Unterm Birnbaum

Ich habe mir einmal die Zeit genommen und die Liste der meistverkauften Bücher der letzten Jahre durchgesehen.

Ganz oben stehen natürlich Krimis und Thriller, knapp gefolgt von Ratgebern und Sachbüchern. Romane sind fast ausschließlich auf den hinteren Plätzen zu finden, wobei die Bezeichnung „Romane“ ein breites Spektrum von gehobener Literatur über Historiendramen bis hin zu Liebesgeschichten abdeckt.

Das hat mich natürlich zum Nachdenken gebracht, vor allem darüber, wieso gute Literatur heute einen so schweren Stand hat.

Ich glaube, ein Grund dafür ist, dass die Welt heute ein so komplexer Ort geworden ist, dass die Menschen einen Großteil ihrer Kraft aufbringen müssen, um überhaupt geistig gesund zu bleiben. Und den Rest ihres Lebens verbringen sie lieber mit Geschichten, die ihre Zeit totschlagen und den Geist nicht zu sehr beanspruchen als mit solchen, deren komplexe Handlungsstränge sie wirklich herausfordern würden.

 

Krimis haben dabei eine besondere Stellung, denn durch ihren Zugang zur Welt hat die Beschäftigung mit ihnen eine kathartische Wirkung. Denn es gibt immer eine klar umrissene Tat, einen eindeutig Schuldigen und mit dem Ermittler den Archetypus eines Helden, der vor einem Rätsel steht und es allein durch die Kraft seines Geistes löst.

Der Leser kann sich währenddessen zurücklehnen und mit wohligem Schauer auf das Ende warten, um sich dann wieder ungestört seinem Leben zu widmen.

Dabei sage ich bewusst ungestört, denn selten werden in diesen Büchern Fragen berührt, die an das Wesen des Menschseins greifen und über das Buch hinaus weisen.

 

Eine andere Antwort habe ich im Buch der amerikanischen Autorin Jean M. Twenge gefunden. In „Me, My Selfie and I“ spricht sie davon, dass Menschen durch die massive Benutzung der Neuen Medien Gefahr laufen, auf einer frühen Entwicklungsstufe stecken zu bleiben, immer später erwachsen zu werden und als Erwachsene sogar in ihrer Entwicklung zurückzufallen.

Das würde auch in Bezug auf die schöne Literatur vieles erklären.

Denn wenn wir ehrlich sind, dann braucht es, um Literatur wirklich genießen und verstehen zu können, einen ganzen Menschen, eine gefestigte Persönlichkeit, die von ihrem Standpunkt aus neue Gedanken produktiv aufnehmen und mit ihrem Leben verknüpfen kann.

Denn gute Literatur wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Sie berührt tiefere Ebenen unseres Seins, lässt uns hinter den Schleier des Alltäglichen blicken und gibt uns tiefere Einsichten in das Wesen des Menschen.

 

Ich finde den Ansatz von Jean M. Twenge sehr interessant. In Bezug auf unser Thema würde wäre das auch eine Erklärung, wieso sich viele Erwachsene mittlerweile literarisch auf dem Niveau von Kindern befinden und nur noch spannende Geschichten hören wollen, Geschichten, in denen etwas geschieht und der stete Kitzel des Neuen sie ununterbrochen am Laufen hält.

Denn genau das kann man heute auch an unseren Literaturlisten beobachten, die kaum noch Bücher enthalten, die über unsere Welt hinausweisen und uns aus unserem Dämmerzustand reißen.

Kulturgeschichten, Rezepte und Anekdoten zum Kaffee

ein Buch von Thomas Stiegler

Frauengeschichten – Kulturgeschichten aus Kunst und Musik

Ein Buch von Anja Weinberger mit Geschichten aus dem Leben unterschiedlichster Frauen in Kunst, Musik, Ballett, Fotografie und Keramik.

 

Trotzdem möchte ich heute einmal über eine Kriminalgeschichte sprechen, über die Chronik eines Verbrechens aus Habsucht. Aber im Mittelpunkt von „Unterm Birnbaum“ steht nicht, wie heute üblich, die Tat an sich, sondern die psychischen Hintergründe der Mörder und die Auswirkungen eines Mordes auf ihr Leben.

 

Abel Hradscheck ist ein schlechter Wirt. Er spielt und trinkt selbst mehr als seine Gäste und das wenige Geld, das er einnimmt, reicht bald nicht mehr zur Begleichung seiner Schulden.

Dabei ist er weniger verschwendungssüchtig und prachtliebend als vielmehr einfach nur unglücklich. Denn seine Frau Ursel hat sich zwar an der Oberfläche mit ihrem Leben arrangiert, aber in Wirklichkeit konnte sie sich nie mit ihrem gesellschaftlichen Abstieg und ihrer Rolle als Wirtsfrau abfinden. Und so versucht sie, ihre innere Leere mit Luxus und sinnlosen Spielereien zu füllen.

Doch durch die zunehmenden Schulden droht das mühsam errichtete Lügengebäude einzustürzen.

 

Abel sieht nur noch einen Ausweg: den Mord an einem Handlungsreisenden und den Diebstahl seines Goldes.

Und so bedrängt er seine Frau, bis sie schließlich in die Tat einwilligt. Denn er weiß, ihr größter Albtraum ist es, wieder arm zu sein: „Armut ist das Schlimmste, schlimmer als der Tod,“ stößt sie einmal voller Furcht hervor.

 

Doch Abels Frau kann mit dem Geschehenen nicht umgehen. Sie erkrankt und stirbt, unfähig, die Tat zu vergessen und mit ihrer Schuld zu leben.

Hradscheck hingegen scheint das Gewissen nicht zu plagen. Nach dem Tod seiner Frau lebt er in Saus und Braus, äußerlich unberührt und scheinbar glücklich. Doch auch ihm hat sich der vergiftete Wurm in die Seele gefressen und vergällt ihm so das Leben.

 

Theodor Fontane schrieb keinen klassischen Kriminalroman, sondern er schuf ein düsteres Gemälde, in dem er zeigt, was ein Verbrechen mit den Menschen macht und wie sehr es sie verändert. Bis zum bitteren Ende.

Eines der wenigen Werke der Kriminalliteratur, das ich gelesen habe und uneingeschränkt empfehlen kann.

Zitate aus:

Theodor Fontane, Erzählende Werke, Welt im Buch Verlag Kurt Desch 1954
Dr. Jean M. Twenge, Me, My Selfie and I, Mosaik Verlag 2017, Übersetzung: Nikolaus de Palézieux / Hendrik Heisterberg

Mehr dazu gibt es in meinem neuen Buch: Literaturgeschichten, Kulturgeschichten aus der Welt der Literatur

Und hier gibt es das Buch von Theodor Fontane zu kaufen:

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