Nocturnal op. 70

von Thomas Stiegler

Think of all the music written
Before the birth of Benjamin Britten
And then
Think of Ben [1]

Dieser Vierzeiler scheint mir all die Liebe und die Achtung auszudrücken, die Benjamin Britten Zeit seines Lebens entgegengebracht wurde. Gleichzeitig versteckt sich in diesen Worten aber auch eine Anspielung darauf, dass viele Menschen mit Brittens Werk eine Zeitenwende in der englischen Musik anbrechen sahen und sie strikt in eine Zeit vor und nach ihm trennten. Ganz abgesehen davon, was man von solch intellektuellen Spielereien halten mag (und ohne auf die Frage einzugehen, ob je ein einzelner Komponist wirklich einen so großen Einfluss auf die Musikgeschichte hatte), scheint es mir doch ein Werk aus seiner Feder zu geben, an dem man ein solches Gedankenexperiment durchexerzieren könnte.

Denn sein Nocturnal op. 70 (komponiert 1963) basiert auf dem Lied »Come, heavy Sleep« des Renaissancekomponisten John Dowland und verbindet so die Vergangenheit Englands mit seiner Gegenwart in der Gestalt Benjamin Brittens. Außerdem weist das Werk weit in die Zukunft (jedenfalls in der kleinen Welt der klassischen Gitarre), denn Britten war zu jener Zeit schon einer der bekanntesten und wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, und es war das erste Mal, dass sich eine solch anerkannte Persönlichkeit ernsthaft mit der klassischen Gitarre beschäftigte. [2]

Auch wenn das Werk für ungeübte Hörer etwas fremd klingen mag und man daher etwas Zeit braucht, um dem Zauber dieser Musik zu verfallen, so wage ich doch zu behaupten, dass es zu den schönsten und interessantesten Werken zählt, die je für die Gitarre geschrieben wurden. Das jedoch nicht, weil Benjamin Britten hier in nachromantischer Art versucht, an die große Zeit seiner Heimat zu erinnern und sie musikalisch wieder auferstehen zu lassen, sondern weil er weit tiefer gräbt, als man es erwarten würde und damit aus diesem Werk ein Seelendrama ganz eigener Art macht. Denn seine Komposition ist weit mehr als eine Reminiszenz an Dowlands England, und mir scheint, erst durch seine Arbeit versteht man nicht nur, welche Schönheit in dieser Musik liegt, sondern vor allem auch, welche Bedeutung sie noch heute für uns haben kann. Damit wird diese Komposition wirklich zu einem Bindeglied zwischen Alt und Neu und mehr noch zu einem Dreh- und Angelpunkt zweier Welten. Doch um zu verstehen, was ich damit sagen will, muss ich ein wenig ausholen und auf die tiefen Gemeinsamkeiten eingehen, die in den Persönlichkeiten der beiden Komponisten lagen.

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John Dowland lebte in einer Zeit, die uns heute schon fremd geworden scheint und von der Timothy Bright so treffend sagte: »Einsamkeit, Trauern, Weinen; eine furchtsame Verfassung des Geistes, der von der Vernunft abgekommen ist …« [3] Dieses Phänomen, auch »Elisabethan Melancholy« genannt, fand in John Dowland ihren wichtigsten Vertreter, denn wie unter einem Brennglas schien sich der vorherrschende Zeitgeist in seiner Person zu konzentrieren. Daher schien er auch » … so komplex und so voller Widersprüche wie das Zeitalter, in dem er lebte. Ungeheuer egozentrisch und hoch emotional, mit einer gerechten Einschätzung seiner eigenen Kräfte, aber mit einer fast kindlich reizbaren Reaktion auf Kritik; unterliegt von Zeit zu Zeit Anfällen von Melancholie …« [4]

Wohl der schönste Ausdruck dieses Weltgefühls und eine der vollkommensten Schöpfungen seiner Zeit sind Dowlands Lieder, die bis heute zu bezaubern vermögen. Denn wohl kaum jemals hat ein Komponist in seinem Werk der Melancholie so breiten Raum gegeben, ohne dabei jedoch zu übertreiben und die Grenzen des Sagbaren zu verlassen, einfach durch die Kraft seiner Melodien. Eines der schönsten und bekanntesten Werke aus seiner Feder ist sicher das schon erwähnte und von Benjamin Britten in seinem Nocturnal verwendete »Come, heavy sleep«.

Come, heavy Sleep, the image of true Death,
And close up these my weary weeping eyes,
Whose spring of tears doth stop my vital breath,
And tears my heart with Sorrow’s sigh-swoll’n cries.
Come and possess my tired thought, worn soul,
That living dies, till thou on me be stole.

Come, shadow of my end, and shape of rest,
Allied to Death, child to his black-faced Night;
Come thou and charm these rebels in my breast,
Whose waking fancies do my mind affright.
O come, sweet Sleep, come or I die for ever;
Come ere my last sleep comes, or come never.

