Michael Ende
von Stefan Havlik
Die Freiheit der Fantasie – zum 25. Todestag von Michael Ende
Am 1. September 1995 erklingt der „Reigen seliger Geister“ auf Münchens Waldfriedhof: In Christoph Willibald Glucks Oper „Orpheus und Euridike“ sind es wundersame Wesen, die frei und leicht den eintretenden Orpheus in ihrer Welt begrüßen. Es war der Wunsch von Michael Ende, dass dies das letzte Musikstück der Trauerfeier sein sollte. Dem musikalisch begabten Orpheus, so will es die Sage, gelingt es, die eigentlich unüberwindbare Grenze zwischen Leben und Tod zu überwinden, um seine Geliebte zurückzugewinnen.
Die Begrenzungen dieser Welt hatte Michael Ende – 1929 in Garmisch geboren – schon bald kennengelernt: Sein Vater Edgar, der mit der Familie nach München zog, erhoffte sich dort bessere Chancen für sich als Maler, was sich zunächst als hoffnungsvoll herausstellte: Kaum in München angekommen, wurde er Mitglied der „Münchner Secession“, einer Vereinigung bedeutsamer darstellender Künstler jener Zeit. Die beeindruckenden surrealistischen Werke Edgar Endes erfuhren allerdings wie das Tun zahlreicher deutscher Künstler mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 eine jähe Wende in Förderung und Wertschätzung: Die Landschaften voller Gesichter, schwebende, fantastische Figuren und Räume voller unwirklicher Landschaften passten nicht ins Kunstbild des ehemaligen Postkartenmalers Adolf Hitler und seiner Ideologie, in „eine ganze Reihe weiterer Entbehrlicher“ reihte der „Völkische Beobachter“ Edgar Ende in seinem künstlerischen Schaffen namentlich ein.
Das Kind Michael Ende indes muss als Sohn des politisch unliebsamen und vom Regime kritisch beäugten Malers lernen, dass außerhalb der Wohnung nicht gesprochen werden darf, was innerhalb der Familie kommuniziert wird. Der Rückzug in die Innerlichkeit, in den Kreis absoluter Vertrautheit – die Erfahrung der großen, kleinen Welt der Fantasie im Atelier seines Vaters, die mit großer Vorsicht beschützt werden musste – das wird ihn für sein Leben tief prägen.
Neben seinen Eltern ist es ein Nachbar – Maler und Kommunist – der ihn fasziniert: Franz Reinhard, im Gesicht entstellt nach einem Suizidversuch, erzählt ihm und den Nachbarskindern Märchen und Geschichten seiner ganz eigenen Fantasie. Die Wertschätzung, ja die Begeisterung für den äußerlich Entstellten, der „schielte wie ein Teufel“ wie Ende später erzählen wird und dessen Haus „bis zur Decke hinauf ausgemalt mit eigentümlichen Märchenbildern“ ist, ist ein gewichtiger Teil der Aussaat, aus der später reifen und blühen wird, was vielen Kinder in Michael Endes Werken zur Gedankenwelt erwächst.

1948 kann der Künstlersohn sein Abitur ablegen, sein Weg führt ihn in die Schauspielschule und danach auf einige kleinere Bühnen. Dabei gilt sein Hauptinteresse stets zuvorderst dem Schreiben: Drehbücher für politische Kabaretts verfasst er, die Stellung als Filmkritiker des Bayerischen Rundfunks verschafft ihm für wenige Jahre ein festes Einkommen.
Oft hat er später erzählt, wie der „berühmte erste Satz“ in sein Leben als Autor getreten ist: Mit „Das Land, in dem Lukas der Lokomotivführer lebte, war nur sehr klein.“, den er in seine Schreibmaschine tippte, der, so berichtet er es selbst, plötzlich in seinem Kopf war, beginnt nicht nur der Roman „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, sondern ein Werk, das ganze Generationen von Kindern unterhalten hat – als Buch, als Film, auf der Puppenbühne -, das Wirken eines der erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautoren der Literaturgeschichte. Zahlreiche erste Sätze großer literarischer Werke sind für Leser zum Denk-Mal geworden und die Werke hinter diesen Sätzen wurden für die Autoren sehr oft zu Fundamenten ihrer weiteren Laufbahn: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ als der erschreckende Anfang von Kafkas „Die Verwandlung“ oder “ Es war ein strahlender, kalter Tag im April und die Uhren schlugen Dreizehn.“ mit dem George Orwell in „1984“ sein berühmtes Werk des absoluten Überwachungsstaats beginnt, seien hier nur beispielhaft genannt. „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen“ beginnt Rainer Maria Rilke seine „Duineser Elegien“ – und beschreibt später selbst, dieser Satz sei plötzlich beim Auf- und Abgehen in seinem Kopf gewesen.

