Reims und die Rosetten der Kathedrale
von Anja Weinberger
Wer von Deutschland aus mit dem Auto irgendwohin nach Frankreich fahren möchte, hat gute Chancen, an Reims vorbei zu kommen.
Reims, die Krönungsstadt der französischen Könige.
Reims, die Champagnerstadt.
Reims, der Legende nach gegründet von Remus, dem Bruder des Romulus.
Reims, tatsächlich eine Gründung der Kelten und in spätrömischer Zeit christianisiert, dann zum Bischofssitz erklärt.
Reims, Geburtsort des großen Geigers Henri Marteau.
Und: Reims, im 1. Weltkrieg zu 80% von deutschen Bomben verwüstet.
Das in etwa sind die Schlaglichter, die in meinem Kopf die Stadt Reims beleuchtet haben. Seltsamerweise hatte ich mich mit dieser Stadt und ihrer Kathedrale relativ wenig beschäftigt, obwohl mir schon bewusst war, dass sie im französischen Selbstverständnis eine besondere Rolle spielt. Über alle anderen Kathedralen und ihre Städte hatte ich mir wesentlich größere Mengen an Lesestoff besorgt.
Aber möglicherweise war auch genau das der Grund. Senlis, Amiens, Rouen, Noyon, Soisson, Meau, Laon und auch Chartres – das musste ich mir im wahrsten Sinne des Wortes erlesen. Ich suchte für diese Städte und ihre Kirchen nach Artikeln, nach kleineren Veröffentlichungen, nach Reisebeschreibungen. Daraus resultierte eine gewisse Sehnsucht und jene beinahe private Verbundenheit, die sich fast so anfühlte, als ob man schon da gewesen wäre oder zumindest ein guter Bekannter, gar Freund, von der Stadt, ihrer Atmosphäre, ihren Menschen und ihrer Kathedrale berichtet hätte.
Reims hingegen findet man in jedem Reiseführer, immer die gleichen Bilder, immer viel Text.
Mein Mann und ich konnten uns erst relativ spät im Leben vorstellen, dass es neben unserer großen Liebe „Italien“ noch ein zweites Sehnsuchtsland geben könnte. Die passenden Weichen mussten im Laufe der Zeit erst gestellt werden, die nötigen Impulse gesetzt und plötzlich war es so weit.
Wir waren nun „nur“ noch zu zweit, keine Kinderwünsche nach Strand, Eis, Pferdehof oder Minigolfplatz mussten berücksichtigt werden, genügend Ideen waren gesammelt und die erste Reise quer durch Frankreich bis nach Concarneau am Atlantik war fix und fertig geplant. In diesem Zusammenhang hatte es sich dann so ergeben, dass wir auf der Rückfahrt – sozusagen kurz vor der Grenze und nur als notwendige Zwischenstation – eine Nacht in Reims verbringen würden.
Auf der Hinreise konnten wir schon die großartigen Kathedralen von Amiens, Rouen und Bayeux bewundern und danach eine herrliche Woche am Atlantik verbringen. Im Urlaub, am Meer, mit dem Blick in die Ferne, stapeln sich immer die mitgebrachten Bücher auf dem Nachttisch. Da ist fast alles dabei: Krimis, die hier in der Gegend spielen, Romane, die in Ruhe gelesen werden wollen, eine französische Grammatik, um endlich zu verstehen, wie das nun geht mit dem Subjonctif und natürlich Reiseführer zu allem, was so auf dem Wege liegt. Denn endlich lenkt nichts ab vom Lesen; die Flöte wollte zuhause bleiben, kein Haushalt ruft nach mir, das Frühstück steht wie von Zauberhand auf dem Tisch und unsere Telefone sind nur zum Fotografieren da.
Zwischen den langen Spaziergängen am Wasser, in den Dünen oder den zauberhaften Örtchen lässt es sich herrlich schmökern. Und – komischerweise hat mich da Reims gepackt. Genügend Informatives hatte ich schließlich dabei. So kam es also, dass wir uns sehr auf die letzte Übernachtung kurz vor Urlaubsende freuten – noch einmal eine große Kathedrale. Wunderbar.
