Herzog August der Jüngere
von Ulrich Vogel
Mehr Bücher als Untertanen
Herzog August der Jüngere zu Braunschweig-Lüneburg und seine Bibliothek
Als Herzog August am 17. September 1666 starb, hinterließ er der Nachwelt eine der größten Bibliotheken Europas. Wolfenbüttel, die kleine Residenzstadt des Herzogs in der niedersächsischen Provinz, konnte es, gemessen an der Zahl der Bücher, mit Paris, London, Wien und dem Vatikan aufnehmen. Zeitgenossen priesen sie als ein Weltwunder, und dieses Wunder war – anders als die ehrwürdigen Institutionen in den europäischen Metropolen, die über Generationen allmählich gewachsen waren – das Lebenswerk eines einzigen Mannes.
Von Jugend an bis zum biblischen Alter von siebenundachtzig Jahren hatte der Herzog sich einer einzigen Idee verschrieben: Er wollte eine Bibliothek aufbauen, die das Wissen der ganzen Welt umfasste. Seine Lebensspanne erstreckte sich über die Epoche der Glaubenskriege und reichte bis in den beginnenden Absolutismus: von der Bartholomäusnacht über den Dreißigjährigen Krieg bis zu Ludwig XIV. Unter denkbar ungünstigen Umständen, inmitten eines Krieges, in dem Deutschland zum Schlachtfeld der europäischen Mächte wurde, verfolgte er unbeirrt seinen Plan und brachte seine Bücherschätze heil durch die Wirren des Krieges.
Als jüngster Spross einer Familie der weitverzweigten Welfendynastie konnte sich der junge Herzog kaum Hoffnung machen, jemals regierender Fürst zu werden. Doch die Not geriet zur Tugend, stellte sie doch die Weichen für eine außergewöhnliche Bildungskarriere: Die Eltern förderten ihren hochbegabten Sohn und ermöglichten ihm ein Studium. In der akademischen Welt, an den Universitäten in Rostock, Tübingen und Straßburg machte er sich rasch einen Namen. Anschließend absolvierte er mehrere der damals für den Adel obligatorischen Kavalierstouren und entdeckte die Kunst- und Kulturschätze in ganz Europa. Die Reisen nahmen viele Jahre in Anspruch und führten ihn von Augsburg bis nach Neapel, von Leiden bis nach Oxford.
Danach ließ er sich in dem kleinen Ort Hitzacker an der Elbe nieder und widmete sich dem Aufbau seiner Bibliothek. Bei der Beschaffung von Büchern unterstützten ihn sogenannte Agenten, die damals, als es noch keine Zeitungen gab, als Kunsthändler und Korrespondenten auftraten und ihre solventen Auftraggeber mit Luxusgütern und Informationen aller Art versorgten. Darüber hinaus tauschte er sich mit Gelehrten aus, die weitverzweigte Netzwerke bildeten und das Briefeschreiben als eine hohe Kunst kultivierten. – Aus der geschäftlichen und wissenschaftlichen Korrespondenz, die auch auf Latein geführt wurde, entstanden Freundschaften, die nicht nur große räumliche Entfernungen, sondern auch Standesschranken und Konfessionen überwanden.

