Van Gogh konnte gar nicht malen!
von Georg Rode
Um es gleich vorweg zu nehmen, ich bin nicht dieser Ansicht, aber ich finde den Gedanken interessant.
Die Wissenschaften haben definierte Standards für die Auseinandersetzung mit ihren unterschiedlichen Forschungsobjekten. Die Kunst hat das nicht, es gibt keine verwertbaren Kriterien für „gute“ oder „schlechte“ Kunst. Wenn man vom Preis für Kunstwerke ausgeht, hat man zwar eine Kategorie für nachvollziehbare Vergleiche, die sich aber auf den Marktwert beziehen, nicht auf das Kunstwerk selber. Da gibt es keinen Unterschied zu Briefmarken. Während die Wissenschaften mit Thesen und Argumenten arbeiten, die bei der Rezeption oft mit Meinungen verwechselt werden, scheint die Kunst hauptsächlich für Meinungen offen zu stehen. Wie könnte man dort zu Argumenten gelangen?
Vielleicht wenn man zu einer allgemein anerkannten Einschätzung das Gegenteil behauptet und damit gezwungen wird, die abweichende Meinung zu begründen. Die Idee dazu kam mir bei der Betrachtung des Frühwerks von Van Gogh, von dem das Bild der Kartoffelesser wohl das bekannteste ist.
Fünf Personen bilden einen Kreis um einen Tisch, die beiden großen Personen links und rechts haben fast comicartige Züge, der Mann auf dem Stuhl wirkt perspektivisch falsch. Die linke hintere Frau schaut in Richtung ihres Tischnachbarn, aber an ihm vorbei, der hintere Mann schaut in Richtung seiner Nachbarin, aber so, dass man nicht genau sieht worauf sein Blick fällt. Die vordere Frau schließt das Oval der Köpfe, es ist nicht gewiss ob sie sitzt oder steht. Sie ist im Verhältnis zu den anderen zu klein, denn sie müsste als Vorderste die Größte sein. Allerdings gibt sie sie dadurch den Blick auf den Tisch frei, auf dem rechts ein Getränk in Tassen gegossen wird und auf dem links eine Schale mit den Kartoffeln steht, bei der die linken Personen mit Gabeln zugreifen. Das Bild ist in den für diese Schaffensperiode typischen dunklen Erdtönen gehalten.
Ich habe diese immer noch nicht gründliche Beschreibung eingefügt, um zu zeigen, dass das Bild nach bestimmten Kriterien Fehler enthält, zumindest nicht eindeutige Gestaltungsentscheidungen, so dass man zu dem Schluss kommen könnte, der Maler könne nicht malen. Inhaltlich ging es Van Gogh um die Darstellung von bescheidenen Menschen, die mit ihren Händen die Kartoffeln essen, die sie selber gepflanzt und geerntet haben, wie er in einem Brief an seinen Bruder schrieb. Weiter sagt er: „Ich möchte denn auch durchaus nicht, daß jeder es gleich schön oder gut fände.“ Eine objektiv „richtige“ Darstellung war nicht in seinem Sinn, was bei Van Gogh aber auch nicht verwundert.
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Was will ich nun sagen, dass er vielleicht nicht malen konnte, aber dann doch? Wir sehen, meine ich, Van Gogh hier nicht vordergründig bei einer artistischen Darstellung von Wirklichkeiten. Wir beobachten ihn dabei, die oberflächliche Genauigkeit aufzugeben für die Vermittlung der Lebenssituation von „einfachen“ Menschen, die von ihrer Hände Arbeit leben. Kartoffeln sind ein exemplarisches Beispiel hierfür, das Essen eine unspektakuläre, private Situation. Wir sehen ihn nicht nur bei der Verfertigung von Bildern, sondern bei dem Lernen eines Ausdrucks, den die Bilder vermitteln sollen. Damit unterschied er sich zunächst von den Impressionisten.
Über mehrere Stationen gelangte Van Gogh dann nach Südfrankreich, wo das helle Licht des Südens in seine Bilder einzog. Innenräume sieht man selten bei ihm, sein Zimmer in Arles hat er jedoch dreimal gemalt.
Vincent Van Gogh, Das Schlafzimmer, Arles, October 1889, Credit Line: Helen Birch Bartlett Memorial Collection; Reference Number: 1926.417: CC0 Chicago Museum of Art; https://www.artic.edu/artworks/28560/the-bedroom
Technisch gibt es auch hier Abweichungen von einer exakten Darstellung. Die geschwungenen Querlinien des Parketts auf der rechten Seite, Fluchtlinien, die sich nicht alle in einem Punkt treffen, ein Bett, das in die Tür hineinragt, ein schiefer Tisch zeigen kein Unvermögen, sondern ein Spiel der Darstellung, bei der Exaktheit nicht unbekannt, aber nebensächlich ist. Dass er diese Gesetzmäßigkeiten sehr wohl beherrscht zeigt sich in seinen Zeichnungen. (s.u.) Weitere Elemente, die bei genauerem Hinsehen aber keiner Gesetzmäßigkeit widersprechen, wie die Bilder an der Wand, das leicht geöffnete Fenster, der Spiegel an der schrägen Wand und die Stühle, scheinen den Eindruck einer falschen Darstellung geradezu zu provozieren.