Dann war der Urlaub am Meer auch schon wieder zu Ende, wir fuhren einen ganzen Tag Richtung Osten und kamen in Reims an; viele Kilometer lagen hinter uns, einmal quer durch Frankreich. Erschöpft wie wir waren, wollte ich trotzdem noch in der Dunkelheit den Steinkoloss sehen. In Kathedralennähe fühle ich immer diese eigenartige Unruhe und muss sofort loslaufen. Mein Liebster kennt das längst und wundert sich nicht mehr. Wir mussten einige Minuten gehen, denn das Hotel hatten wir ja diesmal unter anderen Voraussetzungen gebucht – es sollte einfach günstig am Weg liegen für eine schnelle Übernachtung auf der Heimfahrt.
Von hinten, also von der Chorseite, kamen wir auf die Kathedrale zu. Ein sehr heller Mond stand direkt darüber, fast gespenstisch. Ein paar Straßen weiter fand wohl gerade ein Festival statt und eine Band spielte laut – ganz eigenartig, diese Atmosphäre. Aber die Gotik hat hier ganze Arbeit geleistet: Wasserspeier ragen ins Mondlicht, die äußeren Strebepfeiler stehen fest und sicher an der Seite, manche Steine sind heller, vermutlich weil sie erneuert wurden – wie ein Puzzle sieht das Kirchengebäude aus.
Schnell war mir jedoch klar: Hier gibt es gerade eine große Baustelle. Tatsächlich hatte ich mich vorher gar nicht erkundigt, denn es sollte ja nur der notwendige Zwischenstopp auf halber Strecke der Heimfahrt sein.
Am nächsten Morgen war es dann offensichtlich: Die Westfassade wird gerade im großen Stile saniert. Reims ist ja bekannt für seine doppelte Rosette. Anders als bei anderen gothischen Kathedralen kann man hier zwei Rosetten übereinander bewundern, eine kleinere und eine größere. Und genau diese beiden Radfenster standen im Fokus der Restauratoren. Ungewöhnlich hier in Reims ist, dass die Portale im Tympanon Fensteröffnungen aufweisen, das mittlere Hauptportal eben sogar eine Rosette. Von außen erscheint das gar nicht so aufregend, aber steht man innen, vielleicht sogar bei Sonnenlicht, dann muss diese doppelte Lichtrosette überwältigend sein.
Viel Mühe hatten sich die Verantwortlichen gegeben. Auf der Plane und dem Holzverschlag, die die Baustelle von innen abdeckten, waren beide Rosetten in schwarzen Schemen aufgezeichnet. Auch das mittlere Portal selbst war von außen nicht zu sehen, alles sehr ordentlich und formschön verschalt.

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So standen wir also hier, die Köpfe im Nacken, wie das bei großen Kirchen ist, und haben dieses Wunderwerk der Gotik betrachtet. Es ist ja nicht so, dass hier nur die Westfassade bestaunenswert wäre. Nein, Reims hat noch viel mehr zu bieten. Innen, ganz am anderen Ende, im Chor nämlich, sind besonders schöne Kirchenfenster von Marc Chagall und Imi Knoebel zu bewundern. Und geht man wieder hinaus und dreht sich um, dann findet man am nördlichen, also linken, Portal der Westfassade den berühmten lächelnden Engel von Reims.
Die Kathedrale von Reims hat im Vergleich zu anderen Kirchen ganz besonders viele Statuen aufzuweisen, im Ganzen sind es mehr als 2300, darunter ungewöhnlich viele Engel; und die eine oder andere dieser himmlischen Gestalten lächelt. Dieser eine spezielle schmachtende Engel jedoch hat eine besondere Geschichte und wird deshalb immer hervorgehoben. Durch den Artilleriebeschuss am 19. September 1914 wurde der Kopf der Figur von herabstürzenden Steinen abgeschlagen. Er zerbarst beim Aufprall in mehrere Teile.
Bilder der schlimmen Zerstörungen wurden für Kriegspropaganda benutzt und der zerstörte Engel so zur Ikone. Nach Ende des Krieges konnte man die Teile des Kopfes anhand eines aufbewahrten Gipsabdruckes wieder aneinanderfügen und fehlende Stellen ersetzen. Seit 1926 hat der Engel nun schon seinen Kopf zurück. Übrigens gibt es einen spiegelverkehrten Doppelgänger am Hauptportal, also am mittleren der drei Westportale. Dort tritt der lächelnde Engel als Erzengel Gabriel in der Verkündigungsgruppe auf.
