmen, dass ursprünglich mit einem h gesungen wurde, und deshalb den Schritt ein wenig größer zu machen. Schon klingt der ganze Beginn viel weniger nach modernem Moll, und hat einen eigentümlichen kraftvollen Charakter. Welche Wirkung entsteht doch, wenn zweite Motiv, mit dem das Wort „Deo“ (Gott) gesungen wird, und das einen F-Dur Raum durchmisst, auf den „dorischen“ Beginn folgt!
Nur der Sänger der folgenden Aufnahme singt entsprechend der meisten der interpretatorischen Rücksichten, die ich hier beschreibe. Deshalb wird man vieles anhand dieser Aufnahme nachvollziehen müssen, wenn sie auch, was den Klang betrifft, hinter den anderen zurücksteht, die ich im Verlauf des Artikels einstreue:
Weiter geht der Gesang: Die Aufforderung zum Jubel wird bestärkt durch die Worte „alle Lande“. Im Wechsel zwischen zwei Tönen läuft der Impuls zuerst an, um dann nach oben zu schnellen. Eine Spiralbewegung markiert gleichsam die ganze Welt. Indem die kreisende Bewegung zuerst groß, dann kleiner gemacht wird, wird zugleich die erste Phrase, die erste musikalisch-textliche Aussage, abgerundet. Vielleicht ist euch aufgefallen, dass bei der Figur unmittelbar vor der Silbe „terra“ sogar der Sänger des obigen Videos ein b einführt. Aber auch diese Stelle ist mit h sehr reizvoll!
Der Schluss jener ersten Phrase endete auf der fünften Tonleiterstufe, der Dominante: Mit ihr ist keine völlige Ruhe eingetreten, sondern es wurde Spannung aufgebaut. Diese entlädt sich: Die Worte „Jubilate Deo universa terra“ werden nochmal wiederholt, und in einem Melisma vorgetragen, dass den bisherigen Rahmen sprengt: Nach einem geschwinden Ausholen nach oben perlt ein Wasserfall nach unten, und energisch schrauben sich die Töne immer weiter nach oben: Jenes Stauen durch Wechselfiguren, wie wir es beim ersten „universa“ gehört haben, wird hier als Baustein ausgereizt. (Das folgende Video beginnt mit dem geschilderten Abschnitt:)
Eingebaut in diesen Höhenflug sind rasche, bebende Tonwiederholungen. Sie werden durch die sogenannten Strophici angezeigt, die in den St. Galler Neumen wie kleine Kommata aussehen. Gegen Ende der zweiten Zeile der Edition Stingls können wir in den Neumen einen Buchstaben x erkennen. Er steht für „expectare“ – man soll abwarten, eine spannungsvolle Pause machen, ehe die Stimme in im ganzen Stück noch nicht angesteuerte Höhen aufsteigt! Es geht viel verloren, wenn dies übergangen wird, wie es leider die meisten Sänger tun. Auch die oftmals praktizierte Verschmelzung der repetierten Töne zu einem gedehnten Ton mindert den lebhaften Effekt der gregorianischen Gesänge, doch kann ihre Schönheit nicht zerstören.
Wenn die Musik das Wort „Deo“ zum zweiten Mal erreicht, erklingt die Melodie identisch wie beim ersten Mal. Auch das zweite „universa“ beginnt ganz vertraut. Wirkungsvoll wird es somit, wenn nun das Melisma zu „terra“ nicht wie gewohnt endet, sondern gerade dann, wenn man erwarten könnte, es ginge zu ende, nochmals zu einer Steigerung aushebt. Das Prinzip des Gleichgewichts zwischen Einheit und Vielfalt, zwischen Überraschung und Struktur, ist somit auch in dieser gregorianischen Musik wirksam.
Würde ich den gesamten Gesang in dieser Deutlichkeit beschreiben, könnte ich ein ganzes Büchlein füllen. Dies wäre nicht nur langweilig, sondern auch unnötig. Wenn es mir gelungen ist, mit der eingehenden Betrachtung der ersten Phrasen die Aufmerksamkeit dafür zu sensibilisieren, was man in der gregorianischen Musik entdecken kann, so wird man auch die weiteren auf eine tiefere Weise verstehen können. Man muss es gar nicht so rational tun, wie es in einem vermittelnden Artikel getan wird, sondern wird implizit und anschaulich, ohne viele Gedanken, mehr und mehr in dem Gesang erleben können. So möchte ich nunmehr noch einige Aspekte der Struktur dieses Offertoriums kommentieren.
