Viktorianische Romane

von Christiane Wilms

Dies ist eine Art Vorwort, das keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern lediglich einen groben Abriss der Roman-Gattungen und SchriftstellerInnen geben und einen ersten Eindruck vermitteln soll.

Die viktorianische Literatur, die englische Literatur des 19. Jahrhunderts, ist bei uns fast in Vergessenheit geraten. Das gilt übrigens gleichermaßen für Prosa und für Lyrik. Sehr zu Unrecht, wie ich meine. Denn in dieser spannenden Epoche mit ihren bahnbrechenden technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften – die in ihrem Gefolge gravierende soziale Umwälzungen mit sich führten – entstanden völlig neue literarische Genres oder die althergebrachten entwickelten sich weiter. Manche AutorInnen „bespielten“ gleich mehrere Literaturgattungen und das auf meisterhafte Weise.

Und so zeichnet sich die Unterhaltungsliteratur der viktorianischen Ära durch eine große und spannende Themen-Bandbreite aus und spiegelt den Geist jener Zeit wider. Werfen wir doch einen Blick in die Bücherregale von einst…

 

 

Die romantischen Grusel- und Schauerromane einer Ann Radcliffe, die »Gothic Novels«, inspirierten zahlreiche Autoren des 19. Jahrhunderts und wurden unter anderem von Joseph Sheridan Le Fanu, Wilkie Collins, Edgar Allan Poe oder Robert Louis Stevenson zunächst weitergeführt, allmählich mit weltlichen Verbrechern, Ermittlern und Tatmotiven „angereichert“, und zum Detektivroman als dem Vorläufer des modernen Krimis entwickelt.

Historische Romane standen bei den ViktorianerInnen hoch im Kurs – hier diente Sir Walter Scott als Vorbild – ebenso wie Reiseberichte. Meine persönlichen Favoriten sind die Gesellschafts- und Bildungsromane, die sich mit den sozialen Missständen, dem gesellschaftlichen Umbruch durch die Industrialisierung oder den Marotten der englischen Gesellschaft befassten. Der große Charles Dickens beklagte immer wieder die Armut und das Elend in den großen Industriezentren und in London; William Makepeace Thackeray spöttelte über die Doppelmoral seiner Zeitgenossen; Emily Brontë schockierte mit der Beschreibung ungezügelter Leidenschaften und Thomas Hardy beschrieb seine Ära realistisch-naturalistisch.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert interessierten sich die Leser angesichts des naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritts für utopische Romane; dieses Bedürfnis stillten unter anderem Edward Bulwer-Lytton und H.G. Wells. Diese fantastisch-futuristischen Romane waren für die Schriftsteller zudem ein willkommenes Medium, um ihre Kritik an aktuellen sozialen, wissenschaftlichen und politischen Entwicklungen in eine weit entfernte Zukunft zu verlegen.

England wurde in der viktorianischen Ära zur Weltmacht – daher wundert es nicht, dass Abenteuergeschichten, die in fernen Kontinenten spielten, sich großer Beliebtheit erfreuten (Henry Rider Haggard, Rudyard Kipling). Heutzutage stoßen die Erzählungen auf Kritik, da sie politisch alles andere als korrekt sind – Fremdenfeindlichkeit war damals leider gang und gäbe. Bei den Engländern galt sowieso der Grundsatz: Nichtbriten sind »bloody foreigner«!

Mich hat sehr erstaunt, dass in Zeiten der Kinderarbeit und der Kinderarmut sowie des unzureichenden Schulbildungsangebotes und drakonischer Erziehungsmaßnahmen ausgerechnet die jüngsten BürgerInnen des Empire als literarische Zielgruppe entdeckt wurden (Lewis Carroll) – die Kinderliteratur eroberte sich im 19. Jahrhundert und darüber hinaus ihren Markt.

