Wie kamen die Seerosen nach Giverny
von Anja Weinberger
Wie kamen die Seerosen nach Giverny – oder: Monet und sein Markenzeichen
Eine interessante Geschichte ist das. Denn denkt man kurz nach, so fällt auf: Vor Monet hat niemand Seerosen gemalt. Wieso eigentlich nicht?
Wir machen uns auf die Suche nach Erkenntnissen.
Im Südwesten Frankreichs liegt das Département Lot-et-Garonne. Schön ist es hier. Der Fluss Lot schlängelt sich durch zahlreiche mittelalterliche und sehr malerische Dörfer. Genau hier, in dem kleinen Örtchen Le Temple-sur-Lot, befindet sich eine der ältesten Pflanzenschulen für Wassergärten – der Seerosengarten Latour-Marliac, heute im Besitz von Robert Sheldon.
Dieser zauberhafte Ort wurde 1875 vom leidenschaftlichen Hobbybotaniker Joseph Marliac gegründet.
Zu jener Zeit war in Europa nur die Kultivierung einer weißen, recht unspektakulären Seerosenart möglich. Diese wuchs hauptsächlich unter Wasser und man konnte sie dementsprechend weder sehen noch riechen oder berühren. Diese europäische weiße Form hatte Marliac mit tropischen Sorten gekreuzt, die er bei einer seiner Reisen kennengelernt hatte und die ihn mit ihrer Größe, Blühfreude und Farbigkeit begeisterten. In der Folgezeit gelang es dem geduldigen Beobachter Marliac, eine ganze Sammlung neuer, aufsehenerregender Hybride zu züchten, die auch in nicht-tropischen Temperaturen überleben können.
1889, nach gut 20-jähriger Forschung, stellte er seine Novitäten bei der Weltausstellung in Paris der Öffentlichkeit vor. Spektakulär muss das gewesen sein. Die Wasserbecken vor dem Palais du Trocadéro leuchteten und florierten mit den üppigen Kleidern der Besucherinnen um die Wette. Auch der neue Eiffelturm, von überall aus zu sehen, konnte nicht davon ablenken, dass hier in den Becken Außerordentliches wuchs und blühte. Marliac erhielt prompt einen ersten Preis.
Nicht weit entfernt stand der Pavillon, in dem die obligatorische Kunstausstellung stattfand. Hauptsächlich die gerade angesagten Impressionisten zeigten hier während der Weltausstellung ihre Bilder. Natürlich war unter ihnen auch Claude Monet, dessen Bekanntheitsgrad gerade steil anstieg. Bei einem Bummel über das Ausstellungsgelände faszinierten ihn die bunt schillernden und zart wogenden Seerosen, die in der französischen Sprache auf den schönen Namen »Nymphéa« hören.
Schon einige Jahre zuvor hatte Monet ein Haus in Giverny gemietet, verdiente in der Folgezeit sehr gut mit Verkäufen bis in die Neue Welt und konnte sich sein Haus kaufen. Er beginnt den Garten anzulegen, erinnert sich an die Seerosen in den Becken unter dem Eiffelturm und kontaktiert Joseph Marliac.
Anfangs erstand er nur sechs Pflanzen, die sehr schnell sehr gut anwuchsen. Und das so neu entstandene, außergewöhnliche Motiv gehörte ihm ab diesem Zeitpunkt im Grunde ganz allein. Denn man darf nicht vergessen, dass die Seerose immer noch selten war. Lediglich die Besucher der Pariser Weltausstellung hatten sie bis jetzt in Europa zu Gesicht bekommen. Monets Seerosenteich gehörte zu den ersten europaweit und nur Familie und Freunde besuchten den Garten. So wurden die Seerosen zu Monets Markenzeichen. Im Laufe der nächsten 30 Jahre wird er sie immer wieder malen.
Das Spiel des Lichtes, die wechselnden Farben auf der Wasseroberfläche, die Bewegung durch Wind und Regen – zu über 250 Bildern wird der Maler durch diese anscheinend sehr eindrucksvollen Beobachtungen des Teiches in seinem Garten inspiriert.
Anfangs sind die Bildformate eher klein und häufig ist die Horizontlinie zu sehen. Außerdem ist Monet fasziniert vom Bogenschlag seiner japanischen Brücke, die über den Teich führt. Er malt auch diese im Laufe der nächsten Jahre zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten.