In einem Brief an seinen Bruder Theo schrieb er, dass er mittels der gedeckten Farbgebung Ruhe vermitteln wollte, was wohl auf japanische Vorbilder zurückgeht. Die gedeckten Komplementärfarben belegen die gelungene Umsetzung, wobei ergänzt werden muss, dass das jetzige Hellblau ein mittlerweile verblasstes Violett war, das mit den gelben Elementen kontrastiert. Sein Hauptziel war auch hier der Ausdruck, Ruhe, auch Bescheidenheit, gegenüber der Dominanz des Realen.
„Das Bild sollte einen Gegensatz zu Van Goghs „Das Nachtcafé“ darstellen, welches einen scharfen Kontrast zwischen Rot und Grün hat. Hier benutzte der Maler die Komplementärfarben ockergelb und violett, die beruhigender sind als die Signalfarben.“
Über besagtes Nachtcafé schrieb Van Goch an seinen Bruder; „Ich habe versucht, mit Rot und Grün die schrecklichen menschlichen Leidenschaften auszudrücken. Der Raum ist blutrot und mattgelb, ein grünes Billard in der Mitte, vier zitronengelbe Lampen mit orangefarbenen und grünen Strahlenkreisen. Überall ist Kampf und Antithese […]“
Auf dem Weg in den Süden lernte er in Paris den Pointillismus kennen, der in dem Sämann noch erkennbar ist. Gänzlich anders aber ist nun die sonnendurchstrahle Atmosphäre des Südens, die zahlreiche Bilder aufweisen, die dort gemalt wurden.
Vincent van Gogh, The sower, circa 17-28 juni 1888, exhibition 005129A, cat.nr. 214 (Van Gogh 1980), F 422; JH 1470, © stichting kröller-müller museum, indien van toepassing, kontakt opnemen met Pictoright, Amsterdam (www.pictoright.nl)
Wenn es einmal die Nacht war, die er malte, so strahlte auch diese, wie auf der Caféterrasse in Arles oder in seinern Sternennächten.
Mit dem Einzug des Lichts zeigt er seine Zugehörigkeit zum Impressionismus, geht aber trotzdem eigene Wege, indem er dem Spiel der Formen ein Eigenleben zugesteht und seine Farben mit Nachdruck pastos aufträgt. Diese Arbeitsweise zeigt eine große expressive Energie, die wohl den Eindruck des Wahnsinns, der ihm nachgesagt wurde, verstärkte.
Was ich nun sagen will, fußt auf einem kurzen Abstecher in die Sprachwissenschaft. Dort gab es zu einer Zeit einen methodisch strengen Ansatz, den Formalismus.
Er untersuchte Sprachen vornehmlich nach den formalen Kriterien und erarbeitete ein möglichst schlüssiges System von Regeln, das eine Sprache kennzeichnet. Den Gegensatz zu dieser Richtung stellt der Funktionalismus dar, der untersuchte, wie mit Hilfe der Sprache kommuniziert wird, wie sie funktioniert. Diese Dualität könnte man auch als Form und Inhalt zusammenfassen.
Dass die Bilder Van Goghs den heutigen Betrachter immer noch ansprechen ist wohl unbestritten, ihre Wirkung kommt an, worin ich einen gelungenen kommunikativen, inhaltsbezogenen Akt sehe. Van Gogh aber arbeitet ausgehend von seiner früheren Arbeitsweise, sei sie nun unbeholfen oder nicht, weiter. Jedes künstliche Abbild ist der Realität in ihrer Fülle unterlegen, da kommt es auf eine möglichst genaue Darstellung auch nicht mehr an. An diesem Punkt wird die Moderne in der Malerei geboren und sie entfernt sich von dem kommunikativ orientierten Wohlgefallen. Bei Van Gogh sieht man, nicht zuletzt auch durch die Beibehaltung von einfachen, bäuerlichen Sujets, die Weiterentwicklung seiner anfänglichen Suche zu einem immer schlüssiger werdenden System.
Systeme, denke ich, werden notwendig durch die Unzulänglichkeit des Gegebenen. Kein Abbild der Realität, auch nicht der impressionistische Eindruck, den sie hinterlässt, sondern der expressive Ausdruck dessen, was die Realität und ihr Eindruck bei Van Gogh bewirken, kennzeichnet diese Arbeitsweise. Dass er als wahnsinnig beschrieben wurde, ist fast schon konsequent, denn er schuf ein neues System, das er wie ein Puzzle aus den verbliebenen Möglichkeiten, die ihm und der Kunst blieben, zusammensetzt zu einem konsequenten Gesamten, das in dieser Form neu war.
Das war es, was ihn in meinen Augen zu einem großen Künstler macht. Eben weil er vielleicht zu Anfang noch nicht so gut malen konnte.
für Vincent

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Verwendete Literatur und Bildrechte
Auf Wunsch versenden wir den Gesamttext samt Fußnoten per Mail an interessierte LeserInnen.
- Brief 404 an seinen Bruder Theo vom 30.4.1885
- https://de.wikipedia.org/wiki/Vincents_Schlafzimmer_in_Arles
- https://m.musee-orsay.fr/de/werk/commentaire_id/das-zimmer-von-van-gogh-in-arles-16367.html
- -Brief 533 an seinen Bruder Theo vom 8. September 1888.
- -Zusammenfassung der sprachwissenschaftlichen Inhalte bei: bei: Gerhard Helbig Geschichte der neueren Sprachwissenschaft, S. 119ff, S. 162ff, Leipzig 1986.
Bildrecht Hintergrund Überschrift:
Vincent van Gogh, The Potato Peeler (reverse: Self-Portrait with a Straw Hat), Accession Number: 67.187.70b, © The Metropolitan Museum of Arts
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