Tja, und dann gab es da noch die damals als peinlich empfundene Literatur. Wie empört reagierten die sittenstrengen ViktorianerInnen auf die Skandalromane um “gefallene” Mädchen oder emanzipierte Frauen (Mary Elizabeth Braddon, Elizabeth Gaskell) – nichts desto trotz wurden diese Bücher verschlungen.

Religiöse Schriften und Traktätchen standen im 19. Jahrhundert ebenfalls hoch im Kurs – dieser Kontrast verdeutlicht die Doppelmoral der viktorianischen Epoche. An Frauen wurden hohe sittliche Ansprüche gestellt, sie hatten »die reinen Engel des Hauses« zu sein. Bei Männern drückte die Gesellschaft stets ein Auge zu.

A propos Frauen: bemerkenswert ist, dass Frauen mit all den ihnen auferlegten gesellschaftlichen Beschränkungen einen großen Anteil an der Ausprägung der viktorianischen Literatur hatten. Die Werke Jane Austens – zwar vor-viktorianisch, aber mit Einfluss auf die Epoche –, die Romane der Brontë-Schwestern, George Elliots, Elizabeth Gaskells und vieler weiterer Schriftstellerinnen, drückten der Epoche ihre Stempel auf. Sie mussten ihre Werke zwar meist unter männlichen Pseudonymen veröffentlichen, weil – wie so vieles – auch die Schriftstellerei für Frauen als unschicklich galt und ihnen nicht erlaubt war, eigenständig Geschäfte zu tätigen. Allerdings soll es da einen männlichen Schriftsteller gegeben haben, der einen Frauennamen benutzte, um mehr Leserinnen für sich zu gewinnen…

Der Leiermann auch als Podcast oder Video!

Jetzt neu – der Leiermann Buchclub!

Was für mich fast alle viktorianischen Romane auszeichne, ist, dass ihre SchöpferInnen überaus phantasievoll und zugleich realitätsbewusst sind. Sie zaubern dreidimensionale Bilder und belebte Szenen. Ob es ihre fiktiven Heldinnen und Helden sind, Regionen und Landschaften oder die einfachsten Gegenstände – alles wird in feinen Schattierungen beschrieben. Und daher hören wir beim Lesen den Wind heulen, Balken knarren, riechen den Unrat der Straßen oder das frische Heu auf den Feldern, spüren die Wärme der Sonnenstrahlen oder die Kälte der Schneeflocken auf unserer Haut. Für mich ist jeder viktorianische Roman ein Film.

 

Dies sind nur einige der Gesichtspunkte, die mich an viktorianischer Literatur so faszinieren, dass ich sie Ihnen und vielen Menschen vorstellen und das Interesse daran neu beleben möchte. Und das werde ich auf dieser Seite und auf meinem Blog https://www.meineleselampe.de/ versuchen, vielleicht sind Sie ja mit von der Partie.

 

Kulturgeschichten, Rezepte und Anekdoten zum Kaffee

ein Buch von Thomas Stiegler

Frauengeschichten – Kulturgeschichten aus Kunst und Musik

Ein Buch von Anja Weinberger mit Geschichten aus dem Leben unterschiedlichster Frauen in Kunst, Musik, Ballett, Fotografie und Keramik.

Wollen Sie immer über das Neuste beim Leiermann informiert werden?

Unterstützen Sie uns!

Dieses Kulturprojekt wird vollständig privat getragen. Daher sind wir auf Ihre Unterstützung angewiesen, um noch mehr Beiträge zur Kunst und Kultur Europas teilen zu können.

Zum Weiter-Stöbern …

Klassische Musik beim Leiermann

Frauen in Kunst und Geschichte
Die Leiermann Buchreihe

Toni und die Wunderbibliothek

»Toni und die Wunderbibliothek« ist eine Hommage an die Welt der Bücher und eine liebevolle Verneigung vor unserer Geschichte und Kultur.
Bitte unterstützen Sie uns, damit Toni das Licht der Welt erblicken kann!
Zur Kampagne
close-link

Pin It on Pinterest

Share This