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Weiter in Italien lebend, schafft er mit „Die Unendliche Geschichte“ fantastische Welten, die bis heute Verbreitung in der Vorstellungswelt zahlreicher Jugendlicher und längst erwachsen Gewordener haben, wiederum ein Kampf der Freiheit und der Fantasie gegen Einengung und Dunkelheit. Die Verfilmung, zunächst begrüßt, lehnt Ende als fertigen Leinwandstreifen schließlich harsch ab. Durch die klare Ähnlichkeit des Protagonisten Bastian Balthasar Bux mit dem Michael Ende im München der 30er und 40er Jahre und erneut – wie schon in „Momo“ – die Thematisierung der Freiheit (besonders kindlicher) Fantasie , auch in der notwendigen Abwehr ihrer Unterdrückung und Zerstörung, war der Stoff dieses Werkes dem Autor wohl selbst viel zu kostbar, als dass er ihn – verkürzt, eingeschränkt und klar ins Bild gebracht – auf der Kinoleinwand verflacht sehen wollte.
Dass seine Bücher, die er für Erwachsene schreibt, nie auch nur annähernd die Popularität seiner Werke für KInder und Jugendliche erreichen, bleibt ihm ein Schmerz, die Gelassenheit Erich Kästners erreicht er dazu nie: Kästner, dessen Kinderbücher ebenso deutlich bekannter sind als seine Erwachsenenliteratur, hatte stets betont, Kinder seien die entschiedeneren und ehrlicheren Kritiker und die Aufgabe, ein Kinderbuch zu schreiben, das große Verbreitung finde, sei daher wesentlich höher einzuschätzen. Kein geringerer als der legendäre Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki bemerkte öfters, er habe Michael Ende nie gelesen, dieser setzte ihm dafür in einem seiner letzten Werke („Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch“) ein unmissverständliches Denkmal: Das „Büchernörgele“, „ein besonders scheußliches kleines Monster“, „im Volksmund auch Klugscheißerchen oder Korinthenkackerli genannt.“ Ein hartes Bild, das Endes Verletzlichkeit zeigt – aber gegenüber dem „Literatur-Papst“ letztlich harmlos bleibt, wenn man Martin Walsers Buch „Tod eines Kritikers“, das auch als Abrechnung mit Reich-Ranicki verstanden werden kann, aus dem Jahr 2002 damit vergleicht.

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Dabei blieb er, in allen Freuden und Herausforderungen seines Lebens auch hier nahe einem anderen deutschen Autor, dessen Werke von den Nationalsozialisten ebenso geschmäht wurden wie die beeindruckenden Surrealismen aus Edgar Endes Atelier: Erich Kästner, gut zwanzig Jahre vor Michael Ende verstorben, warnte eindringlich davor, seine Kindheit „wie einen alten Hut“ abzulegen: „Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.“ Michael Ende ist immer Mensch geblieben und wie Orpheus gelang es ihm, die Grenze zwischen zwei Welten immer wieder zu überqueren und damit viele Leser zu begeistern.
(Text von 2020)
Ein Buch der Leiermann Autorinnen und Autoren.
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