Prelude Nr. 2 und Nr. 3
von Thomas Stiegler
Zu Beginn des 20. Jhdt. war die Gitarre fast vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden und kaum jemand erinnerte sich an die Rolle, die sie nur fünfzig Jahre zuvor im Konzertleben gespielt hatte.
Doch in einem kleinen Kreis rund um den spanischen Gitarristen Francisco Tarrega begann eine stille Revolution, die bald zu einer neuerlichen Blüte führen sollte. Tarrega, ein einsamer Tüftler und Enthusiast des Instruments, entwickelte die Spieltechnik immer weiter und legte damit, gemeinsam mit seinen Schülern Emilio Pujol und Miguel Llobet, den Grundstein für die weitere Entwicklung der Gitarre im 20. Jhdt.
In den 1920er Jahren eroberte der andalusische Gitarrist Andres Segovia die Konzertbühnen zuerst Europas und dann der Welt und blieb bis an sein Lebensende der wichtigste Repräsentant der klassischen Gitarre. Er schulte sich an den Werken F. Sors und F. Tarregas, aber im Gegensatz zu diesem war er ein extrovertierter Mensch und hat mit seinem Wirken der Gitarre wieder den ihr zustehenden Platz im Musikleben verschafft.
Da er wenig zeitgenössische Musik vorfand, veranlasste er zahlreiche Komponisten, für ihn zu schreiben. Dabei hatte er feste Vorstellungen von der Musik die er aufführen wollte. Er verlangte nach Werken die fest auf dem Boden der Tonalität standen und erlaubte nur einen sanften Impressionismus mit spanischen Anklängen. Dieses Feld deckten seine bevorzugten Komponisten wie J. Turina, F. Morreno-Torroba oder J. Rodrigo ab.
Schwerer hingegen hatten es Komponisten wie Manuel de Falla oder Frank Martin, die mit ihrer für damalige Verhältnisse modernen Musiksprache erst in den Händen von J. Bream und J. Williams die ihnen zukommende Anerkennung fanden.
Irgendwo zwischen diesen beiden Gruppen ist die Musik von H. Villa-Lobos einzuordnen. Wohl auch deshalb hatte Segovia ein solch gespaltenes Verhältnis zu seiner Musik. Manche seiner Stücke, wie etwa das Prelude Nr. 1, schien er zu lieben, denn er spielte es immer wieder in seinen Konzerten. Andere hingegen lehnte er ab und führte sie nie öffentlich auf.
Dazu gehörten etwa die zwölf Etüden die er 1929 in Auftrag gab, da er Stücke für den Aufbau eines Repertoires suchte. Villa-Lobos kombinierte populäre Spieltechniken mit verschiedenen Themen aus der brasilianischen Volksmusik, konnte damit aber nicht den Geschmack Segovias treffen.
Als er auch auf Bitten des Gitarristen die Stücke nicht umarbeitete weigerte sich Segovia, sie in seinen Konzerten zu spielen und nahm nur die erste Etüde in sein Programm auf.
Nun wandte sich Villa-Lobos für lange Jahre anderen Feldern der Musik zu und begann sich erst 1940 erneut mit der Gitarre zu beschäftigen. In diesem Jahr schrieb er die fünf Preludes, die man auch als einen Gegenentwurf zu seinen zwölf Etüden sehen kann. Denn nachdem er die Etüden explizit zur Lösung technischer Probleme geschrieben hatte, konzentrierte er sich hier darauf, die musikalischen Ideen und das Lebensgefühl seiner Heimat in den Vordergrund zu stellen.
Das Präludium Nr. 2 trägt den Untertitel „Melodia capadocia“
Im ersten Teil erleben wir den improvisierenden Gitarrespieler aus den vagabundierenden Chorogruppen Rios, dessen ständige Rubati an die unbeschwerte Rohheit und das spöttische Lachen der Capadocia gemahnen.
Diese ist eine schurkische Gestalt des brasilianischen Karnevals, die eine eingebildete Bewohnerin von Rio darstellt. Unbeschwert prahlend kommt sie daher, während der zweite Teil mit seiner Flut an Tönen den Höhepunkt eines Karnevalumzuges darstellt.
Rasend schnelle Arpeggios, eine charakteristisch rhythmisierte Basslinie (die in einigen Regionen Brasiliens in der Karnevalsblockade zu finden ist) und Harmonieverbindungen, die nur durch die Verschiebung eines einzelnen Akkordes über das Griffbrett entstehen, steigern sich zu einem wilden Taumel, der sich endlich beruhigt, worauf wir uns endlich wieder in den warmen Straßen Rios wiederfinden, zu Füßen der spöttisch lachenden Capadocia.
Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass Villa-Lobos zwei große Leidenschaften hatte: die Gitarre und die Musik J. S. Bachs. Dadurch erscheint es nur logisch, dass das Präludium Nr.3, „Hommage an Bach“, das Zentrum des gesamten Zyklus ist.
Das Stück ist wieder in der uns bekannten dreiteiligen Form geschrieben. Musikanalytisch gibt es nicht allzu viel her, aber ich habe in einer Arbeit von Luka Vehar ein paar schöne Worte dazu gefunden: „Der erste Teil ist wieder improvisatorisch angelegt und könnte als Dialog zwischen zwei Seiten von Villa-Lobos´ Persönlichkeit interpretiert werden: Dem starken, entschiedenen Teil, der sich allen Hindernissen stellt, steht eine sanfte und melancholische Seite gegenüber, die erkennt, dass ein Kampf auf lange Sicht zu keinem Ziel führen kann.“
Die Verbindung zu Johann Sebastian Bach findet sich hauptsächlich im zweiten Teil mit einer Zerlegung in klaren Harmonien, die an Bachs Präludien denken lässt.
Für mich ist dieser Teil immer wie eine Erinnerung an eine lang vergangene Zeit (vielleicht die Zeit Bachs?), die aber immer noch nachwirkt und im Leben des Komponisten präsent ist.

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