Ich muss ja sagen, so ganz unter uns, wirklich sicher bin ich mir nicht, ob er lächelt. Ein eigenartiger Gesichtsausdruck. Und ein kleines Mädchen neben mir fand das wohl auch und flüstert ihrer Mutter zu, der Engel ähnle dem Schwesterchen, wenn es seine Windel nass macht. Naja, schauen Sie einfach mal selbst.
Geht man schließlich außenherum um die nördliche Ecke und betrachtet das nördliche Seitenportal, so wird man eine eigenartige Person erkennen.
Ich beschreibe einfach einmal, was mir beim ersten Anblick so durch den Kopf ging: „Oja, das ist schade, da hat jemand mit einem Hammer, vermutlich während der Revolution, ganze Arbeit geleistet. Der Kopf fehlt leider, komische Reste sind zu sehen, da am Hals. . Ist das vielleicht ein hochherrschaftliches Gewand mit hohem Kragen? Wirklich eigenartig. Aber sonst steht da ein stattlicher Kerl mit einem wirklich schönen Mantel. Moment mal, was hat er in der Hand? Ist das eine Maske, nein, ein Kopf.
Ein Kopf? Sein eigener Kopf!“ Und da war mir schnell klar, dass dieser Heilige einer aus der Gruppe der Cephalophoren ist. So nennt man die, die während ihres Martyriums geköpft wurden und die man, als Zeichen desselben, den eigenen Kopf in Händen tragen lässt. Da gibt es einige Beispiele, der bekannteste ist vermutlich Dionysos, also St. Denis.
Normalerweise ist bei diesen Figuren einfach am Hals Schluss, man weiß sofort, was dargestellt ist, und der Kopf ist unter dem Arm oder in den Händen oder auf einer Schale zu finden. Hier aber ist der Ort, an dem der Kopf verloren wurde umkränzt von Engeln, die etwas in den Händen halten, eine Krone oder einen Heiligenschein – ich habe es bis heute nicht herausgefunden. Dieses Geschwirre um die malträtierte Stelle des Martyriums verwirrt den Betrachter. Und passenderweise fehlen auch diesen kleinen Figuren die Köpfe, was aber vermutlich tatsächlich mit der Revolution oder einer anderen Art der Zerstörung zu tun haben wird. Das wiederum steigert jedoch die Verwirrung, so dass man tatsächlich erst nach längerer Reaktionszeit erkennt, was oder wer hier dargestellt ist.
Ganz in der Nähe dieser Figur ist in den Boden eine große Platte eingelassen, die an die „Messe der Versöhnung“ erinnert, die Adenauer und de Gaulle 1962 hier miteinander gefeiert haben.
Wirklich enttäuscht waren wir also trotz großer Baustelle gar nicht, als wir eine Stunde später Richtung Heimat fuhren. Und uns war klar: Den Fortgang der Bauarbeiten werden wir verfolgen. Die nette Dame an der Kasse hatte berichtet, dass es noch einige Jahre dauern soll.
Zwei Jahre später fuhren wir auf dem Weg von Metz nach Chartres über Reims. Uns interessierte, wie weit die Arbeiten gediehen waren. Direkt hinter der Kathedrale an der Straße kann man ganz leicht Parkplätze finden und von da aus sind es nur wenige Schritte zum Chor.
Diesmal war herrlichstes Sommerwetter. Auch ein Teil vom Dach und des Chores war nun eingerüstet. Mir erschien sogar das Gerüst wie ein Kunstwerk. Viele Meter hoch, mit goldfarbenen Verbindungen und silbrigen Leitern schwebte es über dem, trotz Gotik, massiven Bau.
Die Arbeiten an der Westfassade waren deutlich fortgeschritten. Nun konnte man von außen und von innen die kleine Rosette im Tympanon des Mittelportales schon bestaunen. Die große Rosette jedoch war immer noch abgedeckt und wir haben erfahren, dass sie nebenan im Palais du Tau auseinandermontiert wurde und gründlich gereinigt. Die Besucher konnten auf diese Arbeiten sogar einen Blick erhaschen, denn der Palais du Tau, der gotische Bischofspalast, beherbergt ein sehr informatives und schönes Museum. Spannend; verblüffend auch die schiere Größe des Fensters und seiner Einzelteile.