In den frühen Gemälden sind neben den Seerosen auch andere Pflanzen am Rande des Bassins abgebildet: Wir finden Irisbüschel, Schilf, auch viele Algen, manch lila Kugel des Agapanthus und die hängenden Blätterwasserfälle der Trauerweide.
Monet probiert unterschiedliche Techniken aus, malt mal flüchtiger, mal genauer, mal realistischer, mal farblich verzerrt.
Doch Eines ist klar: Bald wird er sich ausschließlich auf die Wasserfläche mit all ihren Spiegelungen und Kräuselungen fokussieren. Den Himmel finden wir nun nur mehr als Reflex auf der Oberfläche des Teiches.
30 Jahre hat sich Monet letztendlich mit der Anlage und Gestaltung seines Gartens in Giverny beschäftigt, und vor allem der Wassergarten diente ihm in dieser Zeit als Motiv. Seine Gemälde wurden immer größer, bis schließlich – in des Künstlers letzten Jahren – Werke von bis zu 2 x 6 Metern entstanden.
1914 schlug Georges Clemenceau, ein enger Freund Monets, vor, die größten Formate der Nymphéas-Serie dem französischen Staat zu schenken.
Aber erst nach langem Hin und Her gingen acht der großen Dekorationen tatsächlich in das Eigentum Frankreichs über.
Heute befinden sich diese Bilder in Paris im Musée de l’Orangerie.
»Mein« erstes Seerosenbild habe ich – wie könnte es anders sein – in der Neuen Pinakothek in München gesehen. Es ist 150 cm x 200 cm groß, in ruhigem Grün-Blau-Rosa gehalten und stammt aus dem Jahre 1915.
Diese Münchener Sammlung hat vermutlich meine Liebe zu Museen im Allgemeinen geschürt. Mein Vater liebte sowohl Impressionisten als auch Expressionisten und deshalb war die Neue Pinakothek häufig das Museum unserer Wahl. Mir gefiel nicht nur die ausgestellte Kunst, sondern auch das damals recht neue, großzügige Bauwerk.
Das erste Neue-Pinakothek-Gebäude nach Entwürfen Friedrich von Gärtners aus dem Jahre 1853 wurde im 2. Weltkrieg mehrmals getroffen; und nach einigen Jahren hat man die Ruine, anders als die der Alten Pinakothek gegenüber, schweren Herzens abgerissen. Ab 1975 baute Alexander Freiherr von Branca dann das neue Sammlungsgebäude, so wie wir es heute besuchen können.
Doch halt, nein! Im Augenblick ist das nicht möglich. Die Neue Pinakothek ist für Jahre geschlossen, sie wird saniert und der modernen Medienlandschaft angepasst. Schrecklich ist das – in München zu sein und diese Parallelwelt nicht betreten zu können. Zum Glück sind einige Gemälde in der Alten Pinakothek zu Besuch, manche im Museum Schack und in vielen anderen Museen Deutschlands und Europas. Ich finde es allerdings sehr eigenartig, z. B. Édouard Manets Frühstück im Atelier plötzlich in einem anderen Umfeld hängen zu sehen. Kunstwerke auf Reisen, auch darüber könnte man lange nachdenken.
Dann waren mein (damals noch zukünftiger) Ehemann und ich auf unserer ersten großen Reise in New York. Ein sehr netter Kollege und guter Freund meines Mannes hatte uns eingeladen, vier Wochen bei seiner Familie zu wohnen. So konnten wir uns diese aufregende Unternehmung überhaupt leisten. Ich verbrachte viel Zeit an der Juilliard School of Music, wo meine damalige Duopartnerin gerade studierte, aber auch Museen und Kirchen wollten wir uns ansehen. Und da gab es eine Menge zu bestaunen.
Selbstverständlich besuchten wir das Guggenheim, das Metropolitan Museum und das Museum of Modern Art. Überall Monets und nicht nur ein Bild – nein mehr, als ich mit zwei Händen zählen könnte. Im MoMa standen wir sehr, sehr lange vor Reflection of Clouds on the Water-Lily Pond, ein Gemälde, das aus drei Teilen besteht und im Ganzen 200 cm x 1276 cm groß ist. Ein dunkleres Blau beherrscht den ganzen Raum und die Seerosen sind flüchtig gemalt – weiß-rosa Wolken, verteilt auf dem Blau des Teiches. Das dreiteilige Kunstwerk stammt aus dem Jahre 1920 und ist wesentlich weniger realistisch als sein Münchener Geschwisterbild. Wir waren bezaubert.
