Sigfrid Karg-Elert
von Anja Weinberger
Sigfrid Karg-Elert – einer der großen „vergessenen“ Komponisten
Siegfried wurde 1877 in Oberndorf am Neckar als eines von 12 Kindern der Familie Karg geboren. Schon der kleine, dreijährige Junge legte eine beinahe krankhafte Begeisterung für Glocken an den Tag und konnte stundenlang mit Zahlen und Rechenaufgaben beschäftigt werden.
1883 zog die Familie nach Leipzig, wo der 11jährige Siegfried im Chor der Johanniskirche sang. Dort bemerkte man sein absolutes Gehör, und der Chordirigent Bruno Röthig unterstützte das junge Talent nach Kräften.
Trotz aller Begeisterung für die Musik musste er, dem Wunsch seiner Erziehungsberechtigten folgend, das Lehrerseminar in Grimma besuchen. In der freien Zeit widmete er sich jedoch der Oboe, dem Klavier und der Komposition und ergatterte schließlich eine Stelle als Oboist in der Markranstädter Stadtkapelle.
1896 legte er dem damals sehr bekannten Dirigenten und Komponisten Emil Nikolaus von Reznicek einige Werke vor, und dieser vermittelte ihn sofort mit einem Stipendium ans Leipziger Konservatorium.
Ab 1901 lebte er dann in Weimar als Klavierlehrer und Pianist. Jetzt änderte er seinen Namen, in dem er beide E im Vornamen strich und dem Nachnamen den Mädchennamen der Mutter anfügte. Durch Ersteres hoffte er, mögliche jüdische Anklänge zu vermeiden und Zweiteres erschien ihm schlichtweg interessanter, um so Schüler und Konzertangebote anzulocken. Denn eine Karriere als Pianist war nun durchaus in greifbare Nähe gerückt.
Doch dann lernte Sigfrid Karg-Elert 1904 Edvard Grieg kennen, der ihn einerseits darin bestärkte, sich ausschließlich der Komposition zu widmen, und andererseits Verbindungen herstellte zu mehreren einflussreichen und sofort interessierten Verlagen. Auf diesem Wege gelangte er schließlich auch zur Orgel. Denn der Verleger Carl Simon machte ihn mit dem Kunstharmonium bekannt, und der Gewandhausorganist Paul Homeyer bat dann Jahre später um Bearbeitungen der entstandenen Harmoniumwerke für die Konzertorgel. Ab 1909 entstand dann Karg-Elerts grandiose Orgelmusik.
Den Krieg erlebte er als Regimentsmusiker und saß im Infanterie-Orchester direkt neben Carl Bartuzat, dem Ersten Flötisten des Leipziger Gewandhaus-Orchesters. Der machte ihn vertraut mit der Böhmflöte, die in Deutschland ja einen schweren Start hatte. Und so konnten nun die Werke entstehen, die wir Flötisten heute gleichermaßen hassen und lieben. Denn Karg-Elert verstand sofort, welch neue klangliche und technische Möglichkeiten die Böhmflöte bot und reizte diese weite Palette dann bis zum Äußersten aus. Entstanden sind so Meisterwerke, die technisch, musikalisch und körperlich den ganzen Musiker fordern, die uns aber im Gegenzug mit einer völlig neuen Klangwelt beschenken.
Ohne technische Studien ist da gar nichts zu machen, und so legte der Komponist gleich noch 30 Caprices auf die Flötistennotenständer, die alle Belange der modernen Musik durchleuchten und „die unübersehbaren technischen Möglichkeiten der Böhmflöte“ (Karg-Elert im Vorwort) erkunden.
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Ab 1919 lehrte Sigfrid Karg-Elert am Leipziger Konservatorium Musiktheorie und Komposition als Nachfolger Max Regers.
Seine Polaristische Klang- und Tonalitätslehre von 1931 steht am Ende einer langen Reihe musiktheoretischer Schriften. Als sein Lebenswerk sah er selbst die Harmonologie an, in der er das Dur/moll-System mit all seinen jahrhundertealten Regularien neu zu strukturieren versuchte. Überall in der musikalischen Welt geschah in dieser Zeit Ähnliches. Man denke dabei nur an Schönbergs Zwölftontechnik und die französische Polytonalität.
In der englischsprachigen Welt wurde vor allem seine Orgelmusik begeistert aufgenommen. In London fand 1930 ein zwölftägiges Karg–Elert-Festival statt und er wurde Ehrenmitglied des London Royal College of Organists. 1932 reiste er dann als Konzertorganist durch Amerika.
Die schleichende Nationalisierung des deutschen Musiklebens verschlechterte Karg-Elerts Stellung in Leipzig seit Ende der 1920er Jahre zusehends. Er, der eher international orientiert war, wurde nach seiner Rückkehr aus den USA schnell schwer krank und starb 1933 mit nur 55 Jahren.
Der deutsche Nationalsozialismus negierte Karg-Elerts Werk. Der Name des nicht-jüdischen Komponisten Karg-Elert wurde nach seinem Tod in die erste Auflage des berüchtigten „Lexikons der Juden in der Musik“ aufgenommen. So waren die Kompositionen des außergewöhnlich phantasiebegabten, exzentrischen Musikers, der heute als Jugendstilkomponist schlechthin gilt, lange nicht zu hören. Denn nach dem Krieg stand schon eine neue Generation Musiker in den Startlöchern und Karg-Elerts großartige Musik geriet in Vergessenheit.
Wir Flötisten kennen Karg-Elerts Namen gut, sprechen ihn aber nie ohne eine gewisse Ehrfurcht aus. Denn seine Werke sind … schwer. Anders lässt sich das einfach nicht ausdrücken. Jedoch bieten sie eine Fülle an hochromantischen Phrasen, lassen uns schwelgen in Klangwolken und locken uns in die unterschiedlichsten Gefühlswelten. Als Beispiel hier nur die Satzbezeichnungen der Suite pointillistique für Flöte und Klavier: Leicht bewegt – Äußerst gedehnt (Der kranke Mond) -Scherzo (Diavolina und Innocenz) – Gewichtig, breit. Seine Kammermusik nimmt in der Flötenliteratur eine wichtige Stelle ein, denn sie bildet die Brücke von der Spätromantik zum freitonalen Expressionismus. Ihre spieltechnischen Raffinessen zeigen, dass Karg-Elert ein genauer und interessierter Kenner der damals gerade modern gewordenen Böhm-Flöte war. Die B-Dur-Sonate ist seinem Kollegen am Nachbarpult, Carl Bartuzat, gewidmet.
Sein flötistisches Meisterwerk hat er wohl mit der Sonata appassionata geschaffen – das erste deutsche Werk für Flöte solo im 20. Jahrhundert. Diese Gattung, solange vergessen, sollte nun einen enormen Aufwind erleben.
Verwendete Literatur:
Adorjan, Andras (Hrsg.) u.a.: Lexikon der Flöte, Laaber 2009
Blume, Friedrich (Hrsg.): Musik in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2004
Schenk, Paul: Sigfrid Karg–Elert. Eine monographische Skizze mit vollst. Werkverz., Leipzig 1927
Anja Weinberger im Leiermann-Verlag
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