August II. der Jüngere, Coenraet Waumans 1652; © Rijksmuseum CC0; Link zum Bild
Das Interesse an Kunstwerken, Büchern und Raritäten war für den Adel der frühen Neuzeit keineswegs ungewöhnlich; Kunst und Bildung waren Teil des höfischen Lebens und der fürstlichen Repräsentation. Zweifellos genoss auch der Herzog den Ruhm, den seine Bibliothek ihm einbrachte. Doch seine Leidenschaft für Bücher erschöpfte sich nicht in der Zurschaustellung äußerlichen Glanzes. Geprägt durch den an den Universitäten vorherrschenden Späthumanismus hatte er reges Interesse an antiken Schriften und moderner Wissenschaft entwickelt. Zugleich war er von tiefer Frömmigkeit erfüllt, und so war es kein Zufall, dass die Theologie das größte Sachgebiet in seiner Büchersammlung bildete. Bildung und Gottvertrauen, gepaart mit Beharrlichkeit und einem außerordentlichen Arbeitsethos vereinten sich in seiner Person und verliehen seinem bibliophilen Projekt eine einzigartige Dynamik. Nach und nach entstand eine Universalbibliothek für ein gelehrtes Publikum, zu deren eifrigsten Benutzern er selbst zählte.
Nachdem der Krieg begonnen hatte, wurden auch die niedersächsischen Fürstentümer bald zum Kriegsschauplatz. Hitzacker blieb nicht verschont, und um seine Büchersammlung zu schützen, lagerte er sie in das befestigte Braunschweig aus. Möglich war dies, weil inzwischen das Unwahrscheinliche eingetreten war: Eine Vakanz des welfischen Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel hatte einen langjährigen Erbfolgestreit eingeleitet, aus dem der Herzog schließlich als Sieger hervorgegangen war. Als regierender Fürst hatte er sich sogleich um einen Separatfrieden mit dem Kaiser bemüht, und als der Vertrag sechs Jahre vor dem Ende des Dreißigjährigen Krieges schließlich zustande kam, konnte er seine Residenz in Wolfenbüttel beziehen.
Anders als viele seiner Standesgenossen war er weitsichtig genug gewesen, um zu erkennen, dass es für ihn in diesem Krieg nichts zu gewinnen gab. Sein Kalkül ging auf, der Friede hielt. Während manch berühmte Sammlung, darunter die Heidelberger Bibliothek, die rantzauische im holsteinischen Breitenburg und die Schatzkammer Rudolfs II. in Prag der Plünderung anheim fiel und ihre Bestände in alle Winde zerstreut wurden, überstand die Wolfenbütteler Bibliothek den Krieg unversehrt.
Dieselbe Zielstrebigkeit und Tatkraft, die ihn als Sammler auszeichnete, bewies Herzog August auch beim Wiederaufbau seines kleinen Fürstentums: Wolfenbüttel erholte sich nicht nur wirtschaftlich; der Hof entwickelte sich auch zu einem kulturellen Hotspot, zum Anziehungspunkt für Dichter und Wissenschaftler, die der Herzog tatkräftig förderte. Sein Mäzenatentum hatte eine Ausstrahlung, die Generation überdauerte: Anton Ulrich, sein Nachfolger, schrieb Romane, die noch der junge Goethe las. Herzogin Anna Amalia, ohne die die Weimarer Klassik undenkbar gewesen wäre, war eine Prinzessin aus Wolfenbüttel.
Bereits zu Lebzeiten wurde der Herzog als Sammler, Gelehrter und Friedensstifter gerühmt; in Erinnerung geblieben ist er als „Bücherfürst“, als ein Herrscher, der mehr Bücher besaß als Untertanen. Sein Vermächtnis ist seine Bibliothek: Ihr Bestand umspannt ein ganzes Jahrtausend europäischer Kulturgeschichte, von der Spätantike bis ins 17. Jahrhundert.
Viele Bücher sind von unschätzbarem Wert, so etwa der prächtig gestaltete Sachsenspiegel, ein Rechtskodex aus dem Mittelalter, oder der Wolfenbüttler Psalter mit handschriftlichen Marginalien des jungen vorreformatorischen Augustinermönchs Martin Luther. Manche Bücher wären ohne ihn heute womöglich verloren: Ein Jahrhundert nach dem Tod des Herzogs entdeckte der Aufklärer und Dichter Gotthold Ephraim Lessing während seiner Zeit als Wolfenbütteler Hofbibliothekar das einzig erhaltene Exemplar einer ketzerischen Schrift des Berengar von Tours aus dem Frühmittelalter.
Da der Herzog sich auch für Flugschriften, die damaligen Neuen Medien, interessierte, ist das ganze bewegte Zeitalter der Glaubenskriege umfassend dokumentiert. In seinem Testament verfügte er, dass die Bibliothek in Wolfenbüttel bleibe und ungeteilt fortbestehe. Sein Wunsch hat sich erfüllt, die Bibliothek trägt heute seinen Namen. Für mehr als ein Jahrhundert zählte sie zu den ersten Adressen des gebildeten Deutschlands. Geistesgrößen der Aufklärung zählten zu ihren Bibliothekaren: neben Lessing auch der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz. Zusammen mit der Anna Amalia Bibliothek in Weimar und dem Marbacher Literaturarchiv gehört die Herzog August Bibliothek heute zu den drei großen Forschungsbibliotheken Deutschlands.
Auch in Buchform: Im 17. Jahrhundert galt die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel als ein Weltwunder. Der Dramatiker Gotthold Ephraim Lessing zählte zu ihren berühmten Bibliothekaren. Heute gehört sie zu den führenden Forschungsbibliotheken für das Mittelalter und die frühe Neuzeit. Geschaffen hat sie Herzog August der Jüngere von Braunschweig-Lüneburg, ein kleiner Fürst und großer Mäzen, ein leidenschaftlicher Sammler und anerkannter Gelehrter. Mitten im Dreißigjährigen Krieg machte er sie zur größten Bibliothek auf dem europäischen Kontinent. Wer war dieser Bücherfürst, und wie hat er diese erstaunliche Leistung vollbracht? – Der Autor ist dieser Frage nachgegangen und zeichnet ein anschauliches Bild des Herzogs vor dem Hintergrund seiner Zeit.
Verwendete Literatur

Kulturgeschichten Europs – Interessantes aus aller Herren Länder
Ein Buch von Thomas Stiegler

Meine französischen Kulturgeschichten –
ein Buch von Anja Weinberger
Musik, Kunst, Architektur, Genuss
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