Die neuen Verse, ab „Psalmum dicite“, ertönen in melodischen Läufen, die mit Anlauf und Entspannung, mit Erwartung und Neuheit, in vergleichbarer Weise spielen. Auffällig ist hier jedoch die Häufung gedehnter Töne, welche in den Neumen durch den Buchstaben „t“ für „tenete“ (halten) oder zusätzliche Striche angezeigt werden. Die ganze Passage strahlt eine größere Gravität aus, wodurch ein Kontrast zum „jubelnden“ Beginn entsteht.
„Kommt und hört, und ich werde euch erzählen…“: Die Musik zu dieser Einladung bleibt besonders im Gedächtnis haften. Ab hier wird die Antiphon des Offertoriums-Gesangs nach dem Versen als eine Art Kehrvers wiederholt. Durch einen, man möchte fast sagen motivisch-thematischen Bau sticht der Beginn heraus: Das Motiv zu „Venite“ wird zu „et audite“ leicht variiert in tieferer Lage sequenziert. Wieder erklingt die erste Lage, und diesmal strömt der melodische Strom weiter. (Wieder habe ich die folgende Aufnahme so eingerichtet, dass sie an der entsprechenden Stelle beginnt.)
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Zur Aussage „ihr alle, die ihr Gott fürchtet“ senkt sich die Stimmlage, und verdeutlicht so den Nebensatz. Strahlend erklingt dann der Zielpunkt und Kern der Aussage: „wie viel Gutes der Herr für meine Seele getan hat!“ Das folgende Halleluja rundet die Antiphon mit einer kräftigen Schlussformel zum Grundton ab, die bis jetzt aufgespart worden war.
In den Versen erreichen die Melismen nach und nach eine noch größere Länge: So wird im ersten Vers zu den Worten reddam, mea und labia im Dreischritt eine imposante klangliche Perlenkette aufgezogen. Auch innerhalb der imposanten Klangwelle zu „Labia“ sind Steigerungen angelegt. So erklingt beispielsweise der höchste Ton dreimal, beim dritten Mal aber steht direkt davor wieder ein solches „x“ für „(ab)warten“, wie wir es oben schon betrachtet haben. Kleine Verzögerungen bewirken im sprachlichen und musikalischen Vortrag immer auch Betonungen. Diese Betonung kann man dynamisch und agogisch unterstreichen, und die Phrase auf diesen Spitzenton hin strömen, sich hier entladen lassen.
Auf vergleichbare Weise sehen wir auch im zweiten Vers ein breit angelegtes Melisma zum Wort „offeram“ (ich will bzw. werde darbringen). (Im obigen Video kann man eine schöne Aufnahme des zweiten Verses anhören.) Auffällig ist das häufig wiederholte Anschlagen des Tones c. Derart viele Tonwiederholungen auf einem relativ hohen Ton stellen durchaus eine Herausforderung an die Stimme; und interpretatorisch verlangen sie nach einer fähigen und geschmackvollen Abwandlung der Klangfarbe. Das Wort „offeram“ ist in diesem Gesang bedeutsam, weil es auf die parallel stattfindende liturgische Handlung verweist: Die opfernde Darbringung von Brot und Wein und die damit verbundene Selbstaufgabe. Dass sich der Eindruck einer „stehenden Welle“ in diesem Melisma auf das Emporheben der Gaben vor dem Altar bezieht, ist angesichts musik- und liturgiewissenschaftlicher Anhaltspunkte mehr als eine blinde Vermutung.
Von der Wiederholung von Textteilen, die wir schon am Beginn der Antiphon gesehen haben, wird auch in den Versen Gebrauch gemacht. In der Forschung nimmt man an, dass diese nicht unbedingt zur Steigerung dienen, sondern auch dazu, die Länge des Gesanges variable zu halten, der ja liturgische Handlungen begleiten soll. Anhand des zweiten Verses lässt sich diese Annahme gut nachvollziehen: Die Wiederholung von „Locutum…“ kann als leicht gesteigerte Wiederholung verwendet werden, wenn der Klerus am Altar noch länger zu brauchen scheint, ansonsten kann man sie weglassen, ohne dass die nächste Phrase unvermittelt anschließen würde.
Jubilate Deo, universa terra: Ein Gesang, in welchem sprechend und zeigend, freudenreich und beseelt von Erfahrungen von etwas berichtet wird, worin man Ziel, Sinn, Erfüllung gefunden hat. Er ist in seinen musikalischen Feinheiten wie in seiner formalen Anlage keineswegs eine primitive Vorform von Musik, sondern unerschöpflich interessant und faszinierend.

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