Komm, schwerer Schlaf, Bild des wahren Todes,
Und schließe diese meine müden, weinenden Augen,
Die Quelle der Tränen hält meinen Lebensatem an,
Und zerreißt mein Herz mit des Kummers seufzendem Geschrei.
Komm und nimm meine müde, gedankenschwere Seele in Besitz,
Die lebendig stirbt, bis sie mir gestohlen wird.

Komm, Schatten meines Endes, und Gestalt der Ruhe,
Verbündeter des Todes, Kind seiner schwarzgesichtigen Nacht;
Komm und verzaubere die Rebellen in meiner Brust,
Deren wache Phantasien mein Gemüt erschrecken.
O komm, süßer Schlaf, komm oder ich sterbe für immer;
Komm, bevor mein letzter Schlaf kommt, oder komm nie.

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Benjamin Britten hat sich Zeit seines Lebens mit der Welt John Dowlands und seiner Zeit auseinandergesetzt und Frucht dieser Arbeit waren solch wundervolle Werke wie sein Nocturne op. 60 (für Tenor und Kammerorchester) oder die Oper »Ein Sommernachtstraum« op. 64. Das Lied »Come, heavy Sleep« jedoch muss auch für ihn etwas Besonders gewesen sein, denn nicht nur schienen ihn Themen wie Traum, Dunkelheit und Tod Zeit seines Lebens zu begleiten, sonder er sprach diesen Aspekt seiner Arbeit auch direkt an: »Und natürlich hat das Nocturnal, das ich für Julian Bream geschrieben habe, auch einige, wie ich finde, sehr beunruhigende Bilder in sich, die natürlich mit diesem Dowland-Lied verbunden sind, das natürlich auch sehr seltsame Untertöne hat. Dowland war ein Mensch, der vielleicht sogar bewusst die Bedeutung von Träumen erkannt hat.« [5]

Benjamin Britten nun schrieb keine gewöhnlichen Variationen über das Werk, sondern er setzte sich an den Schreibtisch und drang weit in den Kosmos der Dowlandschen Phantasie vor, als wir es gemeinhin gewohnt sind. Denn er zerlegt die Musik in ihre Bestandteile, spielt mit den einzelnen Motiven und interpretiert sie neu und verwendet all das wiederum nur als Ausgangspunkt, um über Dowlands Lied seine eigene Stimme erklingen zu lassen. Dadurch schenkt er uns nicht nur ein neues Werk, sondern er ermöglicht uns auch eine neue Sichtweise auf Dowlands Musik und ebnet seiner Melancholie den Weg in unsere Zeit, bricht sie durch seinen scharfen Blick und lässt uns dadurch wie in einem Spiegel unsere eigene Zeit erkennen.

Wie er das gemacht hat ist wahrhaft originell, denn seine Komposition ist von der Anlage her ein umgekehrtes Variationswerk, dessen Sätze man von hinten hören müsste, um zur gewohnten Reihenfolge zu gelangen. Denn erst ganz am Ende der Komposition erscheint, was an den Anfang gehört – die Melodie der Dowlandschen Originalkomposition. Doch durch dieses Aufbrechen des Gewohnten eröffnet sich uns ein wahrer Kosmos an Bedeutungen, in dem all das, was zuvor erklingt, wie eine Vorbereitung erscheint, wie ein frühes Ankündigen ein Hineingleiten ein die Welt des Schmerzes und der Trauer, die wir zum Schluss in Dowlands Lied erleben.

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Aber kommen wir jetzt endlich auf die Musik direkt zu sprechen. Hier ist zwar nicht der Ort, das kompositorische Handwerk Brittens zu analysieren (das würde sowieso den Rahmen dieses Kapitels sprengen), aber ich will trotzdem ein wenig auf die einzelnen Variationen eingehen und vielleicht ein paar Hörhinweise geben.

Leise, fast unscheinbar ruhig und einfach, kommt Brittens Werk daher. Wenn man aufmerksam zuhört, dann erkennt man hier schon erste Anklänge an das Dowlandsche »Come, heavy Sleep«, denn auch, wenn man es nicht bewusst warhnimmt, so wird es doch durch die Kraft der Brittschen Imagination auf einer tieferen Ebene spürbar.

Nach etwa zwei Minuten beginnt die »Very Agitated« überschriebene erste Variation. Sehr erregt klingende Triolenketten werfen einen wahren Schauer der Aufregung und Unruhe über diese Musik, die nahtlos in die »Restless« genannte zweite Variation übergeht. Und dieses »restless« ist wirklich wörtlich gemeint, denn nur oberflächlich scheint sich die Musik zu beruhigen. Aber hier stehen sich Dreierrhythmus und Duolen fast feindlich gegenüber und erzeugen ein Gefühl der Unruhe, des Irrens und des Verloren Seins in Dunkelheit. Sehr lange verharrt Britten bei diesem Gefühl und auch fast überlang erscheint diese Variation, die mir wie ein erster Blick auf Dowlands Abgründe erscheint.

Dann erhellen 32tel-Kaskaden die Nacht. Flinke Passagen blitzen auf, kleine Melodiefetzen, die an ein verzweifeltes Echo erinnern. Es sind unangenehme, fast schmerzhafte Nadelstiche, die uns ratlos zurücklassen und wohl nicht zu unrecht nennt sich dieser Satz »Uneasy«, als unbehaglich.