Noch ein Jahr später war es dann bereits wieder soweit. Diesmal haben wir auf der Rückfahrt vom Atlantik den Weg an der Loire entlang gewählt, in Chalôn-en-Champagne übernachtet und kannten uns nun, angekommen in Reims, schon aus mit den Parkplätzen hinter dem Chor der Kathedrale. Dort zu parken ist wirklich ideal, denn dann sieht man auch die schöne Grünanlage zwischen Kirche und Palais, sowie die hübsche Bischofskapelle, die in einem irgendwie eigenartigen Winkel zu allem anderen steht.
Von außen war zumindest das Steinerne um die Rosette herum wieder zu sehen. Auch das ist hier in Reims anders, als bei anderen Kathedralen. Denn ganz knapp über der obere Rosette, die hier in Frankreich gerne La grande Rose genannt wird, nur durch einen Spitzbogen von ihr getrennt und noch im gleichen Mauerabschnitt, wird eine Geschichte erzählt.
An den meisten anderen Kathedralen befindet sich hier und um die Rosette herum entweder „nur“ Verzierendes, oder die Andeutung eines Lebensrades oder die vier Evangelisten in Form ihrer Platzhalter oder etwas Ähnliches.
In Reims aber können wir an dieser Stelle David und Goliath sehen, gleich zweimal, sich ihren gewaltigen Kampf liefernd. Besonders erfreulich ist, so finde ich, dass man sich hier bei der Sanierung für eine Wiederherstellung der kompletten Szenerie entschieden hat. Meist beschließt der moderne Denkmalschutz ja eher eine Konservierung der momentanen Situation. Das geht natürlich oft zu Lasten der erzählten Geschichte, denn das eine oder andere Mal fehlen Figuren oder wichtige Attribute. Nicht so hier: auf beiden Seite der Grande Rose ist nun neben David wieder ein Goliath zu sehen, der nach den Zerstörungen des 1. Weltkrieges auf der rechten Seite lange schmerzlich vermisst wurde.
Diesmal hatten wir auch Muse genug, um mehr als nur das Offensichtliche zu bestaunen. In Reims gibt es an der westlichen Außenfassade eine sehr schöne Königsgalerie oberhalb der Grande Rose. 56 Figuren sind es, in der Mitte sehen wir Chlodwig, der sich gerade taufen lässt. Gleich daneben steht der Heilige Remigius mit der „Saint Ampoule“ in der Hand, aus der bei der Krönung gesalbt wurde. Die Vorfahren der französischen Könige verschmelzen hier in Reims in luftiger Höhe mit den königlichen Stammvätern Christi zu einem völlig einheitlichen Abbild des mittelalterlichen Königtums. Schön!
Wären die Kriegszerstörungen nicht, so könnte man dieselbe Anzahl Könige in den Glasmalereien des Obergadens im Inneren der Kathedrale bewundern.
Und auch hier, im Inneren, setzt sich diese ungewöhnlich große Menge an Skulpturen an der Westwand fort, also an der Wand um das Hauptportal herum. Eine ganze Armee Figuren bevölkert diese Fläche, jede in einer eigenen Nische. Einfach großartig!
Man stelle sich einmal vor, dass all diese Figuren früher farbig gefasst waren. Im Zusammenklang mit den beiden Rosenfenstern ein einmaliger Farbenrausch.
Nun freuen wir uns schon sehr auf den nächsten Besuch in dieser schönen Stadt. Die ambitionierten Bauarbeiten sind seit Kurzem abgeschlossen, so haben wir gehört und gelesen. Eine nette Kustodin hatte bei unserem letzten Besuch empfohlen, am frühen Nachmittag und bei Sonnenschein zu kommen. Dann entfaltet die doppelte Rosenpracht ihren ganzen Glanz. Wir versuchen natürlich, das einzurichten.
So oft, wie die königliche Kathedrale in Reims, haben wir bis jetzt keine andere besucht.
Verwendete Literatur
Schäfke, Werner: Frankreichs gotische Kathedralen, Köln 1979
Orain, Philippe: Églises et abbayes, Boulogne 2014