Social Media und Oper – Fidelio als Vorreiter?

von Mirko Rechnitzer

Aufmerksamkeit! 

Tiktok, Youtube Shorts, Reels: Die heutige Zeit wird vom Kurzformat dominiert. Schnell wechselnde Inhalte ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich. Längere, gehaltvolle Filme oder gar Texte werden immer weniger konsumiert. Die Wissenschaftler sind sich nicht einig darüber, ob der Medienkonsum eine kurze Aufmerksamkeitsspanne verursachen kann. Immerhin es ist offenbar, dass es Übung benötigt, eine Sache länger bewusst zu verfolgen.

Doch der Gegensatz zwischen der abwechslungsreichen, leichteren Kost und den gehaltvolleren Volumina, die mehr Konzentration erfordern, ist keine Neuheit der digitalen Welt. Schon lange bestehen handlungsreiche, ereignisvolle Romane neben Werken, deren Handlung auf der Oberfläche sehr arm erscheint. Erst in der subtilen Entfaltung der Charakterzüge und Regungen ist die Tiefe zu erblicken. Christian Gottfried Körner, Mäzen Friedrich Schillers, sowie der Philosoph Arthur Schopenhauer zogen unabhängig voneinander Vergleiche zwischen schwarz-weißer bildender Kunst und Malerei und anderen Kunstformen: Ohne die Farben liefert das Werk dem Betrachter weniger Anschauung, ermöglicht jedoch seiner Fantasie, den Gegenstand noch viel reicher zum Leben zu erwecken.

Das Kontinuum zwischen Effekthascherei und Tiefe ist in der Oper ein heißes Eisen. Schon immer bemühte sich diese Kunstform um die Aufmerksamkeit des Publikums, das Abwechslung und Beeindruckendes braucht, um bei der Stange zu bleiben. Der von Robert Schumann sehr geschätzte Anton Justus Thibaut beklagte, dass im Opernhaus Karten gespielt wurde und man andere Damen und Herren musterte. Wechselnde Bühnenbilder, theatralische Effekte, häufige Wechsel der Szenen, Emotionen, der Einsatz des Balletts – mit all diesem wird der Stimulierung gedient, nicht selten zum Preis einer gewissen Oberflächlichkeit. Auf der anderen Seite steht in der Oper der Versuch, große Kunst zu schaffen durch die Verarbeitung literarische Stoffe, kunstvoller Poesie und meistervollen Kompositionen.

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Mit dieser Abwägung sah sich auch Ludwig van Beethoven konfrontiert. Er arbeitete seine einzige Oper Fidelio, in Zusammenarbeit mit insgesamt drei Librettisten,  mehrfach um. Die Veränderungen in Musik und Handlung zeugen von seinen Mühen, den Bedürfnissen einer fesselnden Dramaturgie gerecht zu werden. Die recht erfolglosen ersten beiden Fassungen waren in vielem mehr literarisch, als bühnentauglich konzipiert. Ihre Qualität erschließt sich mehr in der Kontemplation als auf der Bühne.

Zutage tritt dieser Kontrast exemplarisch in der Arie des Florestan. Weil er Machenschaften des Gefängniswärters Don Pizarro offen angeprangert hat, sitzt er im unterirdischen Verlies. Den zweiten Akt eröffnet er mit der Schilderung seines bitteren Schicksals: „Wahrheit wagt ich kühn zu sagen, und die Ketten sind mein Lohn“.

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Die Klage über die ungerechten Ketten wird besonders unterstrichen. Mit einem ausdrucksvollen Rufe lässt, in der dritten und letzten Fassung von 1814, Florestan, der im Dunkeln ausgehungert wird, inmitten allem Dulden auch Wut und Leiden sehen. Das Orchester scheint mit dem Zittern über einer Zwischendominante, dem ein Trugschluss vorangeht, gleichsam das empörend Falsche zu unterstreichen, dass auf die edle Tat die unmenschliche Bestrafung folgt. Nicht minder ausdrucksvoll ist sein Ringen im vorhergehenden Rezitativ: „Gott, welch Dunkel hier!“ Zum Ende der Arie wendet sich die Stimmung: Der Bewusstlosigkeit nahe, halluziniert der Inhaftierte mit allen Sinnen. Er erlebt, wie ein Engel, der seiner Geliebten gleich, ihn von seinen Qualen in den Himmel führt. 

Ganz anders wirkt die erhaltene frühere Fassung von 1806. Florestan wirkt hier regungsloser, apathischer. Tastend und zaudernd bewegt sich das Rezitativ, fern sind dramatische Schreie wie gleich zu Beginn der späteren Version. Beim Ausruf der „Ketten“ ist es, als ob der Ermattete vom letzten seiner Kraft zehrt; die Betonung ist im musikalischen Fluss deutlich zu spüren, doch weniger scharf, und in eine mattere Kadenz, auf einem Ton verharrend und in der hohlen Quintlage schließend, sinkt sie ab. Anstelle einer ekstatischen Vision bleibt dem Helden am Schlusse seines Monologs der trostvolle Gedanke für seine Geliebte, dass diese sich seiner Rechtschaffenheit gewiss sein kann.

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Der Vergleich beider Fassungen zeugt von der Tatsache, dass man nicht alle Vorzüge miteinander vereinen kann. Die letzte Fassung der Arie ist in der melodischen Gestaltung, der Harmonik und der Orchestrierung kunstvoller. Die Vertonung aller Aussagen hat bis ins Detail großen Wiedererkennungswert. Raffiniert, wie Beethoven ein Motiv, welches in der Ouvertüre und anderen Stellen der Oper vorkommt, ins Melisma zu „… ist das Glück von mir geflohn“ einflocht.  Der Schlussteil mit seinem Oboensolo ist wunderschön und kontrastierend. Doch bei alledem geht die Einheit des Charakters und der Szene ein wenig verloren, die in der kargen, älteren Fassung besteht. Florestan erweist sich als duldender und leidender Held, der in seinem reinen Gewissen Trost findet, und die jubelvolle Befreiung bleibt für das Ende aufgespart.

 

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Literatur:

Stefan Schaub: Erlebnis Musik. Eine kleine Musikgeschichte, Kassel 1993.

Anton Friedrich Justus Thibaut: Über Reinheit der Tonkunst, Heidelberg 1825,

Digitalisat: https://doi.org/10.11588/diglit.19850

 

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