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Dann erklingt ein Marsch. Doch lassen wir uns nicht täuschen, denn viel eher erscheint es mir wie ein makabrer Totentanz, der zu schrecklich anzuhören wäre und daher maskiert als »march like« daherkommen muss. Es ist keine schöne Musik, denn nur fahl ertönt eine Melodie, ganz ohne Liebreiz oder Sanftmut, die an einen Alp erinnert, oder, besser noch, die an das Zwischenreich von Schlaf und Wachsein gemahnt, in dem düstere Traumbilder noch nachklingen. Vielleicht ist es auch Sarkasmus, in den Britten diese Stelle taucht, oder eine höhere Art von Humor, die wir nicht imstande sind zu verstehen, ohne sie durch dunkle Traumbilder zu erblicken.

Meint Britten wirklich, dass wir so träumen? »Dreaming« nennt sich der sechste Satz seines Werkes, also »träumerisch«, und vielleicht waren seine Träume wirklich von dieser Art. Doch das sind schon lange keine beruhigenden Bilder mehr, sondern durch fragile Harmonien und verzerrt schwebende Flageolett-Gesänge scheint es, als würde uns dieser Satz aus dem Land der Träume verstoßen.

Vielleicht kann uns das Wiegenlied etwas Ruhe bringen. »Gently rocking« nennt Britten diesen Satz, also sanft wiegend, und die schlichte Melodie könnte wirklich als Schlaflied dienen. Doch mehr denn als eigenes Werk steht es an dieser Stelle als Vorbereitung auf den Höhepunkt des Stückes – einer groß angelegten Passacaglia [6]: Hier sticht sofort die sich ständig wiederkehrende Bassfigur hervor, deren Ecktöne aus Dowlands Lautenbegleitung entnommen sind und die den Grundstein dieses Werkes im Werke bildet. Hier nun schafft Britten wirklich eine Synthese aus Dowlands und seiner Welt! Immer dichter wird die Musik, immer mehr verweben sich die Stimmen und fast scheint es, als wolle Britten hier noch einmal alle Seiten des Dowlandschen Kosmos erhellen.

Und dann kommt alles zur Ruhe. Stille kehrt ein und fast fremd tritt uns die Originalkomposition entgegen, wie von ferne, aus einer anderen Welt. Und das ist sie ja auch! Denn getrieben von Brittens Talent haben wir sie bisher nur in ihren Verkleidungen kennengelernt, verfremdet, als Traummotiv, als verzerrten Marsch, als Gedankensplitter oder Schlaflied, doch jetzt hören wir das Stück zum ersten Mal in seiner Urform und fast ist es, als würden wir von einer langen Reise zurückkehren und einen Menschen, den wir bisher nur aus Erzählungen kennen, plötzlich nackt und wehrlos vor uns sehen.

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Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, was Shakespeare über Dowland sagte, was mir aber gleichermaßen zu Benjamin Brittens Werk zu passen scheint: »Du gibst dich Dowlands Melodien hin, von ihres Wohlklangs Zauber eingehüllet« [7]. In diesesm Sinne können wir den damals erst 19-jährigen Julian Bream nicht genügend danken, dass er Benjamin Britten überredet hat, ein solches Werk für unser wunderbares Instrument zu schreiben.

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Quellenhinweise

1 ….. »Ich denke an all die Musik die vor der Geburt Benjamin Brittens geschrieben wurde. Und danach. Ich denke an Ben.« Quelle: Naxos.com – Cd-Besprechung Johannes Hüttenmüller

2 ….. Natürlich gab es schon die bekannten Werke von Mauel de Falla, Heitor Villa-Lobos oder Frank Martin. Aber keiner dieser Komponisten war für die Welt der klassischen Musik auch nur annähernd so bedeutend wie Benjamin Britten.

3 ….. Timothy Bright (1551-1615), aus »A treatise of melancholie«; Er spricht hier zwar dezidiert von den Auswirkungen der Melancholie, doch scheint mir diese Stelle auch ganz gut auf das allgemeine Lebensgefühl dieser Epoche zu passen. Quelle Naxos.com – Cd-Besprechung Johannes Hüttenmüller

4 ….. Diana Poulton (1903-1995), englische Lautenistin; zitiert nach: ANALYSIS OF NOCTURNAL OP. 70 BY BENJAMIN BRITTEN, David J. Frackenpohl.

5 ….. Britten sprach mit Donald Mitchell über das Werk; zitiert nach: ANALYSIS OF NOCTURNAL OP. 70 BY BENJAMIN BRITTEN, David J. Frackenpohl.

6 ….. Variationsform des Barock, die meist auf einer vier- oder achttaktigen Basslinie fusst, die beliebig oft wiederholt werden kann.

7 ….. William Shakespeare in »The Passionate Pilgrim«, zitiert nach » John Dowland, Bedeutender Lautenvirtuose und Komponist der Spätrenaissance« von D. Kruse in BR Klassik.

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