Dann verlor ich Monet erst einmal mehr oder weniger aus den Augen. Natürlich stimmt das nicht wirklich, aber andere Künstler, Maler, Musiker drängten sich in meinen Vordergrund. Und unsere Familie wuchs.
Schließlich, nach gar nicht so wenigen Jahren, besuchte ich für eine knappe Woche einen Freund in Paris. Das waren tolle Tage! Ich fühlte mich zurückversetzt in Studentenzeiten: ein Bett mitten in der Stadt, wenig Gepäck, so viel Wege wie möglich zu Fuß.
Und natürlich stand Monet mit seinen Grandes Décorations auf meiner Liste.
Die ganz oben erwähnten acht Gemälde sind im Musée de l’Orangerie untergebracht. Das ist in der Nähe des Louvre, und schon der Name verrät die »Schlossnähe«. Das Ticket dafür hatte ich mir bereits im Vorfeld über das Internet bestellt und am Tag zuvor im Musée d’Orsay ebenfalls einige Gemälde von Monet gesehen.
Das Musée d’Orsay: einfach unglaublich, was da alles zu sehen ist!
Interessiert man sich für Im- und Expressionisten, so ist man hier richtig.
Eigentlich beinahe alles, was ich zuvor in Lehrbüchern, Lexika oder Kunstbüchern bewundert habe – hier hängt es. Van Goghs Sternennacht, sein Zimmer in Arles, ein Selbstportrait, die Kirche in Auvers, mehrere Stillleben von Cézanne, Manets Portrait von Berthe Morisot, seine Olympia … und so weiter und so fort. Nicht zu vergessen natürlich auch über ein Dutzend Gemälde von Claude Monet, darunter der berühmte Bahnhof von Saint-Lazare und einige Bilder der Kathedrale von Rouen.
Anstrengend war der Besuch in diesem großen und viel besuchten Museum – anstrengend, aber sehr spannend. Den späten Nachmittag hatte ich mir für das Musée de l’Orangerie reserviert und das war ein echtes Gegenprogramm. Wenig Menschen, wenig Kunstwerke. Herrlich! In einigen Räumen, quasi in Séparées, hängen die großen Nymphéas. Das Licht ist angepasst, der Abstand zu den Bildern perfekt, nichts spiegelt, nirgends wird man geblendet. Die Sitzmöglichkeiten sind bequem und der Andrang hält sich in Grenzen. Man kann sich in aller Ruhe niederlassen und schauen. Sekundenbruchteile lang ahnt man, wie das gewesen sein muss, als er, Monet, dastand und sich das zu entstehende Bild schon hinter seinen geschlossenen Lidern formte.
Nun schloss ich meine Augen und sah mit Monets Augen, wie er nach unten blickte; da waren seine alten ausgetretenen Gartenschuhe und nicht weit entfernt beginnt die Wasserfläche. Darauf bilden hellgrüne Blätter ein unregelmäßiges Rund, auf dem wiederum ein paar Wassertropfen schillern und in dessen Mitte sich gerade dunkelrosafarbene, tiefliegende Blütenköpfe öffnen. Ein Frosch quakt, Libellen schwirren umher. Es riecht nach Sommer, nach dem vor kurzem durchgezogenen Gewitter und dem leicht modrigen Teichrand. Die ideale Umgebung für einen Maler, so viele Eindrücke! Der Impressionismus [1] hat seinen Namen gefunden.
Mein Leben lang wird das so weiter gehen: Wo auch immer ich ein Museum betrete, früher oder später suche ich nach Seerosen von Claude Monet, und die Wahrscheinlichkeit, fündig zu werden, ist gar nicht so gering.

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Fußnote
1 … Der Name Impressionismus leitet sich ab von lat. impresio, dt. Eindruck. Monet hatte 1872 ein Bild gemalt, das er nicht Der Hafen von Le Havre nannte, wie das bis dahin üblich gewesen wäre, sondern Impression, Soleil levant, also Ein Eindruck, aufgehende Sonne. Dieses und viele andere Bilder des Künstlers hängen im Musée Marmottan Monet in Paris.